Am schwarzblauen Nachthimmel funkeln die Sterne und es leuchtet
der Mond. Im Schein der Stirnlampen laufen wir schweigend
hintereinander her. Unser regelmässiger Atem und das Knirschen
der Bergschuhe im feinen Kies vereinen sich mit dem Rauschen des
Bächlibaches. Irgendwo löst sich ein Stein aus einer Bergflanke und
kollert in die Tiefe. Sonst herrscht absolute Stille. Wenn man das
frühe Aufstehen überwunden hat, ist das Laufen im noch dunklen
Hochgebirge eine fast schon meditative Erfahrung.
Die Bächlitalhütte ist
Ausgangspunkt für
wunderschöne alpine
Kletterrouten und
Hochtouren.
Tags zuvor auf
dem Zustieg zur Bächlitalhütte schien der Start in so einen makellosen
Bergtag undenkbar. Beim Loslaufen auf der Staumauer des
Räterichsbodensees rüttelte ein eiskalter Wind an den Kapuzen unserer
Regenjacken. Weiter oben, auf der grossen Schwemmebene
Bächlisboden, ergoss sich ein kräftiger Regenschauer nach dem anderen
über uns. Zu guter Letzt, als wir gerade beim Hüttensee einen
Platz fürs Picknick ausgesucht hatten, scheuchte uns der nächste
Intensivregen unter das trockene Hüttendach.
Wer darf mit zur Bächli-Feier auf dem Bächlistock? Es sind
Tanja Schödler, Abteilungsleiterin Hartwaren aus Thun, Tamara
Giovanoli, stellvertretende Filialleiterin aus Bern, und Filialleiter
Patrick Goeringer aus Conthey (VS). Geleitet werden sie von den
beiden Bergpunkt-Bergführern Michael Wicky und Bruno Hasler.
Zweifel am Planziel
Wie wir schon bei der Planung der ersten Jubiläumstour gelernt
hatten, stimmen die freien Termine des Bächlikaders und
das gute Bergwetter selten überein. Damit wir von einem kurzen
Schönwetterfenster Anfang Juli profitieren können, wurden
diesmal die Dienstpläne und Sitzungen nochmals kurzfristig verschoben.
Denn die Besteigung des Bächlistocks ist ein Termin von
grosser Priorität für Bächlis Geburtstagsjahr. Wenn das Bergsportgeschäft
schon als Namensvetter einen Hochgebirgsgipfel
hat, so gilt es das zu feiern.
Aber als wir die Führerliteratur studierten, begannen wir
an der Grossartigkeit des Plans zu zweifeln. Denn die Routen auf
diesen hintersten und höchsten Gipfel im Bächlital sind alles andere
als Modetouren. Nur über den Ostgrat verliert der SAC-Führer
einige positive Worte. Es handelt sich dabei um eine Tour,
die eine schnelle Seilschaft in fünf Stunden schaffen kann. Dies
ist für unsere siebenköpfige Gruppe vielleicht eine Nummer zu
gross. Wir wollen sicher auf den Gipfel und entscheiden uns darum
für den kürzeren Nordgrat. Dieser wird im Führer mit der
Schwierigkeit ZS- bewertet und etwas abschreckend als «wenig
lohnend, eher für den Abstieg geeignet. Etwas mühsam, lose Felsen.» beschrieben.
Oben links: Recherche und Vorbereitung der Tour. Unten links: Wegweiser. Rechts: Die Metallleitern führen zur
Obri Bächlilicken und damit
zum Anfang des Bächlistock
Nordgrates.
Beim Aufstieg in der frühmorgendlichen Stille in Richtung
Obri Bächlilicken sehen wir weit vor uns Lichtkegel über Geröll,
Felsplatten und Moränen huschen. Diese schnellen Seilschaften
werden wohl kaum auf dasselbe Ziel wie wir zusteuern. Denn gemäss
Hüttenwart erklimmt höchstens eine Seilschaft pro Saison
den Bächlistock. Tatsächlich beobachten wir bei Tagesanbruch
die Seilschaften am Einstieg zum Ostgrat des 3161 Meter hohen
Gross Diamantstocks. Dessen ausgesetzte Gratkletterei, mit Kletterstellen
im oberen vierten Grad in meist schönem, festem Fels,
ist die Modetour der Region.
