Die Internationale Sportartikelmesse hat sich vom Corona-Einbruch noch nicht wieder ganz erholt, führt mit Fug und Recht aber weiterhin den inoffiziellen Titel «Leitmesse», auch im Bereich Outdoor- und Bergsport. Wer Ende November – wie etliche namhafte Hersteller auch – nicht in München zugegen war, kann sich anhand der vergebenen ISPO Awards ein Bild davon machen, welche Innovationen gerade preisverdächtig sind.
Es folgen Zitate aus den Pressetexten der ausgezeichneten Produkte im Bereich «Mountaineering & Hiking»: Von einem Schlafsack ist da die Rede, der «ultraleicht und äusserst strapazierfähig» sei, von einer Jacke, die «vor allem ihr minimales Gewicht in Kombination mit höchster Funktionalität von anderen unterscheidet», von einem Unterhemd aus einem Stoff, der «maximale Wärme bei minimalem Gewicht und ein angenehmes Gefühl auf der Haut» biete. In einer weiteren Schlafsack-Laudatio bestätigt die Jury schliesslich das Gefühl, das sich beim Leser längst breitgemacht hat: «Aussergewöhnliche Innovationen sind erforderlich, um dem Trend und der Kategorie Lightweight interessante Produkte beizusteuern.»
Wer nun stutzig wird und glaubt, dass weiterer Fortschritt nur noch in Form heliumgefüllter Karabiner möglich ist, dem sei Entwarnung gegeben: Wenige Dinge haben im Bergsport mehr Tradition als eine Produktwerbung, die vermeintlich Gegensätzliches in Einklang bringt. Schon 1930 bewarb ein Dresdner Sporthaus seinen «Akademikerpickel » mit dem Slogan «rassig – leicht – wuchtig», wobei jeder, der schon einmal ein Stück Metall im Eis versenkt hat, zum Thema «leicht» und «wuchtig» seine eigene Meinung haben wird. Aber zurück zur Sportartikelmesse ISPO. Viel aufschlussreicher als die jährlich mehr oder minder identischen Versprechen war ein Satz, der scheinbar beiläufig im Juryurteil einer weiteren preisgekrönten Jacke zu lesen war: «Die Zielgruppe für die Jacke ist der moderne Alpinist, der bei seiner Ausrüstung ein paar Gramm einsparen möchte, sich aber gleichzeitig bei jedem Wetter geschützt fühlen will.»
Sparen bei vollem Schutz, oder: Aufstieg ohne Mühe, Genuss ohne Reue, Gewinn ohne Verzicht – das ist ganz offensichtlich die Richtschnur für heutigen Leichtbau im Bergsport. Aber geht diese Rechnung auch auf? Welche positiven, welche negativen Entwicklungen hat der Megatrend «Lightweight» in den letzten Jahren und Jahrzehnten der Bergsportbranche beschert? Anlässlich 50 Jahre Bächli Bergsport haben wir zwei unserer Produkteinkäufer zu diesem Thema befragt.
Von Gamechangern und Meilensteinen
Matthias Schmid, Einkäufer für den Bereich Hardware, bestätigt zunächst den Eindruck, wonach die Kunden in den letzten Jahren verinnerlicht hätten, dass am Berg jedes Gramm zähle – womöglich mehr als alles andere. «Jeder und jede hat diesbezüglich wohl schon schlechte Erfahrungen gemacht», meint Schmid mit Blick auf überzogene Erwartungen. «Ein Rucksack, der nicht bequem ist, macht kaum Sinn, auch wenn er noch so leicht ist.» Dasselbe gelte für den Produktbereich Ski: «Ein ultraleichter, aufstiegsorientierter Ski wird im Aufstieg immer punkten können», so Schmid, und fragt rhetorisch: «Doch kann dieser auch noch bei der Abfahrt mit schwerem Rucksack überzeugen?» Solche Erwartungen zu dämpfen, zu korrigieren und jedem Kunden das zu ihm passende Produkt zu empfehlen, stehe daher im Fokus von nahezu jedem Kundengespräch.
