Im Roman «Karte und Gebiet» von Michel Houellebecq fertigt ein junger Künstler Fotos von Michelin-Landkarten an, denen er matschige Luftaufnahmen derselben Orte gegenüberstellt. «Die Karte ist interessanter als das Gebiet» ist der Titel der Ausstellung, die ihm zum Durchbruch verhilft.
Unter diesem Motto schien auch die Tourenvorbereitung von Sils nach Soglio zu stehen: Wieder und wieder durchforsteten wir die Karten nach den besten Biwakplätzen, suchten Quellen und Ebenen, beklagten die grobe Auflösung der Maxar-Satellitenbilder vom Val da la Prasgnola. Irgendwann fühlten wir uns wie umgekehrte Vermesser, die nur noch loszogen, um ihre Daten mit der Wirklichkeit abzugleichen.
Einmalig in Europa: Am Pass
Lunghin liegt die Dreifach-Wasserscheide
zwischen Nordsee, Mittelmeer
und Schwarzem Meer.
Und dann das: Noch vor dem Anpfiff geht das Gebiet gegen die Karte eins zu null in Führung. Der von Sils sanft ansteigende Weg hinauf zum Lunghinsee ist wegen Steinschlaggefahr gesperrt. Also Maloja – Soglio statt Sils – Soglio. Das geht zwar schlechter über die Lippen, ist aber nicht minder schön. In der Abendsonne leuchten die Alpenrosen und Feuerlilien noch ein wenig bunter als sonst, zwei Wanderpärchen und drei junge Italiener kommen uns mit Profikameras und strahlenden Mienen entgegen. Muss schön sein, da oben.
Ist es auch, aber – zwei zu null: Kalte Böen legen den Lunghinsee in Falten, sodass wir die besten Plätze am Ufer bald aufgeben und uns fürs Biwak zwischen die nahen Felsen verkriechen. Dass Houellebecq irrt, deutet sich also schon an und steht spätestens nach dem Abendspaziergang fest: Definitiv ist das Gebiet interessanter als die Karte. Ob es eben ist, sagt Swisstopo.
Tagwacht am Lunghinsee:
Egal, wie gut man die Karte
vorher studiert – in Sachen
Biwakplatz hat das Gelände
das letzte Wort. Einen Murmeltierzahn gab's obendrauf.
Ob man auf Gras oder Steinen sein Lager aufschlägt, erfährt man auf Google Earth. Aber ob man fünf Meter neben der Isomatte einen Murmeltierzahn findet, um den man den Kindern daheim ein Märchen spinnen kann – das weiss keine Karte. Beim Stand von drei zu null verliert der Biancograt sein letztes Licht, dann leuchtet nur noch die Bergstation vom Corvatsch. Der Seeabfluss rauscht uns in den Schlaf.
Spuren lesen auf der Via Sett
Anderntags freuen wir uns, nicht noch weiter aufgestiegen zu sein. Hinter dem See wird die Landschaft sandig, karg, feucht. «Der Winter ist hier auch noch nicht lange her», meint Jürg. Apropos Karte und Gebiet: Die Dreifach-Wasserscheide am Pass Lunghin, das geografische Highlight der Tour, müssen wir im Nebel erst mal suchen. Kurz fühlen wir kleinen Menschlein uns ganz mächtig und spritzen das Wasser aus dem Granitbassin erst Richtung Atlantik, dann ins Mittelmeer und schliesslich noch ins Schwarze Meer.
Nicht angeschrieben ist das Meer aus gelbem Enzian, durch das wir mit imaginärem Kräuterschnapsgeschmack auf der Zunge hinüber zum Septimerpass wandern. Dort erschrecken wir über eine Hütte. Teil des Plans war es doch, jede Chamanna und Capanna so weiträumig zu umgehen, als wären wir zwei der chronisch menschenscheuen Hauptfiguren eines Houellebecq-Romans. Doch die privat geführte und topmodern eingerichtete Cesa da Sett mit ihren 16 Betten hat ohnehin geschlossen. Jürg spekuliert noch auf einen frischen Espresso, drückt sich die Nase aber vergeblich platt.
Auf der «Via Sett»: Im
Abstieg vom Septimerpass
wandeln wir auf den Spuren
der alten Römer.
In den Karten der alten Römer dürfte der Septimerpass noch mit deutlich dickerem Strich verzeichnet gewesen sein, stellte er doch neben dem Julierpass den wichtigsten Übergang zwischen Chur und Mailand dar. Heute ist der Pass da Sett nur noch bei den Bikern die Nummer eins. Drei Velofahrer folgen der nationalen MTB-Route Nr. 1 auf Fahrstrassen nach Süden, das Kopfsteinpflaster der Via Sett haben wir für uns allein.
