Nahe Grenoble, im Dorf Crolles, steht hinter dem Ortsschild eine weitere Ortstafel. «Petzl» heisst das Dorf im Dorf. Es hat sogar eine eigene Strasse, die «Rue de Fernand Petzl». Diese Strasse führt zu einem etwas speziellen Fabrikgelände. Da steht ein Betonturm mit eigentümlich schrägen Dachflächen, daneben ein schmales, praktisch fensterloses Gebäude: Petzls Test- und Ausbildungsanlagen. Rundum reihen sich weitere graue Hallen, auch zwei Holzhäuser mit umfassenden Veranden – ein wilder Mix aus verschiedenen Bauformen. Ein Fabrikgelände, welches nicht auf dem Reissbrett entworfen wurde, sondern den Bedürfnissen entsprechend Gebäude um Gebäude erweitert wurde. Dieses «Village Petzl» ist der Hauptort des Familienbetriebes, der heute über tausend Personen beschäftigt.
Im zentralen Bürogebäude haben wir uns mit Paul Petzl verabredet, dem Eigentümer und Mitbegründer des Unternehmens. Selten nimmt er noch Anfragen für Interviews wahr. Doch für das fast gleichaltrige Familienunternehmen Bächli macht er gerne eine Ausnahme. Wir treffen uns im Showroom, inmitten von Stirnlampen, Eispickeln, Karabinern, Klettergurten, Helmen und technischem Sicherungsmaterial für die Höhenarbeit. Voller Elan und mit einem gewinnenden Lachen betritt der heute 74-Jährige das Zimmer und streckt die Hand aus: «Enchanté, je suis Paul.» Das Interview, das im Juni 2023 stattfand, beginnt mit einem Missverständnis.
Bächli: Dein Mitarbeiter hat uns die Gebäude gezeigt, die Testanlage, das Warenlager und die Fertigungsstrassen, in denen Helme und Sicherungsgeräte von Hand zusammengebaut werden. Wir haben etwas von Petzl gesehen.
Paul Petzl: Was, habt ihr schon das «Etwas» gesehen? (Er schaut fragend zu seinem Mitarbeiter.)
Ah, handelt es sich um die nächste, grosse Erfindung? Die haben wir noch nicht gesehen.
Es kommt im Juni 2024 auf den Markt. Ich denke, wir können darüber sprechen. (Der Mitarbeiter bringt aus einem Hinterzimmer eine kleine Schachtel und packt das Gerät aus.)
Das sieht aus wie ein Grigri.
Tatsächlich ist es eine Weiterentwicklung des Grigri. Es handelt sich aber um einen so grossen Schritt, dass es einen eigenen Namen hat. Es heisst Neox und wird als eigenständiges Produkt neben dem Grigri auf den Markt kommen.
Bis zu zehn Jahre
Entwicklungsarbeit stecken
in einem Sicherungsgerät
– es muss so logisch und
sicher wie möglich sein. (Foto: Bernard van Dierendonck)
Was ist denn neu an diesem Neox?
Im Innern des Gehäuses wurde die Klemme des Grigri durch eine bewegliche Rolle ersetzt. Wenn wir nun jemanden beim Vorsteigen sichern, dann ist das Seilausgeben sehr einfach. Das lästige Blockieren fällt weg. Damit haben wir das beste Sicherungsgerät auf dem Markt nochmals erheblich verbessert. Das ist ein schlaues Ding – ich bin sehr stolz darauf.
Wie kommst du auf so eine Erfindung? Stehst du unter der Dusche und plötzlich blitzt die Idee auf?
Mich fasziniert das Innovative, das Weiterentwickeln von Ausrüstung. Wenn es ein Problem zu lösen gibt, dann interessiert mich das brennend. Die Idee zum Neox ist mir auf einer Klettertour mit einem befreundeten Bergführer gekommen. Da dieser sowieso nie stürzt, probierte ich ein neues Sicherungsgerät aus, und zwar das Revo von Wildcountry. Bereits nach der ersten Seillänge war ich begeistert und gleichzeitig schockiert: Es war komfortabler zu bedienen als unser Grigri! Als Unternehmer werde ich schnell paranoid und sehe vor mir, wie uns die Konkurrenz grosse Marktanteile wegnimmt. Wenn eine andere Firma ein besseres Produkt auf den Markt bringt, dann ist das für mich unerträglich.
Nach der Tour sprach ich sofort mit unserem Ingenieurteam. Sie beruhigten mich und zeigten mir die Schwachstellen des Konkurrenzproduktes. Doch der Ehrgeiz war geweckt. Wir dachten das Prinzip des Gerätes weiter und haben zu guter Letzt das Neox daraus entwickelt.
Wie viel Zeit braucht es, bis so ein Gerät marktreif ist?
