Die Aufnahme des Sportkletterns in das olympische Programm markiert einen Meilenstein in der Geschichte unserer Sportart. Sportklettern war lange Zeit ein Nischensport, der in der Schweiz vor allem am natürlichen Felsen und seit rund 30 Jahren vermehrt auch in Kletterhallen ausgeübt wurde. Mit der Einführung bei den Olympischen Spielen hat das Klettern jedoch eine neue Dimension erreicht. Plötzlich stehen Athletinnen und Athleten im Rampenlicht einer weltweiten Bühne, und der Sport erhält eine nie dagewesene Aufmerksamkeit. Diese Anerkennung bringt nicht nur neue Möglichkeiten, sondern auch neue Herausforderungen mit sich. Doch was bedeutet dieser Schritt für Athleten, Trainer und die Schweizer Kletterszene insgesamt? Und sind wir überhaupt bereit, den raschen Wandel unserer Sportart mitzumachen?
Vom Einstieg zur Weltspitze
Heute beginnt die Rekrutierung von jungen Athletinnen und Athleten sehr früh. Während man früher oft erst mit 12 Jahren oder später zum Wettkampfklettern kam, reicht das heute kaum mehr aus, um an die Weltspitze zu gelangen. Betrachtet man den Weg eines Athleten vom Einstieg bis zum möglichen Start an einem Weltcup, so dauert dieser heute gut und gerne 12 bis 15 Jahre, begleitet von einer kontinuierlichen Steigerung der Trainingsintensität und Trainingsstunden ab jungen Jahren. Das bedeutet für die Jugendlichen auf viel Freizeit und Freiheit zu verzichten, sich früh nach einem professionellen Trainingsumfeld umzuschauen und die Schule dem Sport unterzuordnen oder zumindest eine optimale Balance zu finden. Bereits von Beginn an müssen die jungen Athletinnen und Athleten grosse Opfer bringen, um ihre Ziele zu erreichen und eine Chance zu haben, sich auf internationalem Niveau zu behaupten.
Flavia Ghilardi (U14,) alexwydler.training Team, in einer 8a Lead-Route in der Kletterhalle Griffig (Foto: Alex Wydler)
Wenn ein Klettertalent die Jugendjahre durchschritten hat und international bei der Elite starten kann, steht der junge Mensch vor einer weiteren wichtigen Entscheidung: Soll er seine Ausbildung und berufliche Karriere hinten anstellen und dem Sport, beziehungsweise dem Training, die entsprechende Priorität einräumen? Ein semi-professionelles und professionelles Ausüben des Sports wird für ein Weiterkommen unerlässlich sein. Dies bedeutet oft, dass Nachwuchsathletinnen und -athleten grosse Entbehrungen in Kauf nehmen müssen, um ihre sportlichen Träume zu verwirklichen, indem sie auf eine beruflich stabile Zukunft verzichten und sich stattdessen für das grosse Wagnis des Spitzensports entscheiden – ohne auch nur die geringste Garantie auf Erfolg (und Überleben) zu haben.
Eine gute Möglichkeit bietet hier die Schweizer Armee, die gewissen Leistungsträgern mit der Spitzensport-Rekrutenschule und danach mit dem Zeitmilitär eine vage Lebensgrundlage schaffen kann. Wer diese Möglichkeit aber nicht nutzen kann, ist oft auf sich selbst gestellt und muss sich auf privater Basis um zusätzliche Sponsoren bemühen, um das Überleben zu sichern. Allein vom Klettern lässt sich nicht leben.
Auswirkungen auf die Trainer und das Training
Mit dem Aufstieg des Sportkletterns haben sich auch die Anforderungen an das Training und an die Trainerinnen und Trainer grundlegend geändert. Vom Hobby zum Berufstrainer – das muss die Devise sein. Nur so können wir unseren jungen Talenten gerecht werden. Die Aus- und Weiterbildung rückt dabei in den Mittelpunkt, ebenso wie die Art und Weise, wie wir uns Wissen aneignen und dessen Qualität bewerten. Es gibt eine Fülle von kletterspezifischer Trainingsliteratur, doch oft fehlt es an Spezifität, da sie weder evidenzbasiert ist noch die Bedürfnisse des Leistungs- oder Spitzensports ausreichend berücksichtigt.
Fragen zur Steigerung der Maximalkraft der Fingerflexoren werden heute zu Tausenden in den sozialen Medien diskutiert, dabei kursieren ebenso viele Trainingsprotokolle. Doch im modernen Wettkampfklettern ist dies kaum mehr die zentrale Frage. Heute geht es vielmehr darum, wie man in einem sich ständig wechselnden Umfeld (also Wettkampf) stabile Bewegungsmuster abrufen kann, die ökonomisch ablaufen und zugleich zielorientiert sind.
Tiefgreifender ist auch die Ausrichtung des Trainings der Jugendlichen. Wir müssen uns darum bemühen, in längeren Zyklen zu denken – nicht nur von Jahr zu Jahr, sondern in 5- oder 10-Jahres-Plänen oder noch besser die gesamte Sportkarriere im Blick haben. Ein langfristiger Leistungsaufbau muss dabei das zentrale Element eines Jugendtrainings sein. Das Hinarbeiten von einer Breite und Fülle an Bewegungen zur Spezialisierung ist entscheidend. Die Trainingsstunden werden sich vermehrt auch in den Kraftraum verlagern, wo man gezielt an der Belastungsfähigkeit arbeiten muss – nicht nur zur Leistungssteigerung, sondern vor allem auch zur Verletzungsprophylaxe.
