Stephanie Geiger: Nicole Niquille, wir haben schon lange nichts mehr gehört von Ihnen. Wie geht es Ihnen?
Nicole Niquille: Es geht mir sehr gut, danke. Mein Leben hat an dem Tag, an dem ich an den Rollstuhl gefesselt wurde, nicht aufgehört, es hat sich nur in eine andere Richtung entwickelt. Es ist nicht das Leben, von dem ich als Teenager geträumt hatte – ein Leben in den Bergen, mit Seilgefährten geteilt, das Gesicht Wind und Wetter ausgesetzt. Ich hatte das Privileg, dieses Leben ein Jahrzehnt lang zu leben! Aber ich würde mein jetziges Leben gegen das Leben von niemandem eintauschen wollen! Es ist mein Leben und ich liebe es mit all seinen Hindernissen.
Seit dem Unfall im Mai 1994 sind mittlerweile fast dreissig Jahre vergangen. Auf einer Skala von 0 bis 10, wie stark muss man sein, um das Leben von Nicole Niquille leben zu können?
Zehn. Ganz klar.
Ich würde die Skala sogar erweitern und elf sagen. Sie waren vielfach Pionierin: 1986 waren sie die erste Schweizerin mit Bergführerdiplom. Sie waren die erste Frau, die ohne Flaschensauerstoff eine Höhe von über 8000 Metern erreichte. Am K2 war das. Rekorde aufzustellen, die Erste zu sein, ist Ihnen so etwas wichtig?
Darum ging es mir nie und geht es mir auch heute nicht. Als ich Bergführerin wurde, wusste ich nicht, dass ich die erste Schweizerin sein würde. Damals gab es schon Renata Rossi, die Bergführerin war und in der Schweiz lebte. Sie ist aber Italienerin. Und so war ich eben die erste Bergführerin mit Schweizer Pass. Weil ich ohne Flaschensauerstoff auf den K2 steigen wollte, ist es so gekommen, dass ich die erste Frau auf über 8000 Metern ohne Flaschensauerstoff war. Ich lebe mit diesen Rekorden. Ich habe es jedenfalls nicht darauf angelegt, aber sie haben mir gezeigt, dass ich schon ganz gut sein muss, wenn ich das erreiche.
Links: Nicole Niquille am Gasherbrum, 1991. Rechts: Allein unter Männern: Niquille war eine Pionierin des weiblichen Höhenbergsteigens (© Ephraim Bieri).
Mit ihrem damaligen Partner Erhard Loretan waren sie am K2 und am Mount Everest.
In den 1980er-Jahren war das. Seitdem hat sich dort viel verändert.
Lese ich die heutigen Expeditionsberichte, dann merke ich sehr deutlich, dass das nicht mehr das ist, was es einmal war. Es ist kein Vergleich zu damals. Für uns und für alle, die in den 80er-Jahren auf Expedition unterwegs waren, war das noch ein echtes Abenteuer. Wir haben das lange vorbereitet. Ein Jahr waren wir allein mit den Vorarbeiten beschäftigt. Wir haben unser ganzes Material mitgebracht. Und wir waren ohne Flaschensauerstoff und ohne Träger am Berg unterwegs. Zwei Monate lebten wir bei der K2-Expedition auf dem Gletscher. Insgesamt waren damals nur drei Expeditionen am K2. Franzosen, Koreaner und wir Schweizer.
Grosse Namen waren da versammelt: Neben Ihnen und Erhard Loretan waren auch Jacques Grandjean, Norbert Joos, Pierre Morand, Marcel Rüedi und Jean Troillet mit von der Partie.
Wir waren damals die Ersten am Berg, mit unseren eigenen Erfahrungen und mit unseren eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Wir mussten auf uns zählen.
Sie sogar ganz besonders. Sie mussten wegen gesundheitlicher Probleme absteigen.
Ich hatte starke Schmerzen in dem Bein, das ich mir viele Jahre vorher bei einem Motorradunfall schwer verletzt hatte. Erhard und die anderen sind weiter aufgestiegen. Ich war 16 Stunden wirklich ganz alleine am Berg unterwegs, bis ich zurück im Basislager war.
Kein Vergleich zu heute: Im vergangenen Sommer wollten 370 Bergsteiger den K2 besteigen. Ende Juli machten sich dann tatsächlich 180 auf den Weg Richtung Gipfel. Etwas mehr als hundert haben den Gipfel schliesslich erreicht.