Jede Kehre regt die Fantasie an: Hat man hier einen Zusatzochsen vorgespannt? Ist dort einst Flavius Vehiculus mit seinem wurmstichigen Klapperwagen steckengeblieben? Am «Sascel battü» verkündet eine Tafel, dass dieser Felsklotz schon vor 500 Jahren die Grenze zwischen Bivio und Bergell markierte. Auch eine 1991 von den Instruktoren der Maurerlehrhallen Sursee vorbildlich restaurierte Bogenbrücke versprüht antiken Charme, vermag aber nicht ganz über die Bunkeranlagen (helvetisch, nicht römisch) und die 220-kV-Freileitung hinwegzutäuschen.
Im Talboden passieren wir Maroz Dora und Maroz Dent. Das sind keine Zahncremes für morgens und abends, sondern zwei Alpen, von denen Dent, die obere, eindeutig die schönere ist. Ein neues Blechdach zeugt von Zukunftsplänen, von langer Historie eine mühevoll aus Trockensteinmauern gefasste, fünfeckige Weide.
Schlechtes Timing: Den Abenteuerspielplatz
im Talschluss des Val
Maroz erreichen wir genau dann, als
wir Strecke machen wollen.
Kurz dahinter locken Boulderblöcke und Gumpen das Kind im Wanderer: «Der perfekte Abenteuerspielplatz!», jubelt Jürg, aber um drei viertel elf sind wir noch nicht spontan genug, unseren Biwakplan über den Haufen zu werfen – Anschlusstor für die Karte gegen das Gebiet. Lieber kämpfen wir uns durch Blütenpracht und Hitzestau hinauf ins Val da la Duana.
Zum zweiten und letzten Mal treffen wir Menschen auf dieser Tour: Zwei Fischer trotten erfolglos vom Lägh da la Duana herab. Wir sind nicht auf Anglerglück angewiesen, sondern haben Hirschwurst aus Silvaplana dabei, und noch dazu ist es gleich zwölf. Während die Schuhe ausdampfen, denken wir an die armen Menschen, die für ähnliche Panoramen nach Zentralasien fliegen, und nicken für ein paar Minuten ein – Mittagspause in Vollendung.
Stufen ins Glück
Auf dem Weiterweg ins Val da Roda lassen wir einen weiteren Direktabstieg nach Soglio links liegen und stellen zufrieden fest, dass die Heat Map des Fitnesstrackers Strava mit der Realität übereinstimmt: keiner da. So haben wir die Edelweisskolonie für uns allein, müssen aber mangels Spur auch selbst durch grobes Blockgelände mit tückischer Restschneeunterlage navigieren.
Natürlich weiss es jeder besser als der andere, sodass wir uns am Ende beide mit feuchten Socken und wunden Schienbeinen auf der Passhöhe treffen. Damit ist im selten schönen Hochtalreigen Maroz-Duana-Roda die letzte Klimastufe erreicht: Ende Juni schwimmen auf dem Lägh da la Caldera noch die Eisschollen. Mitten im laut Jürg «piemontmässigen», weil tendenziell weglosen Abstieg stossen wir auf ein Fahrverbotsschild für Motorräder.
Ehe wir in Gelände kommen, wo dieses Schild halbwegs Sinn machen würde, biegen wir über eine kleine Brücke ab ins Val Prasgnola – terra incognita, zumindest auf der Strava Heat Map. Es wird langsam Abend, und je höher wir steigen, desto zögerlicher schlagen wir gute Nachtlager aus. Doch wie erhofft stimmen Karte und Gebiet überein. Der letzte grüne Fleck im Talschluss bietet plangemäss den besten Biwakplatz: eben, trocken, Wasser in der Nähe und, kein Witz, einen zweiten Murmeltierzahn.
Mit gütlich geteilter Engadiner Nusstorte gratulieren wir uns zu unserer Geduld und geniessen das Glück, heute nicht nur in den Bergen aufgewacht zu sein, sondern dort auch wieder einschlafen zu dürfen. Exakt an dem Ort, wo ein Jahr zuvor ein grosser Baucontainer stand.
«Was du für den Gipfel
hältst, ist nur eine Stufe»,
wusste schon der alte Seneca.
Die einst für die Alpwirtschaft
errichtete Natursteintreppe
am Pass da Prasgnola
ist historisch einmalig und
wurde 2022 mit grossem Aufwand
restauriert.