Wir schnallen dagegen die Steigeisen unter die Bergschuhe
und seilen uns an. Weiter geht’s über den Bächligletscher.
Dank der klaren Nacht ist der Firn noch pickelhart und ermöglicht
ein regelmässiges, zügiges Steigen. Knapp zwei Stunden
nach dem Aufbruch gelangen wir unter eine rund fünfzig Meter
hohe Felsstufe. Ausgesetzt führt eine Serie Metallleitern über
diese Stufe auf die Obri Bächlilicken. Dieser Übergang zwischen
dem Bächlital und dem einsamen Gauligebiet ist auch der Ort,
an dem der Nordgrat des Bächlistocks beginnt.
Tags zuvor regnete
es Bindfäden, aber beim
Aufstieg über den Bächligletscher
empfängt uns ein
traumhafter Bergtag.
Auf den ersten Blick bestätigt sich das Urteil des SAC-Führers:
Der Grat besteht aus lauter lose geschichteten Felsbrocken
und Platten in allen Grössen – Geschirrladen nennt man
das in der Szenesprache. Doch wir lassen uns davon nicht abschrecken
und steigen behutsam am kurzen Seil den beiden
Bergführern hinterher. Das Bewegen im brüchigen Gelände hat,
so befremdend es klingen mag, auch etwas Reizvolles. Statt
dass man Griffe unbesehen auf Zug belastet, stemmt und drückt
man sich behutsam hoch, setzt leichtfüssig wie eine Katze die Bergschuhe auf die Tritte und bewegt sich trotzdem in einem
konstanten Rhythmus bergauf.
Schnell wird klar, dass unsere
beiden Seilschaften mit diesem Gelände überhaupt keine Mühe
haben. Alle sind routiniert unterwegs. So klettert Tanja sehr
gerne Mehrseillängenrouten und hält sich mit Joggen und Velofahren
fit. Bei Tamara ist die Bergsteigerei fester Bestandteil
der Familien-DNA. Sie trifft man immer wieder in Seilschaft mit
ihrem Vater und ihrer Schwester auf Hochtouren im Oberengadin,
und Patrick ist seit jeher so viel wie möglich in den Bergen
unterwegs. Früher auf Hochtouren im In- und Ausland, sogar an
zwei Achttausendern hat er sich schon versucht. Heute ist er
begeisterter Trailrunner.
Diese Querung im festen
Fels bleibt besonders in
Erinnerung.
Was wir im Hochgebirge suchen
So kommen wir speditiv voran, legen das Seil, welches der Bergführer
zur Sicherung um einen Zacken führt, schnell für den Nachfolger
um den nächsten Vorsprung und bleiben dabei im Flow. Der
Grat verwöhnt uns ab und an mit einigen überraschend festen Kletterstellen
im zweiten bis dritten Schwierigkeitsgrad. Besonders in
Erinnerung bleiben eine Querung, bei der wir uns an der spitzen
Gratkante halten und mit den Füssen auf Reibung hinüberhangeln,
und eine ausgesetzte Abseilstelle auf einem grossen Felsturm.
Während einer kurzen Trinkpause wird uns die eindrücklich
wilde Szenerie bewusst, in der wir uns bewegen. Der Blick zurück
über den Zackengrat und weiter bis zum Gipfel des Gross Diamantstocks
ist von rauer Schönheit. Der Tiefblick zwischen den Felstürmen
hinunter auf die sanfte, weisse Schneeoberfläche des Bächligletschers
könnte kontrastreicher nicht sein.
Wir packen unsere Trinkflaschen wieder ein und steigen weiter.
Plötzlich löst sich direkt über mir doch noch ein Felsbrocken. Zum
Glück purzelt er nur aus geringer Höhe auf meinen Oberschenkel und
hinterlässt lediglich einen blauen Flecken. Das mahnt uns weiterhin
zur Vorsicht, und so gratulieren wir uns ohne weitere Zwischenfälle
nach einer Stunde Kletterzeit zum schönen Gipfel des Bächlistocks.