Das ist für diese Menschen sicher auch ein Abenteuer. Auch wenn die Rahmenbedingungen natürlich ganz andere sind. Ich finde es toll, dass sie das machen. Es ist doch schön zu sehen, dass so viele Menschen Freude an den hohen Bergen haben. Wobei ich sagen muss, hätte ich die Wahl, würde ich unter den heutigen Umständen nicht mitgehen. Bevor ich Flaschensauerstoff verwende, bleibe ich lieber unten.
Indem Sie gezeigt haben, was an den hohen Bergen möglich ist, waren Sie damals in gewisser Weise auch Wegbereiterin für das, was heute dort passiert. Ein anderer war Reinhold Messner, der heute wohl der grösste Kritiker des modernen Expeditionsbergsteigens ist.
Ich erhebe nicht den Anspruch, mit einem Messner verglichen zu werden, aber wir waren zur gleichen Zeit im Himalaya aktiv. Es wäre interessant zu wissen, was Reinhold Messner machen würde, wäre er heute jung.
Eine hypothetische Frage, auf die wir nie eine Antwort bekommen werden. Ihre Karriere als Bergsteigerin und auch Bergführerin nahm ein jähes Ende, als beim Pilzesammeln ein Stein Ihren Kopf traf. Die Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma und eine massive Schädigung des Hirnareals, das für den Bewegungsapparat zuständig ist.
Aber das Bergsteigen wirkt weiter. Es hat mir sehr geholfen. Die Berge sind eine gute Schule für die Schwierigkeiten und die besonderen Herausforderungen im Leben. Das Bergsteigen war eine Vorbereitung auf das, was jetzt ist. Jedes Mal, wenn es jetzt Schwierigkeiten gibt, denke ich an schwierige Situationen in den Bergen. Ist mir kalt, dann erinnere ich mich an die Basislager von K2 oder Everest oder ein ausgesetztes Biwak und sage mir: «Damals war es noch viel kälter.» Das hilft mir. Hinzu kommt, dass für mich als Bergführerin die Herausforderung normal war und dass ich gelernt hatte, mich minutiös und sehr genau vorzubereiten. Das muss man auch, wenn man im Rollstuhl sitzt. Und: Ich nehme vieles einfach mit Humor. Humor hilft viel, er macht vieles leichter.
Wie hat sich eigentlich die Bedeutung der Berge durch den Unfall für Sie verändert?
Ich lebe in Charmey und damit in den Bergen und in der Natur. Ich habe also Berge um mich herum. Aber der Bergsport interessiert mich nicht mehr gross. Wenn man die Protagonisten nicht mehr trifft, dann verfolgt man das nicht mehr so intensiv. Ich schaue auch keine Filme über Berge und das Bergsteigen. Wenn aber meine Schwester auf einen Berg steigt, dann freut mich das und ich bin in ihrem Herzen dabei. Ich habe fünf Nichten. Zwei davon sind sehr starke Bergsteigerinnen. Natürlich würde es mich freuen, würde eine davon Bergführerin werden. Aber das ist kein Muss und schon gar keine Verpflichtung.
Ihre Grossmutter soll Ihnen einmal den Rat gegeben haben, immer den schwierigeren Weg zu wählen. Bei Ihrem Unfall hat wohl eher das Schicksal voll zugeschlagen.
Was meine Grossmutter betrifft: Das hat sie mir tatsächlich geraten. Ich wähle immer noch den schwierigeren Weg. Und dann sage ich mir: «Das ist aber interessant.» Ich fordere mich damit also auf, eine Lösung für das Problem zu finden. Nichtsdestotrotz: Mein jetziges Leben wünsche ich niemandem. Und ob der Unfall Schicksal war? Ich hatte die Wahl. Statt für den Familienausflug zum Muttertag habe ich mich für das Pilzesammeln entschieden. Voilà, wir alle kennen das Ergebnis.
Erhard Loretan hatten Sie nach dem Unfall erklärt, mit ihm wieder auf das Matterhorn steigen zu wollen. Wann war der Zeitpunkt, an dem für Sie selbst klar war, dass das nie mehr passieren würde?
Ich habe lange gesagt, dass ich wieder laufen werde. Vielleicht habe ich ein Jahr lang wirklich fest daran geglaubt. Die Erkenntnis, dass es mit dem Matterhorn nichts mehr werden würde, kam dann langsam. Das kommt nicht an einem Tag. Man gewöhnt sich daran. Man gewöhnt sich daran, nicht mehr Skifahren gehen zu können. Man gewöhnt sich daran, nicht mehr klettern zu können und endlich (das meinte sie ironisch) den Lift nehmen zu müssen.
Gemeinsam mit 16 Frauen und dank Spezialschlitten erreichte Niquille im Sommer 2022 den Gipfel des Breithorns (Foto: Caroline Fink).
