Die Gipfel feuern, während das Tal immer noch im schwarzen Schatten schläft. Als tiefe Furche zu Füssen zieht sich das Rhonetal gen Westen, flankiert vom Berner Alpenkamm, aus dem der formschöne Spitz des Bietschhorns gerade einen rosa Touch bekommt. Dunkle Gestalten huschen unter den Nordwänden des Grenzkammes durch. Gebückt, als würden sie schwere Last auf ihren Schultern tragen.
Im Keller habe er dereinst alte Jutesäcke gefunden, erinnert sich Fredy Tscherrig. Sein Vorgänger, der Furrer Erni – der letzte Krämer von Brig, wie dieser sich nannte – führte das Berggasthaus Wasenalp als Umschlagplatz für ein reges Schmugglergeschäft. In den Jutesäcken wurden kiloweise Zigaretten verstaut und dann von den Italienern bei Nacht und Nebel über die Furggubäumlücke ins Piemont gebracht. Einige sind dabei ums Leben gekommen, wenn sie zu früh aufbrachen im Frühjahr und Nassschneemassen südseitig von den Flanken rutschten. Die Wasenalp auf der Nordseite hingegen liegt lawinensicher. Jetzt im Hochsommer denkt niemand an Schnee.
Ein frühes z'Morge, dank des angebauten Pavillons mitten im Panorama. Schon bald nach dem Aufbruch beginnt das Schauspiel: Von Rosa ins Violett, dann ins Blau – Himmelsmaler zaubern ein hinreissendes Aquarell. Erst spät brechen die Sonnenstrahlen über die Gebirgskämme hervor und lassen die Höhenterrasse der Wasenalp gleissen. Da steht die Gruppe schon längstens auf der Gratschneide und blinzelt in die Sonne. Was für ein strahlender Tag. Und das Wetter soll sich halten. Genau richtig für eine Besteigung der «drei Grossen» am Simplon, wie Fredy seine Hausgipfel gerne nennt. Das Wasenhorn, das Furggubäumhorn und das Bortelhorn bilden eine hübsche Trilogie östlich des Simplons. Von der Aufwärmtour auf das Spitzhorli geben sie sich als filigrane Pyramiden zu erkennen, im Aufstieg von der Wasenalp zeigen sie sich hingegen als mächtige breite Mauern.
Bergführer Fredy
Tscherrig kennt die Schleichwege
am Simplon.
Neben seinen Ämtern als Hüttenwart der Turtmannhütte und Patron des Berggasthauses Wasenalp führt Fredy als Bergführer mal hier, mal dort, doch am liebsten vor seiner Haustür. Jetzt auf unserem Gipfeltrek bilden wir eine Fünfer-Seilschaft. Sarah und Thomas, ferienhalber auf der Bettmeralp, haben sich angeschlossen und sind bereits gut akklimatisiert. Ein nicht unwesentliches Detail für das Wohlbefinden, damit solch eine Hochtour überhaupt Spass macht. Wenn der Körper noch nicht ausreichend für rote Blutkörperchen sorgen konnte, werden die Nächte unruhig und im Halbschlaf verbracht, was dazu führt, dass einem tagsüber die Energie fehlt.
Unsere Gruppe strotzt vor Energie und wir kommen an unserem ersten Gipfel, dem Wasenhorn, gut vorwärts. Gleich an der Mäderlicke beginnt genussreiches Kammklettern über den Westgrat. Um uns herum ein Panorama sondergleichen: Im Süden ganz nah begleitet der Eisriegel des Monte Leone. Darunter die Trockenwüste des Hochtals, in dem der Chaltwassersee wie eine Türkisperle brilliert. Kaum, dass die Monte-Leone-Hütte in dem ockerfarbenen Gelände auffällt, so perfekt ist sie in die Landschaft eingepasst. Im fernen Gipfelmeer jenseits des Simplonpasses stechen Fletschhorn, Mischabel und Weisshorn ins Auge. Und im Norden drapieren sich über dem tief eingekerbten Rhonetal die Berner Alpen mit Aletschhorn, Nesthorn und Bietschhorn als Eyecatcher.
Kaltes Wasser, heisse
Herzen: unterwegs am Wasenhorn,
im Hintergrund der
Chaltwassergletscher samt
gleichnamigem See.
