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Zauber der Steilwand: Fünf steile Skiabfahrten in den Alpen

Christian Penning, Donnerstag, 30. Januar 2025

Abfahrten in Couloirs von 45 Grad und steiler sind die Krönung des alpinistischen Skifahrens. Was verleitet Könner zum riskanten Rausch der Tiefe? Ein Selbsterfahrungs-Trip in fünf Steilwand-Revieren der Alpen.

«Am Beginn der Abfahrt hatte ich regelrecht die Hosen voll», erinnert sich der Schweizer Steilwandheld Jérémie Heitz. Mit der Doku «La Liste» über seine Speed-Befahrungen der schwindelerregenden Eiswände von Lenzspitze, Obergabelhorn & Co. wurde er weltbekannt. Rinnen und schneebedeckte Eiswände mit einer Steilheit von 45 bis 50 Grad und mehr mit Ski abzufahren – ist für die einen Harakiri, für andere die Erfüllung. Um dieser Mischung aus Faszination und Wahnsinn auf den Grund zu gehen, reise ich ins Berner Oberland. Eine respektgebührende Melange aus Szenen der Alpingeschichte und Interview-Fetzen mit Pro-Ridern und Pionieren der Steilwandszene kocht in meinem Kopf hoch, als die Jungfraujochbahn zum Startpunkt auf 3500 Meter Höhe hinaufzuckelt.

 Hier, in Sichtweite der Prominenz von Eiger, Jungfrau und Mönch, wurden essenzielle Kapitel der Steep-Skiing-Geschichte geschrieben. Legendär: die spektakulären Ski-Erstbefahrungen der beiden Italiener Toni Valeruz und Bruno Pederiva. 1983 gelang ihnen der Ritt die bis dahin als unfahrbar angesehene Eiger-Nordostflanke (55 Grad) hinab. Weil kein Fernsehteam mit dabei war, stieg Valeruz vor laufenden Kameras am nächsten Tag erneut auf und fuhr nochmals ab – allein. Der Berner Chris Kohler war damals noch ein kleiner Junge. Doch der Bericht über die Heldentat imponierte ihm dermassen, dass ihn der Wunsch, ähnliche Abfahrten selbst zu meistern, seitdem nicht mehr losgelassen hat. Es ist eine Mischung aus Schauder und Hochgefühl, die das Skifahren in der Vertikalen so faszinierend macht.

Am Abend sitzt Chris vor der Mönchsjochhütte und spricht mit seinen Tourenpartnern die Details der nächsten Tage durch. Es sind nicht die ersten Abenteuer in der Vertikalen, die Chris mit seinen Kumpels angeht. Eine solide bergsteigerische Ausbildung im SAC und als Offizier der Schweizer Hochgebirgstruppen sowie eine tiefe Leidenschaft fürs Freeriden haben die Jugendträume des Schweizers längst wahr werden lassen.

Buckeln mit Eisgeräten: So wie am hinteren Fiescherhorn gibt's die Zustiege zu vielen Steilabfahrten nicht geschenkt.

Aufwärm-Run überm Gletscherbruch

Angeseilt kraxeln Chris und sein Seilgefährte Christian Paul am Morgen über Felsstufen den ausgesetzten Südostgrat zum 4107 Meter hohen Gipfel des Mönch hinauf. «Mehr als der Kick der Abfahrt reizen mich Projekte, die man nicht einfach schnell mal aus dem Ärmel schüttelt wie eine Freeride-Abfahrt am Rande eines Skigebiets», überlegt Chris bei einer kurzen Verschnaufpause. Über Wochen, bisweilen über Jahre, verfolgt er die Bedingungen in seinen Traumwänden, sammelt Informationen, legt sich Strategien zurecht, bis endlich die Verhältnisse passen. «Lange bevor ich am Berg bin, beginnt das Abenteuer im Kopf.» Nicht weniger abenteuerlich ist die Abfahrt vom Mönch. Ein Sturz könnte in den kirchturmhohen Eisabbrüchen der Mönch Südflanke enden. «Ein netter Aufwärm-Run für morgen», meint Chris grinsend.

Wie ein Planet aus Eis und Stein, gekrönt von imposanten Felsnadeln, wirkt die Bergwelt am nächsten Tag beim Zustieg zum Fiescherhorn. «Eroberung der Leere» hat Steilwand-Urgestein Heini Holzer seine Projekte mal genannt. Die Ski am Rucksack, Steigeisen an den Füssen, Eispickel in den Händen, gleicht jeder Schritt einer Kniebeuge mit schwerer Hantel auf den Schultern. Ein Prusten begleitet jeden Schritt. In der harschigen Steilflanke des Fiescherhorns muss jeder Schritt sitzen. 