Zwar war es nicht das Matterhorn, aber dafür waren Sie im Sommer 2022 in Sichtweite des Matterhorns auf dem Breithorn.
Das war ein wunderschönes Erlebnis, ein ganz tolles Abenteuer. Ich hatte zufällig Caroline George in Zermatt getroffen. Sie kam als Bergführerin gerade mit einem Gast vom Breithorn zurück. Und sie fragte mich spontan, ob ich zum Breithorn mitkommen würde. «Ja, natürlich», sagte ich sofort. So kam das dann. Sie hat sich um das Team gekümmert. Ich mich um die Technik. Orthotec, die technische Werkstatt des Spitals Nottwil, baute den Prototypen des Schlittens und passte ihn dann nach Feldtests an. Die Leute bei Orthotec waren grossartig, sie haben uns den Schlitten sogar unentgeltlich überlassen. Dann fand Caroline 16 Frauen, die mich zum Breithorn schleppten. Auch Rita Christen, die Präsidentin des Schweizerischen Bergführerverbandes, und Heidi Hanselmann, Präsidentin der Schweizer Stiftung für Paraplegiker, waren mit dabei.
Vermutlich auch ein Rekord. Mir ist nicht bekannt, dass das vorher jemals jemand gemacht hatte.
Am Breithorn war ich einmal nicht die Erste, eine Gruppe des Pelotons de Gendarmerie de Haute Montagne in Chamonix hatte ein paar Jahre vorher einen querschnittsgelähmten Bergführeranwärter in einem Akja zum Gipfel des Breithorns gebracht.
Haben Sie eigentlich dort oben so etwas wie Gipfelglück gespürt?
Ja. Tatsächlich. Es war sehr, sehr schön und auch sehr emotional. Zumal das Breithorn mein erster Gipfel in den Alpen seit meinem Unfall war. Vor dem Unfall habe ich das Breithorn nie als so besonders empfunden. Jetzt war es aber wirklich wunderschön. Jetzt ist einfach jeder Berg besonders für mich. In Nepal war ich davor schon öfter auf über 4000 Meter hohen Gipfeln; dort aber nicht mit einem Schlitten, sondern auf dem Rücken von einem Träger oder auf einem Pferd.
Inklusion am Berg wird seit einigen Jahren immer mehr ein Thema – nicht nur an den höchsten Bergen, sondern auch in den Alpen. Was raten Sie Menschen mit Behinderung?
Alles, was Gutes tut, ist positiv. Das gilt für Gehende und Behinderte. Und für Behinderte ist es besonders wichtig, einen Traum zu haben und ihm zu folgen. Es gibt immer Träume, die sich verwirklichen lassen. Nur wer seinen Weg geht, hinterlässt Spuren. Ein Nicht-Behinderter kann sich das tägliche Leben eines Behinderten nicht vorstellen. Da ist jeder Tag eine Herausforderung, wirklich jeder Tag. Deshalb sollten Menschen mit Behinderung es wahrmachen und einen kleinen Moment lang ihren Traum leben. Und wenn der Traum eben ist, irgendwie auf einen Berg zu gelangen, dann ist es eben das. Ich würde gerne wieder so eine Tour machen wie auf das Breithorn.
Haben Sie schon eine konkrete Idee?
Nein. Aber ich bin offen für Vorschläge.
Wollen Sie da Vorbild sein? Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung hat Sie vor einem Jahr für Ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Wenn es helfen kann, bin ich gerne ein Vorbild. Ich will aber nicht im Rollstuhl sitzen, nur um ein Vorbild im Rollstuhl zu sein.
Mindestens einmal pro Jahr reist Niquille nach Nepal, wo sie ihre Behinderung als weniger problematisch empfindet als zu Hause in der Schweiz.
Was stört Sie am meisten in Ihrem Alltag?
Bauliche Probleme gibt es für mich nicht. Es stört mich nicht, wenn ich eine Treppe nicht hinaufsteigen kann. Mich stört der Umgang der anderen mit Behinderten. Zum Beispiel, wie man mich anschaut, wie man auf mich herunterschaut. Im Rollstuhl bin ich immer niedriger als andere. Das erlebe ich als Nachteil. Es gibt sogar Leute, die legen ihre Hand auf meinen Kopf und tätscheln ihn wie bei einem Kind. Dieses Verhalten stört mich. Als ich noch nicht im Rollstuhl sass, hat das nie jemand gemacht. Warum aber jetzt? Ich finde, dass, wie für andere auch, für Behinderte gelten sollte, ihnen ohne Vorurteile zu begegnen.
Sie engagieren sich seit vielen Jahren für Menschen in den Bergen und für ihr Wohlergehen, nämlich für Menschen im Himalaya-Staat Nepal.