Der Nordgrat auf den Bächlistock
überrascht mit einigen
schönen Kletterpassagen
und einer ausgesetzten
Abseilstelle.
Ich muss an die Erstbesteiger denken, welche bereits vor
136 Jahren auf dem Gipfel des Bächlistocks standen. Im SAC-Heft
«Die Alpen» aus dem Jahr 1892 beschreibt der Pfarrer Heinrich
Baumgartner, wie ihn damals Gewissensbisse plagten: Da sie bei
ihrem ersten Anlauf im faustdicken Nebel kletterten, war er sich
nicht sicher, ob sie tatsächlich auf dem richtigen Spitz einen Steinmann
aufgeschichtet hatten. So organisierte er vier Jahre später
eine zweite Expedition, die er über den Westgrat auf den Nordgipfel
führte. Baumgartner: «Wir sind nicht die so und so vielten, sondern
die ersten; denn wie ein zweiter musternder Blick zeigt, nirgends
eine Spur, dass je vor uns ein menschliches Wesen hier oben gestanden.
(…) Am meisten interessierte und freute mich indessen
mein unmittelbares vis-à-vis, der südliche Bächlistock. (…) auf seinem
Haupte trug er den von uns im September 1888 im dichtesten
Nebel errichteten Steinmann.» Baumgartner war übrigens der
Meinung, dass dieser Gipfel der wahre Gipfel des Bächlistocks sei.
Heute weiss man, dass der Nordgipfel mit 3246 Metern immerhin
um drei Meter höher ist.
So wie der berggängige Pfarrer geniessen auch wir die Aussicht
über die hochalpine Wildnis des Unteraargletschers bis hin
zu Finsteraar-, Lauteraar-, Schreck- und Wetterhorn. Gegenüber,
am Gross Diamantstock, beobachten wir, wie sich auch dort die
ersten Seilschaften dem Gipfel nähern. Einige Stunden später, bei
saurem Most, Kaffee und Kuchen auf der sonnigen Hüttenterrasse
der Bächlihütte, denken wir an den Jubiläumsgipfel zurück. Es ist
nicht nur die Fünfsternewertung einer Modetour, die ein grossartiges
Bergerlebnis auszeichnet. Das Unberührte und Einsame, das
wir auf dem Nordgrat des Bächlistocks fanden – ist es nicht das,
was wir wirklich im Hochgebirge suchen?
Informationen zur Tour
Anreise
ÖV: Mit dem Postauto ab Meiringen Bahnhof bis Haltestelle Räterichsboden an der Grimselpassstrasse.
Auto: Bei der Staumauer des Räterichsbodensees am Grimselpass gibt es zahlreiche Parkplätze.
Von hier schöner Hüttenaufstieg in 2 - 2.5 Stunden (630 hm) bis zur Bächlitalhütte SAC.
Unterkunft:
Bächlitalhütte: www.sac-albis.ch/huetten/baechlitalhuette, Hüttentelefon: 033 973 11 14, Sommersaison von Mitte Juni bis Mitte Oktober.
Die Umgebung der Hütte bietet zahlreiche schöne Möglichkeiten zum Sport- und Alpinklettern.
Ausrüstung:
Hochalpine Gletscherausrüstung inklusive Helm. Kletterei am kurzen Seil, Sicherung um Zacken.
Nordgrat auf den Bächlistock:
- Zeit: 3 - 4 Stunden Aufstieg / 920 HM
- Schwierigkeit: ZS- Alpine Gratkletterei mit Stellen im 2.-3. Schwierigkeitsgrad. Loser Fels.
Informationen:
- SAC Tourenportal: www.sac-cas.ch
- Edition Filidor, Plaisir West (Band 1) zu Sport- und Alpinklettereien, inklusive Gross Diamantstock, Ostgrat ZS+. www.filidor.ch
Liebe Grüsse, Bernard