Wir klettern senkrechte Leitern hoch, die Füsse
in Skitourenschuhen auf den Sprossen, die Hände am kalten Metall. Unser Ziel: die
Cabane de Bertol, die wie ein Adler im Horst über uns auf einem Felskopf sitzt. Wobei der Aufstieg diesmal leichter geht als sonst: Die ersten beiden Leitern erahnten wir nicht einmal. Auf Tourenski stiegen wir in der Aufstiegsspur über sie hinweg zum Skidepot – es liegt so viel Schnee wie selten.
Das Gegenstück zur filigranen
Spitze: Unterwegs zur Cabane
de Bertol, blicken Skitourer auf
den Mont Collon, der zuhinterst
im Val d’Arolla thront.
Minuten später stehen wir auf der Hüttenterrasse, in unserem Rücken die steilen Hänge des Val d’Arolla, von wo wir gekommen sind, vor uns die weisse Weite des Glacier du Mont Miné. Und rund um uns? Felszacken wie jene des Clocher de Bertol, der Dents de Bertol oder der Douves Blanches. Was wir indes nicht sehen, ist die Spitze, deretwegen wir hier sind: die Aiguille de la Tsa. Eine der schönsten Felsnadeln der Alpen, himmelwärts strebend, filigran. Und leichter zu erreichen als gedacht. Im Frühling gelangt man auf Tourenski bis an ihren Fuss und klettert danach in rund drei Seillängen auf ihren höchsten Punkt.
Winterbesteigung im Frühling
Alle, die bereits einmal in Arolla waren, haben die Nadel gesehen. Ebenso jene, die auf der klassischen Haute Route unterwegs waren. Dennoch kennen ihren Namen nur wenige. Ein Name übrigens, der aus dem Patois – dem lokalen, französischen Dialekt – stammt und nichts anderes heisst als: die Nadel der steinigen Weide in der Nähe der Gipfel. Dabei ist ihr Name, wie so oft, aus tieferen Lagen bergwärts gewandert. In den Flanken oberhalb von Arolla liegt La Tsa – die hochgelegene, steinige Weide; weiter oben findet sich der Glacier de la Tsa und über diesem schliesslich unsere Aiguille de la Tsa.
Als wir auf der Terrasse der Bertolhütte stehen, zweifeln wir jedoch für einen Moment an unserem Plan: Zwar scheint die Frühlingssonne gleissend hell, doch die Felszacken rund um uns sind tief verschneit. Wülste und Mäntel aus Neuschnee umhüllen sie, makellos weiss. Selbst der Hüttenwart schüttelt den Kopf, als er neben uns auf der Terrasse steht und um sich blickt: Statt des prognostizierten leichten Niederschlags habe die letzte Kaltfront 70 Zentimeter Neuschnee gebracht, erzählt er. Später wird MeteoSchweiz berichten, im Gebiet rund um Arolla sei in diesem Mai fast dreimal mehr Regen und Schnee gefallen als üblich.
Diese Zahlen kennen wir noch nicht, doch klar ist: Tags darauf werden wir es mit einer «Winterbesteigung» zu tun haben, auch wenn der Kalender etwas anderes sagt. Und ebenfalls klar ist: Jene Passage, die direkt hinter der Hütte über einen Steilhang zu einem Sattel führt, ist unpassierbar. Wie weisser Samt hängt der Neuschnee im Steilhang, was uns einen Umweg bescheren wird: Anstatt direkt aufzusteigen, werden wir wieder ein Stück in Richtung Arolla abfahren und weiter nördlich, über flachere Hänge, in den Col de la Tsa gelangen.
Vorerst aber setzen wir uns in der Cabane de Bertol an einen der Holztische. Die Stube scheint zu vibrieren – Geschirr klappert, Schüsseln dampfen, Gäste reden und lachen, auf jedem Stuhl und jeder Bank sitzt jemand. Es ist laut und gleichsam geborgen. Inmitten des Unterwalliser Hochgebirges ist die Hütte ein Hort der Wärme in einer Welt aus Gletschern, Firn und Fels, in der sonst nur der Wind und Wolken wohnen.