Links: Louis Guignard (Elite) im Kraftraum. Rechts: Julien Clémence (Elite) bei einem Training im Minimum Leutsch Zürich. (alexwydler.training Team, Fotos: Alex Wydler)
Wir Trainer sind aber auch vermehrt mit ethischen Fragen und Problemstellungen konfrontiert. Dies liegt nicht nur daran, dass andere Sportarten durch Missverhalten den Leistungssport verstärkt in den medialen Fokus gebracht haben, sondern auch daran, dass wir uns im Spitzensport auf einem schmalen Grat bewegen und ständig die Grenzen ausloten müssen, um das volle Leistungspotenzial abrufen zu können. Dabei sollte klar sein, dass die Ethik-Charta von «Swiss Sport Integrity» und Swiss Olympic nur die minimalen Standards darstellt. Wir müssen uns bemühen, Werte zu vermitteln, die über diese Standards hinausgehen und nicht nur auf das «Gewinnen um jeden Preis» abzielen.
Fazit: Eine Professionalisierung der Trainertätigkeit und des Trainingsumfelds ist unabdingbar. Dabei müssen die langfristige Leistungsentwicklung und das Wohl der Athletinnen und Athleten im Zentrum stehen.
Die Schweizer Kletterszene im Fokus
Im Verständnis vieler ist die Schweiz eine Kletternation, genauso wie sie als eine Skination gilt. Doch ein Blick über die Grenzen zeigt, dass wir in vielen Belangen ein Kletter-Entwicklungsland sind. Das Bild, das wir vor Augen haben, entspricht oft nicht der Realität. Zwar konnten wir in der Vergangenheit und auch heute noch auf einzelne Leistungsträger wie Petra Klingler und Sascha Lehmann setzen, die international immer wieder für Top-Resultate sorgen, aber an der Spitze fehlt es uns an Breite. Wir müssen die Last auf mehrere Schultern verteilen können, sonst leiden unsere Leistungstragenden darunter.
Um an der Spitze breiter aufgestellt zu sein, müssen wir die Trainingsbedingungen in unseren Kletter- und Boulderhallen verbessern. Der Leistungs- und Spitzensport braucht einen festen Platz in unseren Hallen, sonst werden wir uns nicht weiterentwickeln können. Ein Austausch zwischen Routenbauern und Trainingsverantwortlichen sowie eine Zusammenarbeit zwischen Hallenbesitzern und Trainingsgruppen sind zwingend erforderlich. Wir müssen internationaler denken und über die Landesgrenzen hinaus zusammenarbeiten, denn die Schere zwischen «kommerziellem Routenbau» und Wettkampf wird immer grösser. Daher ist es wichtig zu verstehen, dass die jungen Athletinnen und Athleten, die heute in unseren Kletterhallen trainieren, in wenigen Jahren kaum noch Herausforderungen in unseren Hallen finden werden. Ohne eine starke Kletter-Community wird es keine Weiterentwicklung geben. Wir brauchen breite Unterstützung und Verständnis für unsere Anliegen in unseren «Heimhallen». Ein gemeinsames Vorgehen ist der beste Weg, denn ohne Spitzen- und Leistungssport gibt es keinen gesunden Breitensport.
Kletterkader Vorarlberg im Minimum Leutsch Zürich (Foto: Alex Wydler)
Wollen wir wirklich den Leistungssport im Sportklettern?
Dies ist wohl die zentrale Frage, die wir uns stellen müssen. Genau wie wir von unseren Athletinnen ein Commitment von 100% abverlangen, darf es auch hier kein «Ja, aber» geben. Leistungs- und Spitzensport verlangt einen nahezu kompromisslosen Einsatz von unseren Athleten und unser System sollte dem gerecht werden. Wir müssen Perspektiven schaffen: für Trainer die Möglichkeit, ihre Tätigkeit als Beruf auszuüben und somit auch eine entsprechende Ausbildung zu erhalten, und für unsere Athleten Sicherheiten, die ihnen mehr Stabilität und echte Perspektiven bieten, wenn sie sich für eine sportliche Karriere entscheiden.
Es ist entscheidend, dass wir:
- bestmögliche Trainingsbedingungen auf allen Ebenen schaffen,
- eine engere Zusammenarbeit mit der Wissenschaft und den internationalen Austausch fördern,
- eine klare Struktur für die berufliche Entwicklung von Trainern etablieren,
- finanzielle und soziale Sicherheiten für Athletinnen und Athleten bereitstellen, um ihnen den Weg in den Leistungssport zu erleichtern,
- die Trainings-Infrastruktur in unseren Kletter- und Boulderhallen verbessern, um den Anforderungen des Spitzensports gerecht zu werden.
Wenn wir mit den Entwicklungen und dem Wandel im Sportklettern mithalten wollen, müssen wir auf allen Ebenen professionelle Strukturen schaffen. Es muss uns klar sein, dass wir in Zukunft mehr Zeit, Energie und Ressourcen bereitstellen müssen, um unseren jungen Talenten eine Chance zu geben, international in den Top 10 mitzuklettern. Es gibt in der Schweiz genügend gute Beispiele aus anderen Sportarten, die genau dies erreicht haben, indem sie eine Professionalisierung angestrebt und das System angepasst haben. Es braucht ein radikales Umdenken und ein stärkeres Commitment von allen Beteiligten im Sportklettern. Sind wir dazu bereit? Die Zukunft unseres Sports liegt in unseren Händen. Packen wir es an!
Über Alex Wydler | alexwydler.training
Seit 2018 bei Swiss Climbing in der Trainerausbildung tätig
2017 J&S Experte Sportklettern
2015 Ausbildung und Spezialisierung zum Langhanteltrainer Swiss Olympic
2014 Wahl zum Nachwuchstrainer des Jahres (Swiss Climbing)
2013 Berufstrainer BTA und Trainer Leistungssport Swiss Olympic
2007 bis 2015 Trainer Regionalzentrum Zürich Sportklettern
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