Auch Marcus Liss, der den Bereich Textileinkauf verantwortet und davor selbst in verschiedenen Produktkategorien im Verkauf tätig war, sieht das Streben nach «Lightweight» als grossen Innovationstreiber der letzten Jahre. Er betont aber auch die hohen Ansprüche an Sicherheit, gerade im (hoch-)alpinen Bergsport: «Unser Kunde erwartet von seiner Ausrüstung viel und macht ungern Abstriche bei der Haltbarkeit, nur damit etwas ein paar Gramm leichter ist», so Liss.
Grundsätzlich einig sind sich Schmid und Liss, dass in den letzten Jahrzehnten immense Fortschritte in Sachen Gewicht gemacht wurden. «Beeindruckend», so Schmid, «ist die Entwicklung bei den Karabinern. Diese sind zuverlässig wie eh und je, benötigen dafür aber deutlich weniger Metall. » Und den Schritt vom Hanf- zum modernen Kernmantelseil, der sich im Breitensport bald nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog, hält Schmid für einen «Meilenstein des Bergsports» – hier ermöglichte der Kunststoff nicht nur ein leichteres, sondern auch deutlich sichereres Produkt. Auf ein paar Jahre später datiert Liss «den grossen Gamechanger im Textilbereich», als man von Baumwolle & Co. auf Polyester und schliesslich funktionelle Membranen wechselte. «Das war die Geburtsstunde der heutigen Outdoor-Industrie, die fast genau mit unserem 50-jährigen Jubiläum zusammenfällt.»
Als Beispiel für grosse Entwicklungssprünge in diesem Jahrtausend hebt Schmid besonders den Bereich Tourenski hervor. Moderne Skitourenschuhe seien kaum noch mit ihren Vorgängern vergleichbar, seit vor rund 15 Jahren Materialien wie Grilamid oder Carbon Einzug in den Schuhbau hielten und das Segment der «aufstiegsorientierten» Tourenskischuhe begründeten. Und dann die Bindungen: «Es ist noch keine zehn Jahre her, als wir zum ersten Mal mehr Pin-Bindungen als Rahmenbindungen verkauft haben. Heute könnte man es sich gar nicht mehr anders vorstellen», schildert Schmid den Siegeszug des Bindungssystems, das einst nur im Rennbereich bei Leichtbaufreaks Anklang fand.
Der Scarpa Denali XT (links) war um die Jahrtausendwende ein beliebter Schuh, besonders bei
abfahrtsorientierten Freetourern (was man damals noch nicht so genannt hätte). Je nach Schuhgrösse
brachte er im Paar zwischen dreieinhalb und vier Kilo auf die Waage. Pin-Inserts gab es
nicht. Sein Nach-Nach-Nachfolger, der 4-Quattro SL von Scarpa, schlägt anno 2023 mit deutlich
weniger als drei Kilogramm zu Buche und dürfte den Denali in Sachen Steifigkeit und Abfahrtsspass
um Längen schlagen.
Über den Berg oder noch im Aufwind?
Gerade im Skibereich habe die Vielzahl an Innovationen aber auch seine Schattenseiten, findet Marcus Liss, der selbst im Skiverkauf tätig war. Zum einen die Grammjagd ohne Kompromisse: «Dünne Kanten und dünne Beläge lassen die Reklamationsrate ansteigen, das ist einfach so», konstatiert Liss. «Manche Hersteller gehen da eher ans Limit als andere – aber am Ende sind wir dafür zuständig, dass der Kunde ein funktionierendes Produkt hat.» Zum anderen nennt er die Abstimmung von Ski, Bindung und Schuh. Heute sei es problemlos möglich, im Onlineshop nach dem Kompensationsmotto einen sehr breiten Ski mit einer filigranen Rennbindung und einem leichten Tourenskischuh zu kombinieren.
«Das ist ein Trend der letzten Jahre», findet Liss, «aber das Fahrgefühl ist er eigentlich nicht wert.» Liss prognostiziert für diesen Bereich die Systemintegration, also Bindung, Schuh und Ski perfekt passend zueinander. Momentan denke jeder Hersteller noch in seiner Markenwelt. «Das macht es in der Kombination schwieriger.» Die schwarzen Schafe, die es in allen Produktsegmenten gibt, sortieren Schmid, Liss und ihre Kolleginnen und Kollegen vom Bächli Bergsport Einkauf vorab aus. «Es ist eher selten, dass Produkte so leicht sind, dass die Sicherheit leidet», so Schmid. «Hier würden wir aber definitiv die Grenze ziehen und ein solches Produkt nur bedingt in unserem Sortiment anbieten.»
