Eine Sinfonie – klanggewordene Bilder, mehrere Sätze, berührende Szenen, ein Auf und Ab der Gefühle. So wie dieses lange Tourenwochenende in Graubünden. Eine Sinfonie in Weiss. Die Anreise führt durch Davos, die höchstgelegene Stadt Europas – ein quirliger Skiort, umgeben von Bergen, Seilbahnen und fetten Freeride-Spots.
Nur einen Katzensprung weiter liegt Monstein. Kurz hinter der Davoser Fraktion Glaris und dem Skigebiet Rinerhorn mäandert ein schmales Bergsträsschen durch den Bergwald hinauf in das historische Walserdorf. Rustikale, sonnengegerbte Holzhäuser, ein gedrungenes Kirchlein am Waldrand. Die Zeit scheint stillzustehen. Am Ende der Dorfstrasse ziehen Anna und Jürg die Felle auf, klicken ihre Tourenschuhe in die Bindungen.
Der erste Aufstieg dieses Trips beginnt mit einem moderaten Andante, unterlegt von einem kratzigen «ccchhhrr ccchhhhrr». Das Schleifen der Aufstiegsfelle auf dem hartgefrorenen, harschigen Untergrund gibt den Takt vor. Es ist noch kalt und schattig an diesem Morgen. Kleine Dampfwölkchen entweichen den Lungen.
Nach knapp dreihundert Höhenmetern ist die Oberalp erreicht – eine Ansammlung urchiger Alphütten. Jetzt im Winter sind sie verwaist. Die Schneehauben auf ihren Dächern wirken wie Decken, unter denen sie es sich kuschelig gemacht haben. Weiter! Jenseits der 2000-Meter-Marke lassen Jürg und Anna die letzten Lärchen hinter sich. Das weite Hochtal öffnet sich wie ein alpiner Festsaal.
Traumtag und böse Überraschung
Gipfel, wohin man blickt. Rechts, links, geradeaus. Die Sonne strahlt. «Wow», schwärmt Anna, «wem da nicht das Herz aufgeht …!» Längst hat sie ihren Rhythmus gefunden, geniesst den Anstieg. «In deinem eigenen Tempo zu gehen, ist das A und O der Strategie für genussvolle Skitouren», weiss sie als erfahrene Tourengeherin. «Lass dich nicht hetzen, dann hast du mehr von der Tour.» Auch Jürg lässt es entspannt angehen. Um Kraft zu sparen, hat er sich für Leichtbau-Tourenski entschieden.
Nahe der Alp Fanezmeder schwingen sich sanfte Buckel wie Wellen unterhalb der felsigen Klippen des Chrachenhorns (2891 m) auf. «Feinster Pulverschnee …», grinst Jürg, und eine Fahne glitzernder Kristalle durch die Luft wirbelt. «… zu gut, um die Gelegenheit ungenutzt zu lassen.» Spontan ziehen Jürg und Anna eine Schleife hinauf auf den Buckel neben der Aufstiegsroute. Felle runter, und los! Der Schnee stiebt und staubt. Feiner kann ein Genusshang nicht sein.
Jürg setzt zum letzten Schwung an, ehe er die reguläre Aufstiegsroute wieder erreicht. Bahmm! Mit einem Schlag verschwindet er in einer Staubwolke. «Was war das denn?», wundert er sich, als er sich aus dem Schnee gräbt. Urplötzlich hat sich einer seiner Ski in ein Loch hinter einem nur leicht mit Schnee zugewehten Fels gebohrt. Erst jetzt registriert Jürg die böse Überraschung. Als er den Ski aus dem zerwühlten Schnee zieht, hängt der ab der Bindung wie eine Fahne auf Halbmast. Skibruch!
Während Jürg auf einem Ski ins Tal schwingt, um ein Paar Ersatzski aus dem Auto zu holen, setzen Anna und ich den Aufstieg durch das südseitige Bärentälli fort. Hier hat sich der Schnee gut gesetzt, die Lawinengefahr ist gering. Wir wollen Jürg später unterhalb des Älplihorn-Gipfels wieder treffen.
Gipfelmeer und Pulverrausch
Kaum ein Lufthauch regt sich an diesem Tag. Ideal, um zwei Stunden später den Zmittag mit Blick auf das unendliche Gipfelmeer der Albula Alpen und der Silvretta in vollen Zügen zu geniessen. «Die steilere Westflanke hat guten Pulver», funkt Jürg wenig später. Im Aufstieg hat er die Abfahrtsroute mit dem Fernglas inspiziert.
Etwas unterhalb des Gipfels treffen wir Jürg wieder. Er muss Anna von seinem Plan nicht lange überzeugen. Auch der Lawinenlagebericht signalisiert grünes Licht: Stufe zwei. Dennoch checken Jürg und Anna das Gelände bei der Einfahrt in den ersten Hang nochmals genau auf die Schneequalität. Passt! Beim letzten Schneefall war kaum Wind im Spiel. Die Schneebrettgefahr ist gering.
Und so werden mit überlegter Linienwahl die Turns ins Tal zu einem berauschenden Allegro im wirbelnden Pulver. Ein paar Firnschwünge in Talnähe beenden das Abfahrtsfest. Traditionelle Holzhütten säumen den Ortsrand von Monstein. Wie in den Tälern von Saas Fee oder Zermatt fussen sie auf Steinsäulen mit mächtigen Granitplatten.