Mein Vater Fernand Petzl – zusammen mit ihm baute ich unsere Firma auf – sagte: Ein Prozent ist Inspiration und 99 Prozent sind Transpiration.
Ein Prozent ist wenig!
Es ist wirklich unvorstellbar, wie viel Arbeit in der Entwicklung steckt. Beim Grigri hat es ganze zehn Jahre in Anspruch genommen. Gerade bei einem Sicherungsgerät sind wir auch sehr vorsichtig. Denn wir versuchen es von Anfang an so logisch und sicher wie möglich herzustellen.
Petzl ist bekannt für seinen Innovationsgeist. Was steckt dahinter?
Eine Geschichte von meinem Grossvater: Er emigrierte aus Österreich nach Frankreich. Als Einwanderer wurde er zuerst zum Dienst in der Fremdenlegion verpflichtet. Anschliessend gründete er mehrere Firmen, die aber allesamt scheiterten. So verdiente er den Lebensunterhalt als Putzkraft in einer Elektronikfirma. Beim Putzen sah er die Pläne für einen Schalter und dachte sich: Das kann so nie funktionieren. Am Feierabend zog er sich in seine Werkstatt zurück und schuf aus Holz ein Modell eines solchen Schalters, wie dieser seiner Ansicht nach funktionieren könnte. Dieses Modell stellte er beim nächsten Putzeinsatz den Ingenieuren auf den Zeichentisch. Beeindruckt zeigten diese das Modell dem Firmenchef, und bald darauf wurde mein Grossvater als Entwickler in der Firma angestellt. Auch mein Vater tüftelte als Höhlenforscher an neuen Steigklemmen und Abseilbremsen. Das Erfinden steckt in unserer DNA.
Fühlst du dich noch mit ihnen verbunden?
Mit allem, was wir tun, bin ich im Geiste mit meinem Grossvater, meinem Vater und natürlich auch mit meiner Mutter verbunden. Ich spreche mit ihnen: «Es wäre nett, wenn ihr unsere neue Entwicklung sehen könntet.» Diese Verbundenheit ist wichtig in unserer kleinen Familie, in der wir alles eigenhändig aufgebaut haben.
Im Zeitalter der Plastikbergschuhe:
aus dem
Petzl-Katalog 1987, links
Paul Petzl. (Foto: Archiv Petzl)
Petzl ist genauso alt wie Bächli Bergsport. Vor 50 Jahren hast du zusammen mit deinem Vater die Firma gegründet. Stimmt der Eindruck, dass dein Vater eher der Tüftler war und du vielmehr der Geschäftsmann bist?
Wie wir zusammenspielten, zeigt die Entwicklung der Stirnlampe. In jungen Jahren diente ich als Gebirgsjäger in der Armee. Wir übernachteten öfters in Iglus. Licht gaben uns zwar auch Stirnlampen, nur steckten deren Batterien in der Jackentasche. Das Kabel von der Batterie zur Lampe war dabei immer im Weg – wie konnte man nur so etwas Idiotisches erfinden! An einem freien Wochenende fragte ich meinen Vater, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, auch die Batterie am Kopf zu tragen. Gesagt, getan, noch über Nacht setzte er meine Idee um. Im nächsten Biwak testete ich das neue Modell. Es rutschte mir aber immer wieder über die Augen. So befestigten wir noch ein Band, welches nicht nur rundum, sondern auch über den Kopf verlief. Die erste richtige Stirnlampe, damals noch mit grosser Flachbatterie, war geboren. Wir stellten davon sofort einige Hundert her und begannen mit dem Verkauf.
Die Geschichte erzählt, dass ihr für die Bänder die elastischen Träger von BHs verwendet habt.
Das dachte ich auch, es stimmt aber nicht, wie mich meine Frau Catherine aufklärte. Sie war für die Beschaffung der Bänder zuständig und kaufte diese in den Dessous-Geschäften der gehobenen Gesellschaft. Damals waren Strapse en vogue und die Bänder dieser Reizwäsche eigneten sich besonders gut für unsere Lampen. Davon hatte ich wirklich keine Ahnung.
Dein Vater war begeisterter Höhlenforscher, doch dich und deinen Bruder nahm er nie zu diesen Höhlenexpeditionen mit.
Ich vermute, dass er mit meiner Mutter eine Abmachung getroffen hatte. Denn sie fand diese Höhlenleidenschaft viel zu gefährlich und wollte nicht, dass ihre Kinder dereinst im dunklen Untergrund enden würden.
Wie sieht es mit deinen beiden Söhnen Olivier und Sébastien aus? Konntest du ihre Leidenschaft für den Outdoorsport wecken?