Aus dem Textilbereich berichtet Liss vom Trend der vergangenen Jahre, vom üblicherweise dreilagigen Laminat einer Funktionsjacke einzelne Lagen und damit Gewicht einzusparen. «Es gab sogar 1,5-Lagen-Laminate, bei denen die Membran direkt auf ein Trägermaterial aufgebracht wurde. Die sind wegen ihrer geringen Haltbarkeit aber mehr oder weniger wieder verschwunden vom Markt», schildert Liss. Eine ähnliche Entwicklung diagnostiziert sein Kollege Matthias Schmid im Bereich der Seile.
«Bei den Seilen für alpine Touren geht der Trend aktuell wieder etwas in Richtung dickere Seile. 9 bis 9,5 mm bewähren sich gut in alpinem Gelände. Bei den ultradünnen Seilen war der Verschleiss letztlich doch zu hoch und auch die Sicherheitsreserve etwas zu knapp.» Den Experten Liss und Schmid fällt jeweils auch eine Sackgasse in ihren Produktbereichen ein, in denen die Grenzen des Leichtbaus mehr oder weniger erreicht sind: Im Klettersport etwa bei Schlaghaken und Hammer, im Textilbereich bei der Naturdaune. «Da ist mit Imprägnierung und allerfeinster 1000-cuin-Auslese das Maximum ausgereizt», glaubt Liss, «und gleichzeitig kommen synthetische Daunen immer näher.»
Und wo geht die Reise hin in Sachen Leichtbau? Textileinkäufer Liss glaubt, dass das Thema Lightweight seinen Zenit langsam erreicht habe, und zwar aus Gründen der Nachhaltigkeit. «Niemand akzeptiert Löcher nach drei oder vier Tagen am Berg, nur weil die Jacke 200 Gramm leichter ist», so Liss. Der alpinistische Kunde schaue schon aufs Gewicht, «aber der Topseller bei Bächli war traditionell immer die robusteste Dreilagenjacke», schildert Liss – und zeichnet damit ein fast schon beruhigend konträres Bild zum eingangs zitierten «modernen Alpinisten », der jedes Ausrüstungsstück auf die Goldwaage legt.
Für Hartwarenfachmann Schmid ist die Reise noch nicht zu Ende: «Der Bergsport war immer schon im Wandel. Neue Materialien oder Konstruktionen bieten auch neue Chancen. » Aber auch Schmid rät zu gesunder Skepsis, wenn ein besonders leichtes Produkt auch in allen anderen Disziplinen punkten soll. «Das beste Material muss nicht für jeden Bergsportler zwingend das leichteste sein.» Und genau dort liegt die wohl wichtigste Grenze in Sachen Leichtbau im Bergsport: beim Menschen selbst.
Die «gute alte Zeit» oder heute ist alles leichter = besser?
In Sachen Bergsportausrüstung war früher sicher nicht alles besser. Noch vor wenigen Jahrzehnten stand für die meisten alpinen Zwecke genau ein Produkt zur Auswahl, das einer entsprechend breiten Anwenderschaft dienen musste. Erst die moderne Kunststoffverarbeitung ermöglichte Annehmlichkeiten wie reissfeste Kernmantelseile, wind- und wasserdichte Dreilagenjacken oder hydrophob behandelte Daunenfüllungen, die uns am Berg das Leben leichter machen.
Die gute Nachricht für Bergsportler: Dank Kevlar, Aramid, Carbon, Grilamid, Dyneema & Co. specken Schuhe, Gurte, Rucksäcke und viele andere Ausrüstungsgegenstände Jahr für Jahr ab. Aber: Bisweilen gehen mit den Pfunden (bzw. Gramm) auch Robustheit und Vielseitigkeit verloren. Der Einsatzbereich von Ultraleicht-Produkten wird immer schmäler, ihre Lebensdauer kürzer. Ob der Lightweight-Trend damit seinen Zenit erreicht hat, bleibt abzuwarten.
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