Ausgepumpt erreicht unser kleines Team den Gipfelgrat. Der Blick in die Tiefe ähnelt dem aus einem Helikopter. Langsam beruhigt sich der Puls. «Das Schönste an solchen Aktionen sind die Freiheit und die Ruhe», sinniert Chris. «Kein Rush, keine Rivalität um die erste Line wie beim Freeriden.» Die Stille wirkt geradezu greifbar. Eine halbe Stunde später hat die Sonne die Schneeoberfläche leicht aufgefirnt. «Jetzt oder nie!» Chris ist startklar. Er setzt den ersten Schwung, hinein in den Abgrund. Die Kanten greifen. Jeder Schwung muss sitzen. 

Tiefflug: In der Steilflanke des Hinteren Fiescherhorns im Berner Oberland. Der Tiefblick auf das Ewigschneefeld ist grandios.

Tanz am Abgrund

Was bringt einen dazu, seine Spur am Limit zum Absturz zu ziehen? Es mag der gleiche simple Grund sein, der Bergsteiger dazu treibt, die steilsten, höchsten und schwierigsten Berge zu besteigen: weil sie einfach da sind. Doch diese Begründung kann allenfalls ein Baustein sein im vielschichtigen Konstrukt, das versucht, das Mysterium alpiner Faszinationen zu ergründen. Deutungsmöglichkeiten für den Tanz am Abgrund gibt es weit mehr.

Der französische Steilwand-Pionier Patrick Vallençant prägte in den 1970er-Jahren den Spruch «Si tu tombes, tu meures» – «Wenn du fällst, stirbst du». Er verstand die fünf Wörter als Warnung. Als Zeichen, wachsam zu sein, sich keinen Fehler zu erlauben. Sie wurden zum geflügelten Wort in der Szene. Also, volle Konzentration! Ein Flow-Zustand seltener Intensität setzt ein, ähnlich wie in fordernden Kletterrouten. «Du denkst nur an den nächsten Schwung», sagt Chris. Körper und Geist verschmelzen zu einer sonst nie erlebten Einheit. 800 Höhenmeter tiefer entladen sich Anspannung und Freude in einem kollektiven Juchzer. Was folgt, sind befreiende Genussschwünge über das Ewigschneefeld zur Konkordiahütte.

Ein Gefühl tiefer Zufriedenheit macht sich breit. Steilwandfahren ist eine der letzten Bergsportdisziplinen ohne Wettkampfregeln, eines der letzten Refugien für individualistische Abenteurer. Auf die Frage, was ihn als junger Mann getrieben habe, steilste Wände mit Ski zu befahren, hat Sylvain Saudan, der im Juli 2024 im Alter von 87 Jahren verstorbene Steilwandpionier und Erstbefahrer der Monte Rosa Ostwand, einmal gesagt: «Ich wollte einfach mich selbst entdecken.» Chris nickt zustimmend. Es gehe nicht um Steilheitsgrade, nicht um Sensationen. Steilwandfahren sei vergleichbar mit dem ewigen Menschheitstraum vom Fliegen. «Was zählt, ist diesen Traum zu leben.»

Tourentipps

1. Couloir Barbey (3898 m)
Chamonix

Neigung: 45–50 Grad
Höhenunterschied: 600–700 hm
Schwierigkeit: ZS
Exposition: O
Beste Jahreszeit: April/Mitte Mai
Startpunkt: Argentière, Bergstation Grands Montets (3295 m) 

Die Bergsteigermetropole am Fusse des Montblanc ist eine der Wiegen des Extremskifahrens in den Alpen. Zu den Klassikern zählen Abfahrten wie das Gervasutti- Couloir (Montblanc du Tacul), das Whymper-Couloir (Aiguille Verte) oder das Mallory-Couloir (Aiguille du Midi). Weniger gehypt, aber dennoch faszinierend ist das Couloir Barbey an der Aiguille d’Argentière (3898 m). Von Osten, von Verbier aus betrachtet, wirkt das 45–50 Grad steile Couloir wie eine schmale, senkrechte, weisse Wand. Die Abfahrt führt auf den Glacier de Saleina. Der Rückweg erfolgt über den Col du Chardonnet ins Skigebiet Argentière.

