Entschuldigen Sie bitte, dass Sie zu Beginn dieser Geschichte zwischen dünnen Wellblechwänden auf einer rosaroten Brille Platz nehmen müssen. Was sein muss, muss sein. Unter Ihnen plätschert eine Dauerspülung aus Gletscherwasser und die Türe steht sperrangelweit offen. Dieses stille Örtchen, ungefähr 3220 Meter hoch und zwanzig Schritte entfernt vom Arbenbiwak gelegen, gehört zu den aussichtsreichsten Klohäuschen der Alpen. Der direkte Blick in die Matterhorn-Nordwand ist viel zu attraktiv, als dass Sie die Türe verschliessen möchten. Aber das muss Ihnen keineswegs peinlich sein. «Wenn die Tür weit offensteht», erklärte der ehemalige Hüttenchef Alfons Biner einmal, «dann ist besetzt.»
Schnell freunden sich die Besucher des nicht bewirtschafteten Arbenbiwaks mit dem Hüsli- und Hausbrauch an. Ankommen ist angesagt, denn unmittelbar hinter dem alpinen Stützpunkt thront unser 4063 Meter hohes Ziel für morgen, das formschöne Obergabelhorn. Die Südwand, etwa 700 Meter hoch und aus glänzendem Gneis, leuchtet, flankiert von seinen perfekten Graten, verheissungsvoll zu uns herunter. Wir haben den linken Grat, den Westsüdwestgrat im Sinn, der in der Alpinliteratur als Arbengrat fast schon sagenhaft schöne Erwähnungen fand. «Kompaktester Fels» im Wallis und «schönste Aussicht» steht da zu lesen. Zu Recht? Wir sind gespannt.
Ein Geschenk der Holländer
So still wie heute an diesem Juni-Tag ist es an diesem Örtchen nicht immer. Das Hüttenbuch und so mancher Bericht im Internet verraten, dass die 15 Schlafplätze an manchem Sommertag doppelt belegt sind. So gut besucht wie am Tag seiner feierlichen Eröffnung war es vermutlich nie wieder. 200 Gäste weihten am 9. Juli 1977 das Arbenbiwak ein, das liebevoll und klassisch aus Bruchsteinmauern gefertigt wurde. Weniger klassisch seine Historie: Es war ein Geschenk von der Königlich Niederländischen Alpenvereinigung an den SAC Zermatt. In den Niederlanden liegt ein Fünftel unter dem Meeresspiegel – doch die Bergleidenschaft kennt keine Höhenbeschränkung. 30 freiwillige Holländer schaufelten in der Arbengandegge über drei Wochen alleine an den Zustiegen und arbeiteten den Schweizer Handwerkern zu. «Holländerkehre» wurde eine der Spitzkehren getauft. Um das fertige Bauprojekt zu würdigen, wurden Medienvertreter mit dem Hubschrauber heraufgeflogen.
Zu Fuss steigen wir von Zermatt herauf. Die 1700 Höhenmeter bis zum Biwak scheinen für uns fast genauso schnell zu verfliegen wie für die Holländer im Helikopter. Nicht, weil wir schnell unterwegs wären. Sondern weil es unentwegt etwas zu sehen gibt! Rechts flitzen Trailläufer an uns vorbei, links bimmeln in der Blumenwiese Kuhglocken. Die urchigen Bergbauernhöfe in Zmutt zeichnen ein Idyll von einer Schweizer Bergkulisse – und linkerhand begleitet uns auf Schritt und Tritt prominent das Matterhorn. Ist es aus der Ferne nicht am schönsten anzusehen? Hinter jeder Kuppe verändert es fliessend seine Form. Langsam dreht sich die Berühmtheit wie ein Stück Kuchen auf dem Tortenteller. Und bald wandert auch das Obergabelhorn in unser Blickfeld.
An der Baumgrenze fallen die Sonnenstrahlen durch die letzten Lärchen. Wenige Schritte weiter schon rauscht ein mächtiger Wasserfall über Klippen. Die imposante Moräne, die Arbengandegge, zieht sich dann doch spürbar in die Länge. Sie erinnert daran, wie vergänglich das Eis an den Viertausendern ist – und wie hoch gesteckt unser Ziel ist. Ein Klettersteig, der nach dem Rückgang des Arbengletschers von Wege-Verantwortlichen des SAC mehrmals adaptiert worden ist, bildet das steile Finale zum Biwak.
Kaffee am Logenplatz
Weil die Sonne noch hoch am Himmel steht, machen wir Arbeitsteilung: Andi kundschaftet den morgigen Zustieg aus, der mir von meiner Klettertour durch die Südwand noch bekannt ist, und ich brühe in der top ausgestatteten Kochnische am Gasherd Wasser. So schlürfen wir am späten Nachmittag einsam und gemeinsam auf der Hüttenbank unseren Instant-Kaffee, der mit dem Monte-Rosa-Panorama mindestens genauso gut schmeckt wie ein Cappuccino drüben in Italien.
