Das Rifugio Margherita auf der Signalkuppe hält einen unumstrittenen Superlativ: nämlich den als höchste Berghütte der Alpen, 4554 Meter hoch. Logische Anschlussfrage: Gibt es dort auch die schönste Hüttenaussicht? Nun, das ist Geschmackssache. Aber alle, die schon von dort nach Süden und Osten geschaut haben, werden diesen Eindruck nicht mehr vergessen: Wie aus einem Flugzeug fällt der Blick auf die mehr als 4000 Meter tiefer liegende Poebene. Denn nicht nur die Terrasse der Hütte, sondern der gesamte Berg thront als Eckpfeiler des Monte-Rosa-Massivs wie ein gigantischer Balkon über dem Flachland.
Am einfachsten erreicht man diesen Balkon von der anderen Seite. Über den Grenz- oder Lisgletscher führen relativ flache, wenn auch spaltige Routen zur Signalkuppe. Alleine ist man dort allerdings kaum. Das Versprechen auf viele leichte Viertausender lockt die Gipfelsammler in Scharen an. Wer sich also nicht durch Haupteingang, Foyer und Treppenhaus, sondern stattdessen unbemerkt auf den Balkon schleichen möchte, muss wie in jedem Theaterstück heimlich über die Regenrinne hinaufsteigen. Im Falle des Monte Rosa wäre das die Cresta Signal, die keine Regenrinne ist, sondern der Ostgrat des Berges. Dass die Cresta Signal recht unbekannt ist, hat Gründe: Die Flanken des Monte Rosa in der Schweiz und in Aosta sind gut erschlossen und verkehrstechnisch leicht erreichbar. Die Ostseite des Massivs dagegen ist wild und ursprünglich.
Zwei abgelegene Täler führen zu den Orten Macugnaga und Alagna, letzterer ist unser Ausgangspunkt. Mit Doro fahre ich für diese Tour viele Kilometer durch die saftig grüne Valsesia. Von unserem Ziel sehen wir wenig, die regenwaldähnlichen Hänge verschwinden im Nebel. Als wir endlich einen Blick auf die glänzenden Gletscher erhaschen, müssen wir die Köpfe bereits wirklich weit in den Nacken legen!
Der Signalgrat, links unten noch
als gemässigt steile Firnschneide
sichtbar, steilt sich zum Gipfel hin
immer weiter auf.
Festmahl im Logenplatz
3300 Höhenmeter trennen uns vom Gipfel, gerade mal 250 davon können wir mit einem alten Wanderbus erschummeln, ehe wir die schweren Rucksäcke schultern müssen. Es ist schwülwarm, die Eispickel an unseren Rucksäcken wirken fehl am Platz und wir bereuen keine Sekunde, zusätzlich zu den Bergschuhen leichte Laufschuhe dabei zu haben. Der Wald lichtet sich bald und wir erreichen das Rifugio Barba Ferrero, bereits 2247 Meter hoch, aber doch noch viel zu weit weg vom Gipfel. Nur bis zum Einstieg der Cresta Signal ist es von hier eine eigene Hochtour. Glücklicherweise liegt dort mit dem Rifugio Resegotti eine Biwakschachtel genau am richtigen Ort. Weiter also, über eine endlose Moräne in der Mittagshitze. Hoch über uns türmen sich die Südostwände von Signalkuppe, Parrotspitze und Vincentpyramide. Kaum zu glauben, dass diese Giganten von der anderen Seite aus nur Schneehügel sind! Auch der steile Ostgrat zur Signalkuppe wirkt wie ein unüberwindbares Bollwerk. Aber ist das nicht gerade der Reiz an grossen alpinen Routen? Ein aus der Ferne unmöglich erscheinendes Puzzle, das sich immer weiter auflöst, je näher man kommt?
