Fluch und Segen einer fantastischen Wettervorhersage: Wenn die leichte Wetterschutzreserve genügt, wird der Rucksack anderweitig befüllt. Zu viert fünf Tafeln Schokolade, einen Laib Brot und ein Baguette unberührt drei Tage lang von A nach B zu buckeln, ist für den Proviant zwar sicher ein einmaliges Erlebnis, aber kein Ausweis gelungener Essensplanung. Nicht gefroren, nicht gehungert – gut gestillte Primärbedürfnisse prägten unseren Gang über den Sentiero Alpino Calanca. Was nicht heisst, dass wir nicht gelitten hätten.
Der rot-weiss-rot
markierte Höhenweg
wartet mit drei steilen
Passübergängen auf, die
bestens versichert sind.
Wir sitzen im Postauto, das uns vom Dorf San Bernardino hinauf zur Passhöhe bringt. Ein letztes Mal gehen wir die drei Etappen vom Ospizio bis nach Santa Maria in Calanca durch, als einem von uns – natürlich will es im Nachhinein niemand gewesen sein – fatalerweise Roland Kaisers Schlager über die Lippen huscht: «Santa Maria/Insel, die aus Träumen geboren …» Damit war der Sound gesetzt, noch bevor die Tour begonnen hatte. Wer an Zufälle glaubt: 1981 erreichte der niederträchtige Dudel-Hit Platz zwei der Schweizer Charts, seit 1983 ist der Höhenweg mit gleichnamigem Zielort durchgehend begehbar. Sechs Jahre zuvor hatte Wilfried Graf (Binningen BL) den Weg initiiert. Jugendliche aus halb Europa verbanden in wochenlanger Arbeit die Relikte alter Alpwege und Wildwechsel zu einem Höhenweg von rund 50 Kilometern – über den gesamten Rücken in Graubündens Südwestzipfel, vom Bernardinopass bis vor die Tore Bellinzonas. Charakteristisch ist, dass man fast immer über der Baumgrenze, aber nur ganz selten am (unangenehm brüchigen) Grat ist. Viel häufiger läuft man traversierend Kare, Kessel und Gräben in mehr oder weniger grossen Schleifen aus. Als Gewürz gibt es jeden Tag einen steilen, kettenversicherten Abstieg aus einer Scharte. Technisch sind das die Schlüsselstellen der Tour, die bei Schlechtwetter unangenehm bis sehr anspruchsvoll sein können. Insgesamt ist der Sentiero Alpino Calanca aber ein Höhenweg, der eher die Höhe hält, als Höhe macht: Der längste Anstieg beträgt rund 500 Höhenmeter, vom Start bis zum Schlussabstieg des letzten Tages bleibt man nahezu durchgehend über der 2000-Meter-Marke.
Zum Dahinschmelzen:
Auslegeordnung für die
kommenden Tage
Kleine Hütte, grosses Vergnügen
Am Ospizio empfängt uns eine stete Brise, sie pustet uns zumindest vorübergehend den leidigen Ohrwurm aus dem Hirn. Überhaupt ist es ein wohlwollender Auftakt: kaum Höhenmeter, die Zivilisation ist bald nur noch an der markanten Belüftungsanlage des Bernardino-Tunnels erkennbar und die Schleifen um die Gratausläufer, bei denen man immer sehr wenig Luftlinie macht, sind heute noch gnädig kurz. Das stillgelegte Skigebiet an der Alp de Confin trübt die tolle Landschaft mit kleinen Hochmooren und Wollgras kaum. Uns begegnen so wenig Menschen, dass jeder in Erinnerung bleibt: die «Italiener», die «Spanier», die «Hexe». Am Pass di Passit beginnt der Höhenweg dann so richtig. Wir kehren dem Misox den Rücken und wechseln über den Pass de la Cruseta auf die Seite des Val Calanca. Ein kurzer Steilabstieg bringt uns hinab auf die Blockfelder der im späten Licht besonders weitläufig wirkenden Alp d’Arbeola, über die Murmeltiere ihre Pfiffe hallen lassen. Ein letzter Gratausläufer stellt sich uns in den Weg, ehe das Rifugio Pian Grand in den Blick rückt.