Nicht ganz so süss schmeckt uns das Weckerklingeln um 2:30 Uhr. Als wir den Holzboden im Biwak wischen und 50 Franken in die Gebührenbüchse stecken, herrscht draussen noch finstere Nacht. Nur schemenhaft erkennen wir die Konturen des Obergabelhorns, eine perfekte Pyramide. Es ist wohl nicht einfach, in der gesamten Tour gute Verhältnisse vorzufinden. Umso überraschter sind wir, dass uns die Zustiegsrampe nicht einmal Mitte Juni mit durchgehendem Stapfschnee empfängt. Vorsichtig klettern wir über ein paar instabile Blöcke, steigen auf unseren Frontalzacken durch die schräge Rinne aufwärts und bald schon hinaus auf den Arbengrat. Überwältigt sind wir!
Der Himmel hinter dem Monte-Rosa-Massiv ist in sanfte Pastelltöne gepinselt, die Gletscher sind in Deckweiss gehüllt und vor uns wartet der kaltgraue Gneis am Grat mit perfekten Schuppen und Rissen. Unser Bergsteigerherz schlägt schneller und der Blick bleibt immer wieder am Matterhorn und der Dent Blanche hängen, die das Panorama dominieren. Als die Sonne die höchsten Bergspitzen berührt, noch ein Foto – denn nun müssen wir den Fokus auf den Kleinen und Grossen Gendarmen vor uns richten. Der Gneis hält, was versprochen wurde, und die Kletterei ist an vielen Stellen extrem exponiert. Völlig auf den Moment fokussiert fühlt es sich fast so an, mit dieser Szenerie zu verschmelzen. An der Schlüsselstelle fühlt es sich aber noch besser an, auch mit einem Seil verbunden zu sein. Der Tiefblick zum Durand-Gletscher ist unheimlich, die Kletterstellen im oberen dritten Grat sind kurz und knackig. Bald steigen wir wieder genussvoller höher – bis es nicht mehr höher geht.
Auf dem Zacken der Krone
Ein kleiner Firngrat leitet zum Himmel und endet auf einem Felseneck. Ein erhabener Moment am frühen Morgen, stehen wir doch hier auf dem mittleren Zacken der Walliser Kaiserkrone, wie diese Gipfelkette von Touristikern gerne in die Welt verkauft wird. Die ersten Sonnenstrahlen fallen in unser Gesicht, wärmen Körper und Geist. Umso mehr geniessen wir den Blick auf die krönenden Zacken – Zinalrothorn und Weisshorn, Dent Blanche und Matterhorn – und all die weiteren Gipfel in allen Himmelsrichtungen, die keine kaiserlichen Titel brauchen, um majestätisch zu wirken. Der Blick auf die Uhr – 7:30 – sagt: Frühstück Nummer zwei. Wir liegen gut in der Zeit, um rechtzeitig vor dem Wetterumschwung in einer Beiz in Zermatt zu sitzen.
Wem die hübsche Kletterei an dieser Stelle zu kurz geraten ist, der muss nicht traurig sein. Der lange Abstieg über den Ostnordostgrat des Obergabelhorns und die Wellenkuppe darf nicht unterschätzt werden. Auch der Aufstieg liesse sich übrigens verlängern – nach unten hin: Von der Schönbielhütte kommend kann man im Col Durand in den gesamten Arbengrat einsteigen. Vor uns liegen am Normalweg einige Abseilmanöver zwischen grauer Südwand und weisser Nordwand, einer eindrucksvollen Leinenfläche aus Schnee und Eis. Schneidige Stellen im Firn und ein Gegenanstieg begleiten uns hinüber zur Wellenkuppe. Durchatmen wäre hier auf 3900 Metern zu früh. Ein mächtiger Felsriegel und der spaltenreiche, bereits aufgeweichte Triftgletscher erfordern noch Aufmerksamkeit. Erleichtert erreichen wir kurz vor Mittag die Rothornhütte.
Rothornhütte in Umbruchstimmung
Ihre rotweissroten Fensterläden sind leider noch verriegelt – Winterpause, obwohl bereits Verhältnisse wie im Hochsommer herrschen. In naher Zukunft bleiben die alten Fenster der Rothornhütte für immer geschlossen. Ihr steht ein Neubau ins Haus, denn der Permafrost setzte dem Fundament schwer zu. Eine neue Hütte soll rund 30 Höhenmeter unterhalb der bestehenden entstehen. Geplant ist, die alte Hütte während des Baus geöffnet zu halten.
Auf der Sonnenbank vor der winterfesten Hütte gibt‘s für uns z’Morge Nummer drei. Wir lassen die Tour Revue passieren. Mehr als für den reinen Reiz seiner Kletterei wird der Arbengrat mit seinem attraktiven Gesamtpaket in Erinnerung bleiben – und für das Örtchen mit der besten Aussicht. Er fordert den versierten Hochtourengeher und ist unter den klassischen Routen an Abwechslung und Ausdauer nicht so schnell zu überbieten. Schon schlüpfe ich auch wieder in meine kurze Hose und die leichten Zustiegsschuhe, die ich im Rucksack dabeihatte. Wir nehmen gleich die 1600 Höhenmeter – noch immer mit Postkartenpanorama – nach Zermatt unter unsere Beine. Unten im Dorf angekommen, gönnen wir uns in der erstbesten Beiz gleich ein gut gekühltes Getränk. Was sein muss, muss sein.