Vor der Capanna Resegotti sollte sich uns laut Karte eigentlich ein Gletscher in den Weg stellen. Doch der Ghiacciaio Sud delle Locce ist in den letzten Jahren auf ein kümmerliches Schneefeld zusammengeschrumpft, sodass wir auf dem frischen Gletscherschliff die bequemen Laufschuhe noch ein wenig länger anbehalten können. Erst auf 3300 Metern Höhe wird es Zeit für die Bergschuhe. Immerhin haben wir den Aufstieg zum Grossteil hinter uns. Hinter einer delikaten Randkluft finden wir Ketten, die zur Biwakschachtel führen – heute gibt’s keine bösen Überraschungen mehr, nur gute: Die «Biwakschachtel» entpuppt sich als trockene Hütte mit Kocher, Küche, Decken und WC. Hier lässt sich's aushalten!
Noch besser wird es wenig später, als drei Einheimische zu uns stossen. Sie wollen nur eine entspannte Nacht hier oben verbringen. Aus ihren Rucksäcken zaubern sie jede Menge Leckereien von Baguette über Pasta bis Bier und laden uns grosszügig ein, als sie unsere jämmerlichen Alpinisten-Rationen sehen. Zur Krönung reissen die Wolken urplötzlich auf und geben den Blick frei auf die Täler und die Monte Rosa Ostwand. Die höchste Wand der Alpen – und wir haben den Logenplatz! Die Italiener sind ganz aus dem Häuschen und erklären uns, was für ein Glück wir haben. «Im Sommer sind hier abends immer Wolken. Es gibt nur ein paar Tage im Jahr, an denen es hier so eine Aussicht gibt!»
Nach einer gemütlichen Nacht klingelt der Wecker wie immer viel zu früh. Es ist 03:00 Uhr, als wir ein paar Müesliriegel frühstücken. Noch ein paar Schlucke warmen Tee, dann müssen wir der kalten Realität vor der Hüttentür entgegentreten. Es ist sternenklar und windstill. Die Gipfelkrone des Monte Rosa zeichnet sich vor dem fahlblauen Nachthimmel ab. Perfekte Voraussetzungen. Eigentlich leitet vom Rifugio Resegotti ein langer, scharfer Firngrat zum Passo Signal. Doch der Klimawandel hat diesem anspruchsvollen und ausgesetzten Abschnitt die Zähne genommen: Statt auf einer Firnschneide laufen wir links davon über ausgeapertes Blockgelände. Immerhin, so können wir wenigstens gemütlich wach werden.
Mitten im Alpenglühen
Am Passo Signal steilt die Tour auf. Sand, Geröll und lose Blöcke. Gut, dass diese Tour nicht überlaufen ist, hier möchte man keine Seilschaften über sich haben. Wir machen schnell, wollen zu Sonnenaufgang auf der ersten Abflachung sein. Die Dämmerung lässt bereits die Horizontlinie glühen, als wir dort ankommen. Hier haben sich Reste der Firngrate und Wechten gehalten, die früher einmal die ganze Route geprägt haben. Die Firngrate sind auch hier nur ein Schatten ihrer alten Mächtigkeit und stellen kein besonderes Hindernis dar – aber ein perfektes Fotomotiv für den Sonnenaufgang.
Unter uns schlafen Piemont und Lombardei noch im letzten Schleier der Nacht, doch hier oben ist es bereits taghell. Kein Berg beschränkt die Sicht nach Osten, sodass der Monte Rosa seinem Namen alle Ehre macht: Wir stehen mitten im Alpenglühen. Wir geniessen den Moment. Doro muss für Fotos auf den Wechten posieren. Erst als die Sonne hinter der 165 Kilometer entfernten Bernina auftaucht, erinnern wir uns daran, dass wir noch ein gutes Stück vor uns haben.
3300
Höhenmeter muss man
beim Signalgrat aus eigener
Kraft steigen.
Weiter geht es durch ein Labyrinth aus Steilstufen, Firnfeldern und Kletterstellen. Über uns wird der grosse zweite Aufschwung mit dem markanten S-förmigen Marmorband immer mächtiger. Wir müssen ihn links umgehen, doch wie kommen wir überhaupt bis zu seinem Fuss? Der Grat verliert sich hier, bekommt Flankencharakter, ein eindeutiger Weg fehlt. Links steiler hoch oder flacher nach rechts queren und dann zurück nach links? Keine Begehungsspuren. Mir bleibt nur das Bauchgefühl. Ich entscheide mich für rechts und klettere los. Bald ist klar, leicht ist hier nichts, das war die falsche Wahl. Wir klettern zwei Seillängen mit Stellen im 5c-Bereich und eher weniger genüsslicher Felsqualität. Auch der Weg zurück nach links entpuppt sich als gefährliches Steinschlagcouloir. Augen zu und schnell durch. Bloss keine Kühlschränke auf Doro werfen. Ein wenig höher bringen uns hundert Meter sicheres, aber anstrengendes Firnpickeln zurück zur Route und an den Fuss des Aufschwungs.
