Rund 435'000 Besucher schaufelt die Säntisbahn alljährlich auf den höchsten Gipfel im Alpstein, wo sie auf dem Laufsteg für Halbschuhtouristen zwischen Systemgastronomie und Selfie-Panorama-Points pendeln. Nicht gerade das, was man ein alpinistisches Sehnsuchtsziel nennt – zu viel Trubel, zu wenig «Erhabenheit» am Gipfel. Dieses Schicksal teilt der Säntis mit anderen, bestens per Bahn erschlossenen Gipfeln wie Rigi, Pilatus oder Moléson.
Doch der Schein trügt, denn auch an solchen Bahnbergen gibt es traumhafte, teils sogar einsame Wege, auf denen man all das auskosten kann, was Bergsteiger wollen – mit dem kleinen Bonus, sich nach vollbrachter Tat im Touristentrubel am Gipfel noch ein Stück mehr als «echter» Bergsteiger zu fühlen.
Teil eins ist geschafft:
Nach dem Steilgras zum
Auftakt flacht hinter der
«Haifischflosse» die Route
kurzzeitig ab.
Am Säntis erfüllt diese Kriterien ohne Zweifel die Chammhaldenroute. Christa und Stefan, meine heutigen Begleiter aus dem Zürcher Oberland, haben noch nichts von ihr gehört. Über kurz oder lang könnte das Renommee der Route allerdings überregional steigen. Denn 2023 hat der SAC seine Wanderskala nach elf Jahren überarbeitet.
Unter anderem wurden die Beispieltouren für den jeweiligen Schwierigkeitsgrad «durch neue, zeitgemässere Beispiele ersetzt», so der SAC. Nun darf in der neuen Skala für den Grad T5 («oft weglos, raues Steilgelände, einfache Kletterpassagen») die Chammhaldenroute auf den Säntis gelten, neben den Anstiegen zum Bristen, der Silberhornhütte oder von Süden auf das Zervreilahorn.
Im Mittelteil der Chammhaldenroute
sitzt man für
die Gondelinsassen auf dem
Präsentierteller.
Grund genug, die neue T5-Referenztour genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir lassen die Bahnstation an der Schwägalp hinter uns und laufen ostwärts der Sonne entgegen, die bald hinter den Chammhalden erstmals durchblinzelt. Keine Beschilderung ist hier vorhanden – wer die Route vorhat, muss selbst wissen, was er tut und wo er hinwill. Und auch berücksichtigen, dass er sich die ganze Zeit in einem Jagdbanngebiet bewegt - diese Verhaltensregeln sind daher einzuhalten.
Über steiles, teils kniehohes Gras suchen wir uns den besten Weg hinauf zum Grat, auf dem ein Steinhag verläuft und einen wunderbaren Blick über das Appenzeller Land bis zum Bodensee bietet. Der Grat endet an einem grossen Felsblock am Fusse der Wand – hier findet sich die erste, orangefarbene Markierung der Tour. Da der Weg nicht unpopulär ist, wird man aber immer auch auf mehr oder weniger deutliche Wegspuren stossen. Beherzt steigen wir druch eine grasdurchsetzte Rampe hinauf auf einen Absatz. Im Zickzack geht es weiter steil durch Gras- und leicht plattiges Schrofengelände empor bis zu einem Felszahn, der einer Haifischflosse gleicht.
«Wer den Grad T5
beherrscht, findet hier
die schönste seilfreie
Route auf den
Säntis!»
Fast allein am Seilbahnberg
Etwas weiter oben flacht das Gelände kurzfristig etwas ab. Die Wiesen laden zum Verschnaufen ein, zumal rechterhand die Säntisbahn pendelt, von deren Insassen man sich bewundern lassen könnte. Vorbei ist es aber noch nicht: Rechtsquerend erreichen wir eine Gedenktafel. Oberhalb traversieren wir zur Schlüsselstelle der Tour, einem ausgesetzten Spreizschritt. Manche Beschreibungen erwähnen hier ein Fixseil, doch im Juni 2023 war davon nichts zu sehen. Aber die Griffe sind gut, mit beherztem Zupacken ist die Stelle bald geschafft.
Links: Das steile Schrofengelände
ist typisch für die
Chammhalden – den Grad T5
sollte man draufhaben. Rechts: Zugabe: Die Schlüsselstellen
des Nordostgrats
zum Girenspitz sind definitiv
kein Wandergelände mehr.
Spätestens hier sollte der Helm auf dem Kopf sitzen, und obwohl der Fels grösstenteils recht fest ist, schadet es nicht, voransteigenden Partien etwas Vorsprung zu lassen. Über Rinnen und Rampen, immer im zweiten Grad, immer mit fantastischem Tiefblick – es ist eben eine Tausend-Meter-Wand – erreichen wir schliesslich den Hüenerbergsattel.
Hier ist die Chammhaldenroute eigentlich zu Ende, und man könnte unkompliziert auf den Säntis-Normalweg einfädeln, welcher von der Rossegg zum Blauschnee hochzieht. Wir allerdings packen Gurte und Seil aus, um noch den Nordostgrat auf den Girenspitz anzuhängen.