Rum ums Eck: einer
der vielen plattigen
Kessel, die auf
der zweiten Etappe
gequert werden
18 Schlafplätze bieten die beiden dreieckigen Hüttchen, die bei Tiny-House-Designpreisen durchaus Gewinnchancen hätten. Zu zehnt verbringen wir hier die Nacht, schön gesellig, aber nicht zu voll. Die Quellen an der unbewarteten Hütte schütten zuverlässig, ein naher See ist flach genug, um sich auf knapp 2400 Metern am Ende eines sonnigen Julitages auf Badetemperatur aufzuheizen – perfekt. Noch mehr als das Abendrot leuchten die Augen der «Spanier» und «Italiener» – Enric, Julia, Andi und Greta –, die, anders als wir, die Kalorien eher knapp kalkuliert haben und sich ehrlich freuen, dass Schoggi, Pilzrisotto und der Weisswein aus der Thermosflasche heute für alle reichen.
Ziel der ersten Etappe:
eines der beiden Selbstversorger-
Hüttchen am
Rifugio Pian Grand
Derart gestärkt starten wir anderntags, die einen früher, andere später, aber alle mit dem gleichen Ziel, auf die Königsetappe des Sentiero. Nach einem kurzen, blockig-plattigen Schnapper zum Aufwärmen überblickt man vom Pass Ovest schon gut die Hälfte des Tagesprogramms: teils seilversichert durch Steilgras hinab zum Lagh de Trescolmen, den wir kurzerhand «Mini-Oeschinensee» taufen und der den perfekten Platz fürs Znüni bietet. «Noch 6 ½ Stunden», zitiert Susanna die Beschilderung – «und noch 6 ½ Tafeln Schoggi», sekundiert Jürg.
Der Weg der klappernden Kessel
Anstatt nun stündlich eine Ration vom Rucksack in die Mägen zu verlagern, passen wir unseren Rhythmus ganz dem Gelände an. Unseren nächsten Pausenplatz diktiert nicht die Uhr, sondern der unverstellte Blick auf die Walliser Viertausender, der unvermittelt auftaucht, als wir gerade vom einen Talkessel in den nächsten wechseln. Wir lassen uns von Strahl-, Rimpfisch-, Täschhorn und Alphubel gedanklich in kühle Gletscherwelten entführen, ehe wir die steile und südexponierte Querung zum Rifugio Ganan in Angriff nehmen. Michi geht noch einen Schritt weiter und träumt angesichts des weiten, kargen Steinkessels, der nur spärlich von Gras durchzogen ist, sogar von Grönland. Das Spiel vom Vormittag wiederholt sich: Abermals überblickt man jeden Meter Weg der nächsten drei Stunden. An der Biwakschachtel im Zentrum des Kessels, das mit dem Charme der Pian Grand nicht mithalten kann und nur in Notfällen zur Übernachtung dienen sollte, lindert ein sprudelnder Bach unseren Durst und die immer noch gut gefüllten Rucksäcke den Hunger.
Der liebenswerte Lagh
de Calvaresc liegt 1000
bahnfreie und massentourismus-
sichere Höhenmeter
über dem Tal.
«Ich träume heute von Platten», seufzt Susanna, als wir nach Stunden des (übrigens hervorragend markierten) Granitgeklappers endlich den Ganan-Kessel hinter uns lassen. «Besser als von Roland Kaiser», wärmt Jürg unseren Running Gag auf. Ganz andere Träume weckt kurz darauf der Lagh de Calvaresc, im Volksmund auch «Herzli-See» genannt. Kaum auszudenken, welchen Zulauf dieser perfekt herzförmige See hätte, läge er nicht fernab von Seilbahnen, rund tausend Höhenmeter über dem Tal. So aber verteilt sich nur eine Handvoll Tagesgäste am Ufer. Wirklich herzerwärmend ist das Bad nicht: Die Zeheninspektion vermeldet zwölf Grad, das Vollbad eher zehn. Trotzdem waschen wir uns die Mühsal der Königsetappe ab, denn bis zur Capanna Buffalora ist es ohnehin nicht mehr weit.
