«Mit Jil scheint alles so leicht zu sein. Auch wenn es anstrengend war und ein innerer Kampf über bisherige Grenzen hinaus stattfand, ist ihre jugendliche Leichtigkeit ansteckend und lässt einen sich fast unbesiegbar fühlen. Das Ritual der letzten Tage bestand darin, aufzustehen, die Webcam am Hirli zu überprüfen und auf Stirnlampen zu hoffen. Im gemeinsamen J&S-Kurs in der Woche zuvor, nuschelten wir über die möglichen Verhältnisse in der Tour und begannen, gemeinsame Daten festzulegen, um diesem Traum ein Stück näher zu kommen.
Danach stand eine kurze Arbeitswoche an. Kaum war sie vorbei, spurtete ich nach Hause, packte meine Sachen und fuhr am nächsten Morgen Richtung Spiez. Schon durch das Zugfenster grinste mich eine übermotivierte junge Dame an. Mit vollbepacktem Rucksack, als würden wir eine grosse Nordwand erklimmen wollen, reisten wir gemütlich nach Zermatt. Wie so oft war ich wieder einmal verblüfft von Jils Selbstmanagement, als sie zeitnah ihr Lunch auspackte. Es war perfekt ausgewogen aus Kohlenhydraten, Fetten, Proteinen und Vitaminen. Wie macht sie das nur, neben all dieser Aufregung, auch noch an so etwas zu denken?
Nach einem kleinen Einkauf in Zermatt nahmen wir die Bahn zum Schwarzsee und reihten uns in die aufsteigenden Hörnlihütten-Besucher:innen ein. Einige Köpfe drehten sich beim Zustieg, als sie das Volumen unserer Rucksäcke bemerkten. Genau unterhalb von 2880 m ü. M. war es erlaubt zu campieren. So schlugen wir das Zelt auf, verspeisten mässig genüsslich unser Dryfood und stellten den Wecker auf 23.15 Uhr. Das Abendlicht liess mich kaum ein Auge schliessen, und so bestand die Nacht aus weniger als 3 Stunden Schlaf.
Bild links: Biwakieren heisst schleppen. Bild rechts: Genau unter 2880 m.ü.M. ist das campieren erlaubt, doch diese Info zu finden war ein kleines Glück (Q&A Nr. 7 auf der Hörnlihütte Website).
Dann ein Stück Bündner Nusstorte zum Frühstück und los ging's die ersten ca. 400 Höhenmeter hoch zur Hörnlihütte. Begleitet von starken, beunruhigenden Windböen und einem Gefühl der Übelkeit in meinem Magen. Hinter der Hörnlihütte rüsteten wir uns mit Gletschermaterial aus und stiegen ab, um einen Weg zum oberen Gletscherplateau zu finden. Völlig unerwartet stellte sich das als eine grössere Herausforderung heraus. In keinem Tourenbericht war etwas über diese Stelle zu lesen. Eine leicht überhängende, brüchige Seillänge in Felsen, die einen schnell in die Realität des Bergsteigens holte. Vorbei mit Zweifeln und halbherzigen Erwartungen, jetzt ging es nur noch ums Klettern und Höhe gewinnen. Glücklicherweise liess der Wind komplett nach, und wir stiegen nach dieser Seillänge in einfacherem Gelände zum Gletscherplateau auf.
Ehrlich, ohne die Spuren von früheren Begehungen hätte ich absolut keinen Schimmer gehabt, wo der richtige Aufstieg im Dunkeln zum Schneefeld gewesen wäre. Den vermeintlich richtigen Spuren folgend, verliefen wir uns einmal zu weit rechts. Wir querten dann wieder über abschüssigen, unabsicherbaren Bruch zurück in die Hauptspur. Danach kamen wir dem eigentlichen Einstieg der Route immer näher. Einige Stirnlampen folgten uns und ich versuchte so schnell zu klettern wie möglich, um die anderen Seilschaften nicht auszubremsen. Doch mein ganzer Körper zitterte vor Kälte, wie so üblich, kurz vor Dämmerung.
