Man muss nur weit genug weg sein, um das ganze Bild zu erfassen. Vielleicht braucht es Flachländer, um die Berge in ihrem ganzen Ausmass zu erkennen. Seit ich in den Alpen unterwegs bin, begegnen mir dort Holländer mit nicht zu bremsendem Enthusiasmus und beeindruckendem Können. In «Der unendliche Gipfel» steigen sie auch literarisch ganz oben mit. Der Journalist und Schriftsteller Toine Hejmans hat sich aufgemacht, das Bergbuch der Bergbücher zu schreiben.
Und es ist ihm gelungen. Nicht wegen der monumentalen Story, sondern weil er einfach alles vorkommen lässt, was die Berge, diesen Resonanzraum menschlichen Tuns und Denkens so gewaltig macht. Noch nie habe ich die Fülle der klassischen Erzählungen so vollständig versammelt gefunden. Auf 340 packenden Seiten gerät das Buch zu einem Greatest-Hits-Album der Bergliteratur. In dieser Grossartigkeit liegt auch Absturzgefahr. Aber um es mit seinen beiden Kletterpunks zu sagen: No risk, no fun.
Wie ihr Autor stammen die beiden Romanfiguren aus Holland. Zwei Aussenseiter, die sich an einer alten Brücke versuchen, die sie zu ihren Alpen erklären. An ihr bringen sie sich das Klettern bei, erschliessen ihre ersten Routen, biwakieren unter ihr und steigen im Schlaf all den Bonattis nach, die sie aus Büchern kennen. Es dauert, bis sie das erste Mal in Chamonix durch das Tor des Lichts steigen und so richtig höhenkrank werden, was sie auf ihre Instant-Nudeln schieben, so wie sie jedes Hindernis, das sich nicht überklettern lässt, ignorieren.
Die Berge gehören ihnen und sämtliche Gipfel, die sie im Sturm und Drang abhaken. Es folgt die Variation einer Freundschaft, die sich anseilt zur Schicksalsgemeinschaft. Der eine bringt den Wagemut, der andere die Weisheit, wie man ihn überlebt. Sie tauschen die besetzten Häuser mit dem Leben in Biwaks, werden Dirt-Climbers. Später auch Bergnomaden, die wie Astronauten durch den Himalaja stolpern. Nichts kann sie aufhalten, doch sie stossen an die Erkenntnis, dass sie all die Herrlichkeit nur als Nachsteiger erleben. Ein Dilemma, das sie mit dem nacherzählenden Autor teilen.
«Ein Buch voller Sätze für die Ewigkeit»
Welches Kapitel können sie selbst ins Buch der Legenden schreiben? Sie gehören einer Generation an, für die es nichts mehr zu erobern gibt. Die beiden Kletterer finden ihren Ruhm durch eine selbstlose Rettungsaktion. Von nun an sind sie Stars. Ihre Freundschaft jedoch stürzt ab. Der eine wählt die Route in die Realität, Freundin, Karriere, Kind, der andere wird heimatloser Solo-Kletterer. Wir sondern uns in den Bergen ab, und wenn es zu spät ist, können wir nicht mehr zurück.
Am Ende begegnet er seinem jugendlichen Ich in der Version eines YouTubers, und am bitteren Ende nur noch sich selbst. Nichts weiter ist ihm geblieben. «Der unendliche Gipfel» lässt uns erschlagen zurück nach einer Tour de Force durch die machtvollen Motive von Schuld, Flucht, Unbesiegbarkeit, Jugend, Verrat, Kommerz, Heimat, Fremde, Eroberung, Erinnerung, Verlust, Freundschaft, Abhängigkeit, Extremismus, Ausverkauf, Tod, Egoismus und zerspringendes Herz.
Alles funktioniert besser in den Bergen. Der Schall ist schneller, das Licht schärfer, die Gefühle tiefer, alles ist wichtig. So vieles findet sich hier meisterhaft und präzise formuliert, und endlich auch die beste, weil originellste, weil ehrlichste Antwort auf die Frage, warum klettert ihr? Weil ich davon einen Steifen kriege. Ein Buch voller Sätze für die Ewigkeit, aber seinen Ruhm erlangt es durch die bewusste Abwesenheit von Moral und Pathos. Toine Hejmans setzt uns mit seiner Sammlung aus Bergerzählungen der vollen Ambivalenz aus. Die Fanatiker und ihr Nichts. Das muss man aushalten können. Das ist sein persönliches Kapitel, das er den Legenden hinzufügt.
«Der unendliche Gipfel» ist ein Buch für alle, die den Bergen verfallen sind, sie werden auf jeder Seite nicken und nicken. Und es ist ein Geschenk für all jene, denen die Bergsteigerei ein Rätsel ist, die sich fragen, was es mit dieser Leidenschaft auf sich hat, mit dieser Faszination, die sich nicht begreifen, aber immer wieder grandios erzählen lässt.
Toine Hejmans «Der unendliche Gipfel»
Mairisch Verlag, 2023 Link zum Buch
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