Im kreischenden Porzellan
Dass Alpinisten das Gebiet bereits früh erschlossen, erstaunt auf den ersten Blick. Bekannte Berge sucht man in unmittelbarer Nähe vergeblich. Jedoch war die geografische Lage damals interessant, bot der Glacier du Mont Miné doch einen leichten Zugang zur Dent Blanche und zum Col de la Tête Blanche. Und von diesem aus war man rasch am Fuss der Dent d’Hérens, in Zermatt oder im italienischen Valpelline. Bereits 1897 entschied die Sektion Neuchâtel des Schweizer Alpen-Clubs SAC, oberhalb des Col de Bertol eine Hütte zu bauen. Diese erweiterten und erneuerten sie in den folgenden Dekaden immer wieder, bis 1976 die heutige Cabane de Bertol entstand. Von niemand Geringerem entworfen als von Jakob Eschenmoser, dem Übervater aller Architekten im Schweizer Hüttenbau des 20. Jahrhunderts. Ganze 16 Hütten hatte er in den Schweizer Alpen konzipiert und umgesetzt, darunter die Domhütte, die Salbithütte und die Albert-Heim-Hütte.
Die Leitern, die vom Skidepot zur
Cabane de Bertol führen, bieten einen
Schlussspurt vor Kaffee und Kuchen.
Wir übernachten also im Baudenkmal. Was besonders auffällt, als wir uns schlafen legen: Eschenmosers Markenzeichen als Architekt waren polygonale Hütten, in denen er die Schlafschläge im Kreis anordnete. Was er als «Maximum an Rauminhalt bei einem Minimum an Fassadenfläche» pries, heisst für uns Gäste: Die trapezförmigen Matratzen bieten viel Platz für die Schultern, während unsere Füsse dicht an dicht liegen. Nachdem jedoch fast alle «Eschenmoser-Hütten» zeitgemäss umgebaut sind, geniessen wir den nostalgischen Wert der Cabane de Bertol. Oder versuchen es zumindest.
Als wir morgens um fünf Uhr aus der Hütte hinaus auf die Terrasse treten, fühlen wir uns dennoch befreit. Wir atmen die kalte Luft ein und blicken auf den Glacier du Mont Miné, der im kalten Licht der Morgendämmerung liegt, während die Stirnlampen der ersten Seilschaften in seiner Weite leuchten wie Lichtinseln in einem hellblauen Meer. Unklar bleibt, was uns der Tag bringen wird. Ob wir durch die verschneiten Felsen auf die Spitze der Aiguille de la Tsa klettern werden – oder nicht. Doch wir setzen auf das Glück der Tüchtigen und schultern die Rucksäcke, steigen über die Treppen und Leitern zum Skidepot ab und rutschen bald auf Ski talwärts. Über Hänge, in denen der Schnee nachts zu weissem Porzellan gefroren ist, auf dem unsere Kanten so laut kreischen, dass man sich die Ohren zuhalten möchte.
Morgenstimmung auf dem Glacier du Mont
Miné – mit den obersten Spitzen von
Matterhorn und Dent d'Hérens am Horizont.
Die Suche nach der Nadel
Wenig später steigen wir jenseits eines Felssporns wieder auf. Kehre um Kehre durch die Kälte des Morgens, bis wir den Col de la Tsa von Westen her erreichen – und nicht von Osten her, wie es der direkte Aufstieg von der Hütte aus erlaubt hätte. Doch immerhin: Nun sind wir im Pass, just als die Sonne im Osten über die Grate der mächtigen Dent Blanche steigt. Vor uns liegen die weiten Kuppen des Glacier de l’Aiguille, durch die wir nun ziehen. Schritt für Schritt weiter in die Wärme des Frühlingstages hinein, rund um uns glitzernde Schneekristalle, als stiegen wir durch ein Feld aus Diamanten.