Kaum am Einstieg der Seillänge, die zur Rampe führte, erhellte sich die Wand im Licht und mit dabei die Sonne. Eine treue Begleiterin, die diese grosse Nordwand zu einem angenehmen und leicht absurden sommerlichen Eisklettertraum verwandelte. Spätestens gegen den Gipfel wurde diese willkommene Wärme zu einer objektiven Gefahr, die Eis- und Steinschlag aus dem Gipfelbereich verursachte. Die Routenfindung war dank des Solo-Bergsteigers vor uns relativ einfach. Er nahm uns viele Versteigungsmöglichkeiten vorweg und zeigte uns mit einfachen Handbewegungen, wo die eigentliche Route entlang führte.
Da die Wand mehr Eis als gemütlichen Trittfirn aufwies, trat die Erschöpfung der Waden schneller ein als erwartet. So konzentrierten wir uns primär auf das Ausblenden der brennenden Waden und das Suchen von einigermassen guten Standplatzmöglichkeiten. Doch uns war klar, ohne Akklimatisation würde dieser Tag kein leichter werden. Dafür wussten wir genau, auf was wir uns einstellen durften. Denn die erahnten Anstrengungen verliefen bald in einen mentalen Kampf um jeden einzelnen Meter, der uns weiter Richtung Gipfel führte.
Der Gipfel des Matterhorns in greifbarer Nähe (Quelle: Instagram).
Als das Gipfelkreuz ersichtlich war, spürten wir die Euphorie in uns aufkommen. Wir gingen die letzten Meter und schlossen uns in die Arme. Ich beobachtete Jils Gesichtsausdruck und entdeckte ihre rührenden Freudentränen. Wir stärkten uns mit Riegeln und Cola, um bereits ziemlich erschöpft den langen Abstieg über den Hörnligrat anzutreten. Über Firn und Tauen, Felsen und Geröll stiegen wir langsam am frühen Nachmittag über die beliebte Route ab. Einige konnten wir überholen, andere kamen uns erst entgegen. Mit konstantem Blick zur Hörnlihütte und der aufmerksamen Suche nach dem bestmöglichen Weg, sammelten wir noch einmal alle Konzentration, um den Abstieg sicher zu bewältigen. Dann, angekommen auf dem Wanderweg, ein erlösendes Aufatmen.
Nach einer kurzen Pause in der Hörnlihütte entschieden wir, den Abstieg nach Zermatt noch an diesem Tag in Angriff zu nehmen. Die letzte Bahn hatten wir längst verpasst. Doch um unsere Termine am nächsten Tag wahrnehmen zu können, mussten wir den ersten Zug ab Zermatt am nächsten Tag erwischen. So traten wir auch noch den hübschen Wanderweg ins Tal an und erreichten völlig erschöpft um 23 Uhr das belebte Zermatt. Mit grossem Glück fanden wir eine Pizzeria, die bis 2 Uhr morgens geöffnet hatte und belohnten uns mit einer deftigen Mahlzeit. Nach den leckeren Bissen überwältigte mich der Schlaf noch am Tisch. Doch kurze Zeit später fanden wir einen gemütlichen Spielplatz, der uns ein letztes improvisiertes Biwakplätzchen bot.
Am nächsten Morgen ging es dann um 5.36 Uhr auf den Zug nach Visp um pünktlich gegen 11 Uhr den Brunch bei meiner Schwester im Zürcher Oberland wahrzunehmen. Kaum schlossen sich die Zugtüren, begann ein heftiger Regen, was uns zufrieden diesen Ausflug abrunden liess. Was für ein kurzes, strenges und mit Jils Leichtigkeit und Lebensfreude begleitetes Abenteuer, wovon man noch lange zehren kann.»
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