Wilder Westen an der Südgrenze
Erst ganz oben am Wasenhorn kommt auch der Blick nach Italien ins Spiel. Man steht direkt über dem grossen Wiesenkessel der Alpe Veglia, wo sich der eine oder andere Bauer oder Gastwirt dereinst mit Schmuggel ein Zubrot verdiente. So wie Severino Orio, Seniorwirt vom Albergo della Fonte. Bei einem Besuch im Vorjahr erzählte er uns, dass er in seinen 20er-Jahren fast eine Dekade lang Zigaretten geschmuggelt habe. Damals arbeitete er noch als Bäcker in Varzo, und der karge Lohn reichte nicht aus, die Familie zu ernähren. Der illegale Handel mit der Schweiz war lukrativ, aber extrem riskant. Viele seiner Freunde verloren ihr Leben. Die Route über den Chaltwasserpass im Westen des Alpkessels konnten sie nicht nehmen, denn dort stand die Hütte der Grenzsoldaten – die heute als SAC-Unterkunft genutzte Cabane Monte Leone. Also mussten sie über die nördlich gelegene Furggubäumlicke kraxeln.
Gelegentlich sorgten Verfolgungsjagden mit den Grenzwärtern für Schlagzeilen. Vom «Wilden Westen an der Südgrenze» war in den Schweizer Medien gar die Rede. Aber in der Regel stand man in freundschaftlicher Kommunikation mit den Zöllnern der Furggubäumlicke. «Wir wussten genau, wann sie abends in ihrer schlichten Hütte am Pass assen, und schummelten uns dann vorbei», verriet uns Severino. An die 40 Kilo schleppten die spalloni (Träger) auf dem Buckel. Seine bricolla (Tragekiste) hat Severino im Albergo della Fonte ausgestellt, wo er 1968 als Wirt anfing. Heute wird die Unterkunft am Südfuss des Furggubäumhorns von seinen Kindern, den Geschwistern Katjuscia und Danilo, in zweiter Generation geführt.
Scharf am Abbruch zur Alpe Veglia kraxeln wir das Wasenhorn südlich ab. Ein imposanter Bartgeier kreist federleicht durch die Lüfte. Dabei können diese Raubvögel an die sieben Kilo auf die Waage bringen, weiss Fredy. Das Schöne, sagt er, dass Bartgeier neugierig seien und gerne auch mal ganz nahe kämen. So wie jetzt. Nach einer Stärkung in der Monte-Leone-Hütte folgt wieder ein Gegenanstieg zur Mäderlicke, wo sich über den breiten Grat ganz leicht das Mäderhorn überschreiten lässt. Zu Füssen liegt der breite Simplonpass mit dem wuchtigen Hospiz.
Südseitig des Wasenhorns
lädt die Monte-Leone-Hütte SAC
zur Einkehr ein.
Fredy deutet in Richtung der Chalti Wasser, wo die Schmelzbäche des Chaltwassergletschers gen Simplon stürzen. Dort, im Felsaufschwung, stünde das Überbleibsel einer Seilbahnstütze. Es geht auf die Zeit zurück, als hier Gletschereis abgebaut wurde. Mit Pferdefuhrwerken und Schlitten konnte das Eis vom Simplonpass über die napoleonische Strasse relativ leicht nach Brig transportiert werden. Vor allem die Bierbrauerei war ein dankbarer Abnehmer. Gletschereis als Kühlmittel nahm in Europa um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Anfang. Einmal pro Woche ging ein Zug aus dem Rhonetal gar nach Paris, um die Metzger und Limonadenhersteller mit Walliser Gletschereis zu erfreuen. Erst in den 1950er- und 60er-Jahren wurde die Eisindustrie durch moderne Kühlanlagen abgelöst.
Gebührend ehren wir diesen Tag im Berggasthaus Wasenalp mit einem Drink «on the rocks», als die Tür aufgeht und ein älterer Herr die Gaststube betritt. Er stellt sich als Heli Wyder vor, dereinst Lehrer und Oberst beim Militär. Ein Urgestein der Wasenalp. Jetzt als Pensionär pflegt der 89-Jährige die Wanderwege und reinigt die Wiesen von Grünerlensprösslingen, was ihm ein agiles Alter beschert.
Als er erfährt, dass wir anderntags das Furggubäumhorn besteigen wollen, kommt er ins Erzählen. Sein Onkel sei dort droben Grenzsoldat gewesen. Mit netten Kollegen aus dem Nachbarland. Solidarisch war man. Die Schmuggler wussten, was sie abzugeben hatten, damit beim Risotto ein ungestörtes Durchhuschen ermöglicht wurde. Später kaufte Heli die Passhütte für den symbolischen Betrag von einem Franken. Doch Schlitzohren seien nach wie vor unterwegs: Letztens waren seine dort aufgehängten Petroleumlampen verschwunden. Deshalb belasse er es nur bei einer rudimentären Notunterkunft.