Von einem Gletscherkessel steigen wir in den nächsten und entdecken auf einmal vor uns – nicht allzu weit entfernt – einen Felsturm. Wir bleiben stehen und fragen uns: Ist es sie? Oder nicht? Ein Blick auf die Karte und wir sind uns einig: Vor uns steht die Aiguille de la Tsa. Kleiner als erwartet wirkt sie, gerade so, als hätte sie sich von einer unerreichbaren Zinne in einen Zacken aus Stufen und Bändern aus Gneis verwandelt. Was uns jedoch freut: Sie ist steil genug, um fast schneefrei zu sein. Allerdings nur fast – und so klettern wir etwas später beim Skidepot mit Steigeisen los. Halten uns an Griffen, stehen auf feinen Leisten, zittern uns über eine Platte. Einmal um die Kante noch, dann über einen Block, weiter über ein Band auf die Nordseite, durch eine Verschneidung hoch und wir stehen auf dem Gipfel. Oder besser: auf der schönsten Felsnadel des Unterwallis.
Mit Neuschneedekor wird die Kletterei
doch recht alpin.
Als «Obelisk» wird sie in frühen Führerbüchern bezeichnet und bereits auf der Schweizer Karte von 1862 ist sie als Aiguille de la Za verzeichnet. Sechs Jahre später, am 21. Juli 1868, gelingt den Herren Beytrison, Gaspoz, Quinodoz und zwei Vuigniers – allesamt einheimische Bergführer – die Erstbesteigung. Ganz aus eigener Motivation und ohne Gäste. Als wir 156 Jahre später auch ganz oben stehen, staunen wir, wie viel Platz die Spitze bietet. Wir legen die Rucksäcke ab und blicken in alle Himmelsrichtungen: auf das Val d’Arolla, das Val d’Hérens, die Dent Blanche, den Mont-Miné-Gletscher, das Matterhorn und die Dent d’Hérens in der Ferne, auf den Mont Collon und die Pigne d’Arolla.
Wir könnten es uns hier oben – hoch über der Welt – gemütlich einrichten, doch lange verweilen wir nicht. Zu rasch steigt die Frühlingssonne höher und brennt in die Osthänge unter dem Skidepot. So seilen wir ab und steigen bald wieder in die Bindungen der Tourenski. Gerade rechtzeitig, um in weiten Bögen die ersten Linien in perfektem Sulz zu ziehen.
Zum Schreien schön: perfekter
Sulz in weiten Hängen in der Abfahrt über
den Glacier de Bertol.
Weitere Infos zur Skihochtour Aiguille de la Tsa, 3667m
Gebiet
Die Aiguille de la Tsa ist eine elegante Felsnadel in den Walliser Alpen hoch über Arolla. Aus der Nähe wirkt sie kleiner, als erwartet, und bietet eine alpine Kletterei in bestem Gneis, nachdem man über Gletscher zu ihrem Fuss aufgestiegen ist.
Tour
Hüttenzustieg: Arolla-Plan Bertol-Cabane de Bertol CAS, WS+, 5 Std., 1340 Hm
Gipfelaufstieg: Cabane de Bertol-Abfahrt Glacier de Bertol-Aufstieg Col de la Tsa-Aiguille de la Tsa, ZS+, 750 Hm
Bei guter Firnlage bietet sich ein Aufstieg über einen Steilhang direkt nordöstlich der Hütte an, was den Aufstieg um 300 Hm verkürzt.
Mit sehr frühem Start ist der Gipfel ab Arolla in einer langen Tagestour erreichbar, indem man nicht in die Hütte, sondern direkt in den Col de la Tsa aufsteigt.
Übernachten
Cabane de Bertol CAS, 3311m, 027 283 19 29, www.cas-neuchatel.ch
Anreise/Rückreise
Anreise mit dem Zug nach Sion und weiter mit dem Postauto nach Arolla, www.sbb.ch
Karte
www.map.geo.admin.ch
Swisstopo-Landeskarten (1:25'000): 1347 Matterhorn
Literatur
Tourenportal SAC, www.sac-cas.ch
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