Die Genusskletterei geht nicht über den dritten Grad hinaus und ist die perfekte Ergänzung zur Chammhaldenroute. Am Gipfel des Girenspitz können wir den Menschenauflauf gegenüber am Säntis bereits sehen, während wir bis hierher nur vier Menschen getroffen haben – und das an einem schönen Junisonntag! Einige Schritte hinunter in die Blauschneelücke, dann stehen auch wir in der Völkerwanderung an der «Himmelsleiter», dem finalen Klettersteig hinauf zum Säntis.
Der ganz normale
Trubel: tierischer Stau im
Schlussanstieg zum Säntis.
Stau an der «Himmelsleiter»
Und schon geht’s los: Zwei Hunde im Abstieg sorgen mit ihrem Geschirr für einen grossen Stau, mit viel Zureden und Guetzlis geht es dann doch weiter. Ein erschöpfter Japaner bittet mich um meinen Eispickel, der ihm hier, im staubtrockenen Fels, wohl kaum weiterhelfen wird. Ganz oben badet sich dann die Influencer-Connection in ihren Handykameras, aber irgendwo finden auch wir ein kleines Plätzchen.
Es ist eine andere Welt, aber weil wir das vorher wussten, haben wir schon am Girenspitz Mittag gemacht, uns zur Tour gratuliert und uns mental vorbereitet auf den Gipfel. Und, Hand aufs Herz: Die Bahn haben wir für den Abstieg dann dankend in Anspruch genommen. Unterm Strich ist die Chammhaldenroute für alle, die den Grad T5 beherrschen, sicher die schönste seilfreie Tour auf den Säntis!
Zwei Welten: Den Girenspitz
haben wir für uns,
am Säntis im Hintergrund
werden die Rastplätze am
Gipfel eng.
Übrigens: Der SAC macht in seiner neuen Wanderskala keine Angaben mehr zur erforderlichen Ausrüstung. Kein Wunder, lässt sich doch nicht jede T5-Tour über denselben Kamm scheren. Für die Chammhalden lässt sich sagen: Ein Helm im Gepäck schadet nicht, ebensowenig Pickel und Steigeisen, sollte auch nur der kleinste Zweifel über Altschneefelder bestehen.
Bahnberge neu entdecken
Wer in der Chammhaldenroute zum Säntis auf den Geschmack gekommen ist, wird auch an anderen «Bahnbergen» der Schweiz fündig. Hintergrundinfos und genaue Beschriebe zu den vier Tourenideen findest du im SAC-Tourenportal, wir haben sie dir unten verlinkt.
1. Rigi: Über die «Arschbaggen»
Wie viele Bahnen führen auf die Rigi? Gar nicht so einfach zu beantworten – neun Stück sind es, wenn das ganze Massiv mitgezählt wird. Mit einer davon, nämlich der Bahn zur Seebodenalp, lässt sich der berühmte Anstieg über die «Arschbaggen» verkürzen. In der Nordwestflanke der Rigi führt der Steig zum Ronenboden und dahinter über die «arschglatten» Nagelfluh-Aufschwünge, die teils mit Ketten entschärft sind.
- Schwierigkeit: T5- (SAC Wanderskala)
- Mehr Infos: Ganze Tour auf dem SAC Tourenportal
2. Pilatus: Galtigengrat
Gleich gegenüber von der Rigi machen immerhin zwei Bergbahnen den Pilatus der breiten Masse zugänglich. Kletterer fahren nur bis Ämsigen und steigen dann über die Mattalpplatte zu den vier Türmen des Galtigengrates. Nach oben hin immer schwieriger wird dieser Zentralschweizer Kletterklassiker, vom Gipfel des Rosegg geht es auf einem T3-Wanderweg hinüber zum Kulm.
- Schwierigkeit: 4b (Frz. Kletterskala)
- Mehr Infos: Ganze Tour auf dem SAC Tourenportal
3. Diavolezza: Senda dal Diavel
Der Munt Pers ist selbst nicht per Bahn erschlossen, aber der Weiterweg zur Diavolezza ist nur ein Katzensprung. Von der Talstation steigt man auf zum Lej da las Collinas, wo der Einstieg in den teils recht steilen Nordostgrat liegt, der sich durchaus etwas in die Länge zieht. Den zweiten Grad UIAA übersteigt der blau-weiss markierte Grat nicht, die Schlüsselstellen sind mit Ketten entschärft. Hinüber zur Diavolezza geht es auf dem Wanderweg, wer will, hängt vor der Talfahrt noch den kurzen Klettersteig auf den Piz Trovat an.
- Schwierigkeit: T5 (SAC Wanderskala)
- Mehr Infos: Ganze Tour auf dem SAC Tourenportal
4. Moléson: Via ferrata Le Moléson – Le Pilier
Der Bahnberg im Greyerzerland (2002 m) mit dem feinen Fernblick zu Montblanc, Jungfrau, Genfersee und Co. lässt sich nicht nur per Bahn erklimmen. Gleich zwei schöne Klettersteige führen auf sein Haupt – einmal durch die Nordwand, und einmal über den Nordostpfeiler, in dem man sich von den Bahngästen bewundern lassen kann. Gute Geher machen beide an einem Tag.
- Schwierigkeit: K4 (Hüsler-Skala)
- Mehr Infos: Ganze Tour auf dem SAC Tourenportal
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