Süsses hinterm Viehgatter
Ein zeitiger Aufbruch führt uns erneut ins Schmugglerleben. Der recht lange Zustieg zur Furggubäumlicke lässt viel Zeit für die Fantasie, für Szenen, wie es damals abgegangen sein könnte. Die letzten Meter beansprucht ein Klettersteig, wo es wahrscheinlich zu Schmugglerzeiten noch ungesichert über diese Felsstufe ging. Oben am Pass nicht nur die Hütte, sondern auch unzählige Steinböcke. Nicht wenige mit mächtigen Hörnern. Sie trollen sich schwerfällig, als wir am Kamm aufsteigen. Die Kletterei über den Südwestgrat auf das Furggubäumhorn zeigt sich abwechslungsreich und nur wenig anspruchsvoller als am Wasenhorn. Die Schwierigkeiten gehen nicht über den II. Grad hinaus, leicht genug, um die fantastischen Tiefblicke zur Alpe Veglia und ins Rhonetal geniessen zu können.
Die Lage der Bortelhütte am
Fusse des Bortelhorns schenkt
Weitblick über das Rhonetal.
Nordseitig unter den Flanken liegt die Bortelhütte, in der wir die nächste Nacht verbringen. Der süsse Gruss – eine Milchkanne mit Guetzli gefüllt – hängt am Viehgatter kurz vor der Hütte und lässt eine herzliche Bewirtschaftung vermuten. Seit 2018 führt Irmtraud Chastonay, die alle nur Irmi nennen, die Bortelhütte und man spürt, dass sie das mit grosser Freude tut. Längst hat sie sich einen Namen mit all ihren leckeren Kuchen gemacht.
Früh geht es wieder aus den Betten und bergwärts. Nun steht das Bortelhorn an. Die erste Stunde lässt sich gut noch im Halbschlaf bewältigen. Im gemütlichen Trott dringt Fredys Stimme ans Ohr: «Mein Vater pflegte zu sagen: Um schnell zu sein, muss man langsam laufen.» Eine uralte Bergführer-Weisheit, die uns durch das Gelände hilft, das nun zunehmend heikler wird. Wo es dereinst leicht mit Steigeisen über den Gletscher ging, muss man sich jetzt zwar ohne Steigeisen, doch um einiges mühsamer über instabilen Moränenschutt schuften.
Freudiges Aufatmen, wenn man dann endlich an der Wand steht, ein plattiger Felsaufschwung unterhalb der Scharte, über den Fixseile hinauf in die Sonne helfen. Wir geniessen die wärmenden Strahlen und die Gratkletterei zum letzten der drei Grossen über der Wasenalp. Ohne Zusammenhalt könnte man leicht links oder rechts im Abgrund landen. Eben so wie im Leben.
Süsser Gruss: Wanderer freuen
sich über die umfunktionierte
Milchkanne bei der Bortelhütte.
Weitere Informationen zur Tour
Anreise
Mit dem Zug nach Brig. Weiter per Postauto Richtung Simplonpass, Haltestelle Rothwald oder Ganterwald und zu Fuss in einer halben Stunde zum Berggasthaus Wasenalp (oder den Abholservice in Anspruch nehmen).
Übernachtung
Berggasthaus Wasenalp, 3 DZ und drei Lager, Whirlpool auf der Dachterrasse, mit Solarenergie beheizt, im Übernachtungspreis inbegriffen, während der Sommersaison geöffnet auf Anfrage, Tel. 027 923 23 70, www.wasenalp.ch.
Bortelhütte (Skiclub Brig), geöffnet Mitte Juni bis erste Oktoberwoche, 16 Betten verteilt auf zwei Lager, Tel. 027 924 52 10, www.bortelhuette.ch.
Wasenhorn / Punta Terrarossa, 3246 m
Wasenalp – Mäderlicke: 2.30 Std., Südwestgrat – Wasenhorn: 1.30 Std., Abstieg Südroute zur Monte-Leone-Hütte: 1 Std., Rückkehr Wasenalp: 2 Std. Gratroute: T5, leichte Kletterei, zwei Stellen im II. Schwierigkeitsgrad.
Furggubäumhorn / Punta d’Aurona, 2985 m
Wasenalp – Furggubäumlicke: 3 Std., Südwestgrat – Gipfel: 1 Std., Abstieg und Querung zur Bortelhütte 3.30 Std. WS, plattige Gratkletterei bis II. Grad.
Bortelhorn / Punta del Rebbio, 3194 m
Bortelhütte – Bortellicke: 2 Std., Südwestgrat – Gipfel: 1 Std., Abstieg über Bortelhütte nach Berisal: 3.30 Std, WS, leichte Kletterei über Blockwerk und Platten.
Geführte Tour
An verschiedenen Sommerterminen führt Fredy Tscherrig die Tour „Die drei Grossen am Simplon“, Termine auf der Website von www.wasenalp.ch.
Karte
Swisstopo 1: 50 000, Blatt 274 S Visp.
Buchtipp
Iris Kürschner, Bernd Jung: Gratwandern Südschweiz. Wallis, Tessin und Graubünden. Rother Bergverlag 2024, www.rother.de
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