Es gibt dort ein Krankenhaus, das ich gegründet habe.
Wie kam das?
Nach meinem Unfall führte ich ein Gasthaus. Ein Nepali arbeitete bei uns. Ang Gelu Sherpa, so heisst er, ist der Bruder der ersten Nepali, die den Gipfel des Mount Everest erreichte. Mit dem Erfolg am Everest und der Aufmerksamkeit wollte Pasang Lhamu Sherpa das Leben von Frauen und Kindern in ihrem Land verbessern. Jedoch starb sie beim Abstieg und konnte ihren Traum nie erfüllen.
Das war im April 1993.
Ich wollte dazu beitragen, dass ihre Familie einen kleinen Teil ihres Traums verwirklicht sieht. Das Geld, das ich von meiner Unfallversicherung bekam, wollte ich für einen humanitären Zweck einsetzen. Und so entstand die Idee, in Lukla ein Spital zu bauen. Marco, mein Mann, und ich haben eine Stiftung gegründet. Jedes Jahr muss ich 500’000 Schweizer Franken dafür aufbringen. So viele private Spender zu finden, das ist eine Herausforderung; es ist ein harter Kampf. Aber wenn ich die glücklichen Gesichter in Nepal sehe, dann bin ich froh und weiss, dass der Einsatz sich lohnt.
Nicole Niquille zu Besuch beim Pasang Lhamu Hospital in Lukla anlässlich des 10-jährigen Jubiläums, 2015. (Fotos: hopital-lukla.ch)
Sie fahren deshalb auch regelmässig nach Nepal.
Richtig. Mindestens einmal pro Jahr.
Nepal fällt uns nicht gerade als erstes Land ein, wenn es um Barrierefreiheit geht.
Das dachte ich zunächst auch. Nach dem Unfall habe ich deshalb meinem Freund Pema Dorjee Sherpa geschrieben, ich würde nun nicht mehr nach Nepal reisen. Seine Antwort war: «Wenn du nicht mehr gehen kannst, dann tragen wir dich eben.» In Nepal empfinde ich meine Behinderung viel weniger problematisch als zu Hause in der Schweiz. Es gibt in Nepal wirklich immer eine Lösung. Wenn mein Mann Marco nicht mitkommen kann, dann begleitet mich eine Freundin. Sie bringt mich ins Bett und hilft mir auf der Toilette. Und zudem sind da drei Sherpas bei mir. Zwei, die mich tragen, und einer, der den Rollstuhl trägt.
Das klingt abenteuerlich.
Ich erinnere mich gut an eine Situation. Wir waren auf dem Weg nach Namche Bazar, dem Hauptort in der Everest-Region. Vor der grossen Brücke mussten wir warten, weil eine Pferde-Karawane die Brücke passierte. Und als die Pferde durch waren, gingen wir über die Brücke. Ein Träger trug mich. Es war ein bisschen windig an diesem Tag. Da kam uns ein Tourist entgegen und blaffte mich an: «Willst du sterben?» «Nein», antwortete ich. «Ich will genau das Gegenteil. Ich will leben.» Denn wenn man lebt, dann muss man auch Risiken eingehen, sonst existiert man nur.
Nicole Niquille, Jahrgang 1956, hielt 1986 als erste Frau der Schweiz das Bergführerdiplom in Händen. Das Klettern hatte sie in den Gastlosen entdeckt. Schon bald war sie im Montblanc-Gebiet, stieg durch die Brenvaflanke und über den Frendopfeiler, am Trollryggen in Norwegen und sie unternahm gemeinsam mit ihrem damaligen Partner Erhard Loretan Expeditionen zum K2 und zum Mount Everest. Am 8. Mai 1994 war sie beim Pilzesammeln, als ein Stein sie am Kopf traf. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma. Besonders betroffen das Hirnareal, das für die Bewegung zuständig ist. Von einer auf die andere Sekunde war alles anders. Seitdem sitzt die Frau, die vorher immer in Bewegung war, im Rollstuhl. Nicole Niquille lässt sich davon nicht aufhalten. Voller Energie und Tatendrang legte sie die Wirtefachprüfung ab und eröffnete ein Restaurant. Und Nicole Niquille gründete eine Stiftung und baute ein Spital in Nepal auf. Regelmässig ist sie seither in dem Land im Himalaya unterwegs. Und noch immer findet sie auf Bergen ihr Glück.
Bächli Buchtipp: «Himmelwärts – Bergführerinnen im Porträt» von Daniela Schwegler, Rotpunktverlag. Zwölf Frauen, darunter Nicole Niquille, erzählen in diesem Buch von der Leidenschaft, die sie antreibt.
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