Und das kam so: Da wir den restlichen 300 Höhenmetern hinauf zum Pass da Prasgnola in der Planung wenig Beachtung geschenkt hatten, übersahen wir auch den kleinen Flurnamen «I Trapet». Entsprechend grosse Augen bekommen wir, als wir kurz nach dem Aufbruch unter einer monumentalen Steintreppe stehen, die auf den ersten Blick so deplatziert wirkt wie ein Stück Aquädukt in der Sahara.
Wie wir später herausfinden, wurde «I Trapet», ein Bauwerk von nationaler Bedeutung, im Vorjahr umfassend saniert und zu diesem Zweck ein Basislager an «unserem» Biwakplatz angelegt (und wieder restlos abgebaut). Nichts gegen die Maurerlehrer aus Sursee, aber diese Treppe ist phänomenal.
«Und dann noch so breit, dass es zweispurig ist! Da gewinne ich doch eher im Lotto, als dass sich hier jemand kreuzt!» Jürg ist völlig aus dem Häuschen, und auch das jeder Euphorie unverdächtige Bundesinventar historischer Verkehrswege der Schweiz jubelt im entsprechenden Dossier GR 8660.0.5: «Worte werden der überwältigenden Erscheinung der Treppenanlage ‹I Trapet› nur ungenügend gerecht.» Selbst Bilder zeigt das Inventar mit dem Hinweis, dass die Treppe «in ihrer ganzen Pracht nur vor Ort erfahren werden kann». Amtliches Endergebnis: Das Gebiet ist interessanter als die Karte.
Maulende Murmeltiere
Der Rest ist schnell erzählt. Beim letzten Schritt auf die Passhöhe tauchen gegenüber Badile, Cengalo und weitere Bergeller Granitriesen auf. Noch hoffen wir im morgendlichen Ringen von Nebel und Sonne auf den Sieg der Aussenseiterin und teilen den 1700-Höhenmeter-Abstieg schon mal gedanklich in erstes und zweites Frühstück ein. Dann vibriert Jürgs Handy – wieder Empfang.
Ein leeres Hochtal,
Hirschwurst im Rucksack,
zwölf Uhr: Die Zutaten einer
perfekten Mittagspause am
Lägh da la Duana.
«In Soglio gibt’s doch keinen Stundentakt», murmelt er und fragt: «Postauto um 9:25 Uhr oder um 13:25 Uhr?» Es ist 7:11 Uhr, auf dem Schild steht «Soglio: 2 ¼ h». Die Zeit reicht dann noch zur Identifizierung eines Ziegenskeletts mitten am Weg, aber nicht fürs Frühstück und auch nicht dafür, die verlassenen Alpen Läira und Dair störungsfrei zu durchschleichen: Auf den Steindächern beenden die Murmeltiere ihr Sonnenbad und pfeifen vor Wut über unsere Dreistigkeit, hier so durchzuhetzen.
Um 8:43 Uhr hören wir die erste Motorsense brummen. Kastanienbäume, Eichen, erster Asphalt. Um 9:15 Uhr flanieren wir durch Soglio. Vor dem Palazzo Salis wäre noch ein Tisch in der Sonne frei. Das Postauto hupt. Fahrplan oder Speiseplan, Karte oder Gebiet?
Wegverlauf im Detail zum Nachwandern
Ausgangspunkt ist der Parkplatz am südlichen Ende des Silser Sees bzw. die gut 300 Meter entfernte Haltestelle Maloja, Capolago. Von hier den gut beschilderten, markierten und ausgebauten Wanderweg hinauf zum Lunghinsee (knapp 700 hm). Direkt am Seeufer, aber auch in der Nähe des Abflusses bieten sich einige Optionen für Biwaks.
Der Weiterweg führt über den nahen Pass dal Lunghin (2644 m) und anschliessend in gleicher Richtung absteigend zum Septimerpass (2310 m). Hier wendet man sich nach Süden und passiert umgehend die Cesa da Sett, die einzige Unterkunft im Wegverlauf (cesa-da-sett.ch). Man folgt nun dem Wegverlauf der alten Via Sett mit einigen kopfsteinpflasterartigen Passagen, immer nahe an der sprudelnden Aua da Sett. Kurz vor dem Talgrund des Maroztales wird die Wegführung etwas unlogisch und führt weit nach Osten – wer weiter hinauf Richtung Duanatal will, kürzt hier gegebenfalls etwas ab.