Die einzige bewartete Hütte entlang des Sentiero ist ein topmodernes Kleinod: 1980 wurde die Hütte am alten Standort zerstört, der Neubau 2013 sogar nochmals saniert und mit einem ausgeklügelten Energiesystem versehen, das Wasserkraft und Abwärme aus dem Brotofen kombiniert. Modern ist auch das Bewirtungssystem: Alle zwei Wochen lösen sich die acht Hüttenwart-Teams ab – organisiert über den 350 Mitglieder starken Trägerverein ASAC, die Associazione Sentieri Alpini Calanca. Gerade absolvieren Therese und Lukas ihre Premiere als Wirtspaar. Ihre Leidenschaft und Motivation ist greifbar: Durch sein Spektiv, das auf den Ganan-Kessel gerichtet ist, hat Lukas unseren Weg schon vor Stunden verfolgt. Therese stellt dann pünktlich zur Ankunft ein Tablett mit heissem Tee und eiskaltem Panaché auf die Terrasse und verrät uns dann die beste Badestelle am nahen Hüttensee. Abends verwöhnen die zwei ihre Gäste mit Gemüsesuppe, Penne con sugo, Krautsalat und Pannacotta. Ob der Weg gut besucht sei? «Allgemein zieht der Weg an, seit zwei Jahren sind immer mehr Leute auf dem Sentiero unterwegs», berichtet Lukas. Überlaufen kann er kaum sein, denn auf Michis Frage, ob der weiss-rot-weiss markierte Weg nicht eher schon T4-Passagen aufweise, meint er nüchtern: «Wenn der Weg weiss-blau-weiss markiert wäre, würden noch viel weniger kommen.»
Vom Ende eines Ohrwurms
Vor dem Frühstück los und garantiert den frühen Bus in Santa Maria schaffen – Proviant haben wir ja noch? Diesen Plan verwerfen wir sofort, als der Duft von Thereses frisch gebackenem Hefezopf durch die Stube wabert. Wir trödeln dennoch nicht mit dem Aufbruch, denn auch wenn die Königsetappe geschafft ist: Ein Auslaufen ist der Schlusstag nach Santa Maria sicher nicht. Zwar sind die Wege etwas «schneller» und weniger plattig als am Vortag. Aber der Abstieg von der Cima de Nomnom gleich hinter der Buffalorahütte ist der technisch schwierigste Teil der Tour. Perfekt instandgehaltene Eisenleitern führen von der Scharte in beeindruckender Wegführung nach unten. «Ich komme mir vor wie ein Steinbock», meint Susanna auf den ausgesetzten Bändern. Auf festerem Boden angekommen, ist die Scharte schon kaum mehr erkennbar, und wir testen die steilen Flanken auf ihre Echo-Tauglichkeit: «Saaanta Maaaria!»
Oben bleiben: Der Sentiero
Alpino bleibt stets hoch über dem
namensgebenden Val Calanca.
Noch zwei Kessel gilt es, in bewährter Manier auszulaufen. Unterhalb des Piz de Groven lässt ein letztes Tobel mal wieder den Wunsch nach einer Hängebrücke aufkommen. «Oder zumindest eine Tyrolienne!», meint Michi. Aber insgeheim freuen wir uns über die Ursprünglichkeit und Ruhe und nehmen gern in Kauf, dass wir in einer Dreiviertelstunde nur rund 100 Meter Luftlinie zurücklegen. Den frühen Bus haben wir schon aufgegeben, als das Gelände einfacher wird und wir unter die 2000-Meter-Marke ab- und in traumhafte Lärchenwälder eintauchen. Flott marschiert es sich über die (leider trockene) Alp di Fora, ehe wir am Pian di Renten den 1000-Höhenmeter-Sturzflug ins Tal beginnen. Eine breite Forstschneise kündigt Zivilisation an, Santa Maria war plötzlich nicht mehr «unendlich weit», wie uns Roland Kaiser seit Tagen weismachen will. Und als wir bei gut 30 Grad Mittagshitze am Kirchplatz einlaufen, bleibt mit 17 Minuten bis zur Busabfahrt sogar noch Zeit für zwei kleine Panachés, die uns vom hartnäckigen Ohrwurm und den heissgelaufenen Fusssohlen endgültig befreien. Einhelliges Fazit zum Sentiero Alpino Calanca: Gerne wieder – mit weniger Proviant und mehr musikalischer Abwechslung.
Etappen von Nord nach Süd
- S. Bernardino Hospiz (Passhöhe) bis Rifugio Pian Grand (6. 0 h)
oder San Bernardino Dorf bis Rifugio Pian Grand (3 3/4 h)
- Rifugio Pian Grand bis Rifugio Ganan (5 3/4 h)
oder an einem stück bis Capanna Buffalora (8. 0 h)
- Rifugio Ganan bis Capanna Buffalora (3. 0 h)
- Capanna Buffalora bis St. Maria (7 1/2 h)
Mehr Details unter sentiero-calanca.ch
Fotos: Jürg Buschor
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