Darin war ich nicht sehr erfolgreich. Ich arbeitete 60 bis 70 Stunden die Woche und hatte für die Familie nur wenig Zeit. Gelegentlich habe ich sie damals zum Klettern mitgenommen. Hochtouren hingegen fand ich selbst zu riskant. Ich wollte nicht, dass sie damit beginnen. Beide sind heute sportlich, sind begeisterte Läufer und haben die verschiedenen alpinen Disziplinen ausprobiert – dies auch, um sie besser zu verstehen.
Der junge Paul
Petzl demonstriert ein
Abseilgerät. (Foto Archiv Petzl)
Für die Firma Petzl konntest du deine Söhne aber begeistern. Abgesehen von deiner Frau und deinem Bruder arbeiten auch sie in leitender Funktion bei Petzl. Sind die beiden gar die neuen Chefs?
Die Gesamtführung liegt immer noch bei mir. Sébastien ist verantwortlich für die Forschungs- und Entwicklungsabteilung, Olivier leitet das Marketing und den Verkauf. Beides zentrale Abteilungen. Nächstes Jahr werde ich 75, und dann wird einer der beiden die Gesamtführung übernehmen. Ich werde aber Präsident des Verwaltungsrates bleiben.
Wie plant ihr die ...
Entschuldige, ich stelle hier die Fragen und beantworte sie gleich selbst.
Ach so? Vielen Dank. Dann hole ich mir eine Tasse Tee. Unterdessen läuft das Aufnahmegerät auf dem Tisch weiter.
(lacht) … die Übergabe findet auf verschiedenen Niveaus statt. Zentral sind mir die Wertvorstellungen und Antworten auf Fragen wie: Wie soll die Firma in zehn Jahren aussehen? Wie wird der Umgang mit dem Personal sein? Was will die Kundschaft von morgen? Selbst habe ich mir Petzl so erträumt, wie die Firma heute dasteht. Nun wollte ich von meinen Söhnen wissen, was denn ihre Petzl-Träume sind. In einem zwei Jahre langen, intensiven Austausch haben wir gemeinsam ein umfangreiches, internes Dokument erstellt.
Wird der Nachwuchs die Richtung der Firma ändern?
Unser Umfeld verändert sich immer schneller, die zentralen Werte unserer Firma bleiben aber in Marmor gemeisselt. Die Firma wird im Familienbesitz bleiben, wir nutzen niemanden finanziell aus, wir bleiben der Erforschung der Vertikalen verpflichtet.
Stellt der Vater sicher, dass es auch weiterhin nach seinen Vorstellungen läuft?
Im Gegenteil: Nach leidenschaftlichen Diskussionen habe ich mich jeweils zurückgezogen und meine Söhne haben die Zukunftsvision zusammen niedergeschrieben. Dies hat sie davon befreit, alles genau so zu tun, wie es sich der Vater wünscht. Ich kann aber sehr gut leben mit dem, was schlussendlich in dieser Vision festgehalten wurde. Die Übergabe ist für mich die schwierigste Aufgabe, die ich innerhalb von Petzl angegangen bin. Gelernt habe ich, dass man scheitern wird, wenn man alles sofort möchte. Auch wenn in Anbetracht meines Alters meine Zeit begrenzt ist, ist die Zeit doch zu meiner Freundin geworden. Es ist die Zeit, die alles arrangiert.
Gehört auch der Freiheitsbegriff zu den in Marmor gemeisselten Werten?
Ich dachte, dass man als Chef eines Unternehmens immer frei sei, dass mir niemand sagen würde, in welche Richtung ich zu gehen habe. Meine eigenen Spuren wollte ich hinterlassen. Diese Vorstellung stimmt aber nicht: Ich trage die Verantwortung für alle, die von diesem Unternehmen leben. Mit der Zeit realisierte ich, dass dieses Verantwortungsbewusstsein mir nie wirklich das Gefühl von Freiheit gegeben hat. Von der Zukunft erhoffe ich mir, bald ein bisschen freier zu sein.
Paul
Petzl und der jüngste Zuwachs
im Bereich Sicherungsgeräte,
das Neox. (Foto links: Bernard van Dierendonck, Produktbilder: Petzl)
NEOX
Petzl hat 2024 mit dem Neox eine für den Vorstieg optimierte Erweiterung des Grigri auf den Markt gebracht. Das Neox verfügt über eine bewegliche Rolle im Inneren, was ein flüssigeres Ausgeben des Seils im Vorstieg ermöglicht. Dabei wird die «klassische» Sicherungstechnik wie bei einem Tuber angewendet. Bei einem Sturz wird das Seil weiterhin durch einen Nocken blockiert, wodurch nur wenig Handkraft erforderlich ist. Der Ablasshebel ist ergonomisch gestaltet, und das Ablassen lässt sich gut dosieren.
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