Im Talgrund nun auf guter Fahrstrasse nach Westen hinauf zur Maroz Dent und weiter in die riesige Schwemmebene am Ende des Tales – auch hier bieten sich hervorragende Biwakplätze. Während die meisten nun dem Weg nach Süden ins Val da Cam folgen, gehen wir gerade aus weiter auf den Talschluss zu und die Steilstufe hinauf zum Lägh da la Duäna. An dessen Nordufer vorbei führt der Weg durchs Hochtal, hinauf zum kleineren Duanasee. Kurz danach gabeln sich die Wege erneut: ein Weg führt nach Süden über den Pass da la Duana nach Soglio, wir aber folgen dem Schild zum Bergalgapass.
Alleinstellungsmerkmal: Edelweiss
deuten darauf hin, dass die
Hochtäler Val da la Duana und Val da
Roda eher wenig besucht werden.
Damit verlassen wir nun auch die Grünzone und befinden uns in trostloser Felswüste wieder. Der Lägh da la Caldera (2751 m) lädt im Vergleich zu den vorherigen beiden Seen deutlich weniger zu Biwaks ein. Im Val da Roda verlieren wir schnell Höhe. Nun gilt es, die kleine, aber gut befestigte Brücke am Punkt 2131 hinüber ins Val da la Prasgnola nicht zu verpassen – ohne sie ist der Wechsel der Talseite nicht ohne grösseren Aufwand zu bewerkstelligen.
Im Val da la Prasgnola wandern wir, abermals ohne Probleme in der Wegfindung, über mehrere Geländestufen empor, bis wir im Bereich „Plan di Mort“ den Talschluss und die besten Biwakoptionen erreicht haben. Der Weiterweg führt über die grandios angelegte Steintreppe „I Trapet“ in einen kleinen Kessel und steil aus diesem heraus in den Pass da la Prasgnola. Der Beginn des Abstiegs nach Soglio ist stellenweise mit Eisenketten versichert, bereitet aber keine grösseren technischen Hürden.
Steil und etwas spärlich markiert, aber immer gut aufzufinden führt der Weg ohne grössere Umschweife hinab in den Weiler Läira (1893 m). Etwas mehr als die Hälfte der Abstiegshöhenmeter ist nun geschafft. Mit einem kleinen Gegenanstieg geht es in südöstlicher Richtung um die Hangkante herum, weitere Weiler werden passiert. Nun dauerhaft im Wald und in konstant östlicher Richtung absteigend erreicht man zwangsläufig die ersten Asphaltstrassen rund um Soglio und bald darauf auch den Ort selbst. Die Bushaltestelle (Soglio, Villaggio) befindet sich am talseitigen Ortsausgang Richtung Promontogno in der markanten Kehre.
Weitere Infos zur Tour:
- Schwierigkeiten: Die Wanderung erfolgt durchwegs auf mehr oder weniger gut markierten Wegen und übersteigt nirgends den Grad T3. Im Abstieg vom Pass da Prasgnola helfen im obersten Teil wenige Eisenketten, ansonsten gibt es keine nennenswerten technischen Schwierigkeiten. Nach dem recht schneearmen Winter 2022/23 waren auch die höchsten Übergänge am Weg bereits Ende Juni 2023 quasi schneefrei.
- Ausrüstung: Übliche Bergwanderausrüstung, zusätzlich natürlich die entsprechende Biwakausrüstung und Wärmeschutz. Wanderstöcke sind vor allem für den steilen Abstieg nach Soglio empfehlenswert.
- Verbindung: Von Soglio ist man mit dem Postauto in unter einer Stunde und mit einem Umstieg in Promontogno wieder zurück am Ausgangspunkt in Maloja (Verbindung: Soglio Villaggio – Maloja Capolago).
- Zusätzliche Informationen: Nicht den genauen Wegverlauf, aber Teile davon sowie umliegende Gipfeloptionen schildern die Führer «Gipfelziele Engadin» und «Engadin · Oberengadin» Touristische Infos sind unter www.bregaglia.ch. Über weite Teile der Tour, vor allem im Val Maroz, Val da la Duana, Val da Roda und Val da la Prasgnola, gibt es Alpweiden mit Herdenschutzhunden. Die genauen Gebiete und auch Hinweise zu den Verhaltensregeln können über das amtliche Kartenwerk map.geo.admin.ch abgerufen werden. Am wichtigsten ist, zu den betreffenden Zeiträumen keine eigenen Hunde mit ins Gebiet zu bringen.
- Spannende Hintergründe zur Via Sett sowie zur Treppenanlage am Prasignolapass erhält man im Inventar Historischer Verkehrswege der Schweiz (IVS), abrufbar über die SwissTopo-Karte oder über diesen und diesen Link.
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