Eigentlich haben wir hier die Schlüsselstelle erwartet, doch die Kletterschwierigkeit beschränkt sich auf eine Seillänge 4c mit eindeutiger Route. Der Fels ist fest, trocken und warm. Wir zünden den Turbo, die restlichen 400 Meter klettern wir in zwei Seillängen. Eine letzte steile Verschneidung bringt uns auf das oberste Plateau des Grenzgletschers – und Sturmböen wehen uns fast wieder hinunter. Der eisige Höhenwind ist ein Vorzeichen einer nahenden Kaltfront. Bisher waren wir im Windschatten, doch jetzt sind wir der Atmosphäre schutzlos ausgeliefert. Schnell ziehen wir alle Jacken an, die wir dabei haben, und stapfen das letzte Stückchen zur Capanna Margherita auf den Gipfel. Doch aus der geplanten Kaffeepause wird nichts. Zwar ist der Hüttenbalkon über dem Bergbalkon windgeschützt und ist so spektakulär wie erwartet, aber der Trubel auf der Hütte schreckt uns ab. Wir belassen es wieder einmal bei Müesliriegeln und machen uns an den Abstieg. Der führt nicht über die Haupttrasse Richtung Zermatt, sondern über einige Gegenanstiege, Sammelgipfelchen und viele, viele Gletscherkilometer zur Punta Indren. Von hier schweben wir wohlverdient mit drei Seilbahnen zurück nach Alagna, während hinter uns die Kaltfront den Vorhang vor der Balkontheaterszene zuzieht.
Infos Cresta Signal
3300 Hm von Alagna, davon ca. 950 Hm Kletterei, 6-8 Stunden zum Rifugio Resegotti, 6-7 Stunden zum Gipfel, 3 Stunden zur Punta Indren.
Stützpunkt
Rifugio Resegotti, 3624 m, unbewirtschaftet, Decken, Holz und Gaskocher vorhanden.
Material
50 m Seil, Cams 0.3-2, Schlingen, Gletscherausrüstung, drei Eisschrauben, zweites Eisgerät für den Vorsteiger, Helm, Hüttenschlafsack, Zustiegsschuhe lohnend.
Zustieg
Von Alagna mit dem Wanderbus zum Piazzale Acqua Bianca. Von dort gemäss Beschilderung zum Rifugio Barba-Ferrero und über die markante Moräne weiter. Steinmänner führen durch den frischen Gletscherschliff. Über den Firn direkt unter die gut sichtbare Hütte, dort findet man die Ketten.
Route
Flach am Grat entlang zum Passo Signal. Anschliessend leicht links vom Grat zu einigen markanten Wechten. Der folgende Aufschwung wird erst kurz vor seinem Ende mit einer Rechtsquerung überwunden. Nicht zu tief queren! Auch danach nicht zum Queren verleiten lassen, sondern gerade hoch zum grossen Turm mit dem S-förmigen Marmorband. Auf dem Absatz darunter nach links queren, über eine kurze steile Verschneidung hinauf und anschliessend leicht am Gratrücken bis zum Gletscherplateau.
Abstieg
Über oft gute Spuren zum Lisjoch und den Lisgletscher hinunter zum Rifugio Gnifetti. Entlang von Steinmännern zur Punta Indren und mit der Seilbahn nach Alagna.
Beste Zeit
Juni & Juli. Ab August entschärft Ausaperung einige Wechten, dafür steigt die Steinschlaggefahr. Die Felspassagen sollten in jedem Fall trocken sein.
Infos
Bergsteigen.com oder Hochtouren Topoführer Walliser Alpen, Silbernagel/Wullschleger
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