2. Piz Buin Ostflanke (3174 m)
Silvretta 

Neigung: 45–50 Grad
Höhenunterschied: 400–500 hm
Schwierigkeit: ZS
Exposition: O
Beste Jahreszeit: Mitte März/Ende April
Startpunkt: Tuoi Hütte oder Zustieg über Wiesbadener Hütte und Ochsentaler Gletscher

Auf des Messers Schneide, an den Graten über den Gletschern der Silvretta, kommt fast Westalpen-Feeling auf. Ein Höhepunkt ist die Abfahrt durch das etwas versteckte namenlose rechte Couloir der Piz Buin Ostflanke. Einstieg ist nahe P. 3174 an dem kleinen Joch zwischen Wiesbadener Grätle und dem Piz Buin Hauptgipfel. Am Einstieg kippt die Rinne rasch in eine Steilheit, die ihren weiteren Verlauf ehrfurchtsvoll im Nichts der Tiefe verschwinden lässt. Ein No-Go bei eisigen Verhältnissen. Bei griffigen Bedingungen aber eine Steilabfahrt vom Feinsten.

3. Holzer Couloir (2900 m) Sella, Dolomiten 

Neigung: 40–45 Grad
Höhenunterschied: 500 hm (plus 500 hm flacher durchs Val Lasties)
Schwierigkeit: ZS
Exposition: N
Beste Jahreszeit: Anfang März/Mitte April
Startpunkt: Bergstation Sas de Pordoi (2950 m) 

Riesige Felstürme, Kalkwände wie die Mauern eines Doms, dazwischen immer wieder schneegefüllte Rinnen – in den Dolomiten hat die Annäherung an die Vertikale auf Ski Tradition. Die Kulisse ist grandios wie kaum anderswo. Toni Valeruz, der Erstbefahrer der Matterhorn Ostwand, stammt aus dem Fassatal. Er bewältigte 1980 die Langkofel Nordostwand mit Ski – im Sommer eine eindrucksvolle Kletterei im oberen IV. Schwierigkeitsgrad. Deutlich machbarer ist das legendäre Canale Holzer mit bequemem Zustieg von der Bergstation der Sas de Pordoi Gondelbahn (2950 m). Bei guten Bedingungen wird die beliebte 45-Grad-Rinne schnell zur Buckelpiste. Trotzdem sollte man die Abfahrt nicht unterschätzen. Mit Ausnahme sehr schneereicher Winter ist mittendrin eine Abseilstelle zu bewältigen.

 4. Pollux (4089 m) 

Neigung: 45 Grad
Höhenunterschied: 500 hm
Schwierigkeit: ZS+
Exposition: SW
Beste Jahreszeit: Ende April/Mai
Startpunkt: Bergstation Kleines Matterhorn 

Der Pollux zählt zu den leicht zugänglichen Parade-Hochtourengipfeln rund um Zermatt. Und auch für Steilwand-Abfahrten ist er ein lohnendes Ziel mit überschaubarem Aufwand. Dennoch fällt der Pollux nicht unter die Kategorie «geschenkte Viertausender». Beim Aufstieg heisst es Steigeisen an, Pickel in die Hand. Ein steiles Couloir führt hinauf zu einem Felsband. Hier wird angeseilt. Zwei, drei Seillängen in teils ausgesetzter Kletterei führen zum Gipfelhang. Nicht ohne, mit den sperrigen Ski am Rucksack! Mit etwas Glück sorgt die Mittagssonne für Firn in der Südwestflanke. Bei eisigen Verhältnissen ist von der Abfahrt abzuraten. Luftlinie nur ein paar Katzensprünge entfernt liegt die längste Steilabfahrt der Alpen, das Marinelli-Couloir. Sylvain Saudan glückte dort am 10. Juni 1969 die erste Skiabfahrt durch die Monte Rosa Ostwand.

Ausrüstungtipps 

Skihochtourenausrüstung, Seil, Harscheisen, Helm, Steigeisen, ein bis zwei Pickel, stabile Freeride-Ski mit gutem Kantengriff und Tourenbindung. 

 
Guiding und Camps 

• Steep Skiing Camps Worldwide (Chamonix, La Grave), steepskiingcamps.com
• Proguide (Dolomiten), Franceso Tremolada, proguide.it
• Bergsucht, Raphael Imsand, bergsucht.ch
• Compagnie des Guides de Chamonix, chamonix-guides.com 

 

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