Tatsächlich waren die ersten Siedler von Monstein Walliser und brachten auch ihre Tricks der alpinen Baukunst mit. Die «Müüsplatta» halten bis heute Ungeziefer und Mäuse von den Hütten fern. Doch die Zeiten, in denen Alpwirtschaft und das Bergwerk am Silberberg für das Auskommen der Monsteiner sorgten, sind längst vorbei. Heute ist Monstein ein idyllisches Basislager für Winterwanderer und Skitourengeher – ganz ohne Skilifte. Und mit einer ganz speziellen Art Après-Ski.
In der ehemaligen Sennerei sitzt die Brauerei Biervision Monstein AG, die verschiedene Sorten «Monsteiner» Bier anbietet. Bei ihrem Betriebsstart 2001 galt sie als höchstgelegene Brauerei der Schweiz – 1620 Meter über dem Meeresspiegel. Dieser Superlativ wackelt im Zeitalter der Micro-Breweries zwar, doch einen Besuch ist die Dorfbrauerei allemal wert.
Mit hellem Huusbier, leichtem Mungga, dunklem Gemsli oder Schneehas Weizenbock stemmen sich Braumeister Sebastian Degen und Brauer Marcel Schneider wie zwei unbeugsame Gallier gegen die übermächtigen globalen Bierkonzerne. Dass der Laden läuft, dafür sorgen nicht zuletzt 1350 lokale und internationale Privataktionäre. Als Dividende winken jedes Jahr zwei Liter Fassbier – und uns ein krönender Abschluss des ersten Satzes unserer Sinfonie.
Fideriser Heuberge – klein, aber fein
Zweiter Tag, zweiter Satz. Die Tourensinfonie erklingt heute in sanften Tönen. Die Berge sind etwas weniger hoch, die Gipfel weniger schroff. Ein Shuttle-Bus brummt von Fideris im Prättigau in die Fideriser Heuberge. Immer wieder stoppt der Busfahrer auf dem Weg nach oben. Denn die Zufahrtsroute ist gleichzeitig die längste Schlittelpiste der Schweiz – zwölf Kilometer auf 1100 Höhenmeter.
In einem schneesicheren Hochtal auf 2000 Metern Höhe liegt das kleine Familienskigebiet Fideriser Heuberge. Ein idealer Startpunkt für Genuss-Skitouren rundherum. Im Konzert mit unzähligen Heugaden stehen hier drei Berghäuser. Schneesportler haben die Auswahl zwischen Chalets und gemütlichen Zwei- oder Vierbett-Zimmern. Eine feine Sache, wenn man nicht darauf aus ist, die Nächte im Massenlager einer Hütte mit notorischen Schnarchern zu teilen.
Doch noch steht die Sonne hoch am Himmel. Ein Schlepplift verkürzt die Aufstiegszeit zum Chistenstein (2474 m) auf rund eine Stunde. Vor dem Gipfel bietet die liebliche Wintersinfonie ein kurzes, dramatischeres Intermezzo.
Anna und Jürg befestigen die Ski an ihren Rucksäcken. «So geht’s leichter», meint Jürg. Die letzten Meter des steilen Gipfelgrates stapfen beide mit Ski am Buckel gen Ziel. Zeit für einen Allegro-Part: Weite Pulverhänge, rassige Rinnen – die Abfahrt wird zu einem leidenschaftlichen Appassionato. Bei einem Glas Merlot schwärmen Anna und Jürg noch abends davon, genauso wie von der pulvrigen nordseitigen Genussabfahrt an der Arflinafurgga.
Kleiner Aufstieg, grosses Abfahrtskino
Dritter Satz – aller guten Dinge sind drei! Zum genüsslichen Ausklang hat Jürg für den letzten Tag was ganz Besonderes ausgetüftelt. Eine Abfahrt mit minimalem Aufstieg und maximalem Abfahrtsspass. Nur rund 400 Höhenmeter sind es vom Berghaus Arflina bis auf den Glattwang-Gipfel. Bald gleicht der Blick auf die Gebäude im Skigebiet der Aussicht auf eine Spielzeugeisenbahnlandschaft.
Irgendwie passend zu dem Mini-Skigebiet mit langer Tradition. Schon Anfang der 1930er-Jahre entstanden das Berghaus Heuberge und das Skihaus Arflina. Bald kamen die ersten Lifte. Dennoch ist der Takt der Zeit bis heute gemächlich. Die Heuberge zählen zu den letzten Refugien der vom Aussterben bedrohten Bügellifte.
Gleichzeitig aber fehlt es den Verantwortlichen nicht an visionären Ideen. Bis 2030 wollen sie das Gebiet zum Eco-(Ski-) Resort transformieren. Ein erster Schritt: Die 2020 in Betrieb genommene Sauna mit Solarenergie.
Vom Glattwang-Gipfel (2376 m) schweift der Blick hinüber auf die nördliche Talseite des Prättigaus. Zu Füssen der Sulzfluh liegt das Skitouren-Eldorado St. Antönien. Etwas weiter westlich bei Fanas verkürzt die Bergbahn den Anstieg zu den baumfreien Südhängen des Sassauna-Gipfels (2307 m). Ein Traum bei Firn. Doch auf Jürg und Anna wartet nochmals Pulver.
Ein grandioses Finale: 1600 Höhenmeter am Stück. Ganz allein. Kein Mensch weit und breit. Eine Ode an die Freude. «Zeit für ein Panaché!», ruft Anna, als sie unten in Fideris ihre Ski schultert. Auf der Sonnenterrasse des Talgasthofes setzen Anna und Jürg ihre Rucksäcke ab. «Viva, auf drei Tage Genuss!», lacht Jürg. Noch einmal blicken die beiden hinauf zu den Gipfeln. Welch ein Schlussakkord dieser Tourensinfonie!
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