Kletterschuhe wirken auf den ersten Blick simpel: Obermaterial, Verschlusssystem und glatte Sohle. Bei näherer Betrachtung kristallisieren sich ergonomische Eigenschaften wie Asymmetrie, Vorspannung und Downturn heraus, welche die Fussform beeinflussen. Und wer das Schuhwerk noch detaillierter unter die Lupe nimmt, wird mit kryptisch anmassenden Sohlenbeschreibungen konfrontiert. Namhafte Hersteller werben mit XS-Grip 2, Trax SAS, RH, Edge oder FriXion. Spätestens jetzt dürften Laien den Überblick verlieren. Alles nur Marketing? Teilweise ja, aber die ominösen Titel haben ihre Berechtigung, denn jede Gummimischung – die offensichtlich einen technischen Namen erhält – hat ihre spezifischen Eigenschaften, die sie von anderen unterscheidet.
Chemische Prozesse und Tüftelarbeit
Um zu verstehen, was die schwarze Beschichtung an Kletterschuhen ausmacht, müssen wir zuerst einige Begrifflichkeiten klären. Diesbezüglich ist es wichtig, zu verstehen, was Gummi überhaupt ist. Unterschieden wird zwischen natürlichem und industriellem Gummi. Ersterer ist ein Pflanzensaft, der aus verletzten Stellen – beispielsweise an Bäumen – austritt und eine Schutzfunktion besitzt. Letzterer gehört zur Gruppe von Kunststoffen, die formfest, jedoch elastisch verformbar sind. Sogenannte Elastomere. In einem chemischen Verfahren namens Vulkanisierung wird Gummi hergestellt.
Martin Waibel leitet die Kletterschuhentwicklung bei Red Chili
Industrieller Gummi ist zu 97 Prozent erdölbasiert, mit den restlichen 3 Prozent werden mittels chemischer Zusätze die mechanischen Eigenschaften definiert: Klebrigkeit, Abrieb, Elastizität und so weiter. Und noch ein Stoff findet sich im Gummi: Industrieruss, der zur Verstärkungswirkung beigemischt wird. Daher übrigens auch die pechschwarze Farbe des Materials. Und eine weitere Erkenntnis: Industrieller Gummi ist definitiv kein nachhaltiges Produkt. Als europäische Basis für die Mischung im Gummi dient der REACH Standard, der die chemische Zusammensetzung für industrielle Prozesse reguliert. Soweit, so gut.
Summa summarum definiert also ein Spielraum von 3 Prozent und chemischen Nuancen über Reibung, Abrieb, Dichte und Härte der Kletterschuhsohle – und eben über deren Beschreibung. Was nach wenig klingt, ist dennoch ein langwieriges Verfahren. Das weiss Martin Waibel, Leiter der Kletterschuh-Entwicklung bei Red Chili, bestens und beschreibt es an einem aktuellen Kletterschuh-Modell: «Das Design stand in einem Monat, hinter der perfekten Gummimischung steckten jedoch drei Jahre Arbeit.»
Eine Frage des Einsatzes
Es fängt damit an, dass Überlegungen gemacht werden müssen, für welchen Bereich ein Kletterschuh konzipiert werden soll. So würde laut Waibel ein Mietschuh für Kletterhallen mit langlebigem Gummi versehen, während ein Highend-Produkt mehr Klebrigkeit für satteren Halt benötigt. Letzteres ist mit einem höheren Abrieb verbunden, wodurch der Zerschleiss schneller von statten geht. Die Krux hierbei ist es, die perfekte Balance zu finden.
Gerade bei hochwertigen Kletterschuhen spielt das Einsatzgebiet eine wichtige Rolle. Um auf schmalen Granitleisten stehen zu können, braucht der Kletterschuh eine harte Sohle mit gutem Kantenhalt. Für effiziente Toe-Hooks ist hingegen eine Zehenkappe aus weicherem, haftendem Gummi von Vorteil.
Für Kletterinnen und Kletterer ist es letztendlich ausschlaggebend, dass sie ihre Leistung an die Wand bringen können. Die Gummimischung soll sie dabei unterstützen. Ob sie nun diesen oder jenen Namen trägt, sollte eigentlich keinen Unterschied machen. Eigentlich. Dass die Sohlen von Kletterschuhen dennoch in der Regel explizit ihre Gummimischung ausweisen, hat trotz allem seine Gründe.
Markenpsychologie
Vibram beispielsweise bietet ihr XS Grip 2 Produkt für alle Hersteller an. Vibram Edge und XS 1 hingegen sind ausschliesslich für Scarpa und La Sportiva verfügbar. Darüber hinaus gibt es Produzenten wie Unparallel, die hauseigene Mischungen verwenden und diese entsprechend bewerben.
Ausserdem spielt bei der Besohlung ein psychologischer Faktor mit. Das merkt man vor allem, wenn Gummimischungen des italienischen Traditionsunternehmens Vibram – dessen Name sich übrigens von Vitale Bramani, dem Firmengründer, ableitet – verwendet werden. Das gelbe Logo ist in den Köpfen von Bergsportaktiven derart als Qualitätssiegel gefestigt, dass Schuhe, die damit versehen sind, automatisch als besser empfunden werden, auch wenn andere Gummimischungen gleichwertig sind. «Wenn Schuhe mit Vibram-Stempel am Fels schnell abreiben, wird es von Kundinnen und Kunden eher akzeptiert als bei solchen ohne», stellt Waibel fest.
Im Endeffekt ist es wichtig, einen Kletterschuh nach Kriterien des Einsatzzweckes zu beurteilen. Wer in einem Modell die optimale Passform gefunden hat, tut gut daran, die Gummimischung unter die Lupe zu nehmen. Jeder technisch-marketing-getriebene Begriff kann entschlüsselt werden. Mit dem Hintergrundwissen über Klebrigkeit, Abrieb oder Härte wird aus dem an und für sich hochkomplexen hoffentlich ein verständliches Themenfeld.
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