Um drei Uhr nachts reisst uns Surij, der Koch, militärisch
aus unseren Träumen. Es ist sternenklar
und eiskalt. Julian, der Jüngste unter uns, streckt
sich nach vorn und zieht den linken Bergschuh vor dem
rechten an. Auch Alpinisten sind abergläubisch. Oder
gerade? Nach einem kurzen Frühstück verlassen wir
das Basislager. Unser Ziel: Die Nordwestwand des Cerro
Kishtwar. Ein zweites Mal. Ob wir dieses Mal erfolgreich
sein werden? Erwartungsvoll sucht Stephan den Himmel
nach glücksverheissenden Sternschnuppen ab. Ich
selbst lege einen kleineren rötlichen Stein auf einen
grossen herzförmigen, dessen Spitze zum Cerro zeigt.
Jeder hat sein eigenes Ritual. Vor uns ragt die senkrechte
Granitwand in den Himmel. Die Herausforderung, das
Abenteuer. Jetzt oder nie!
EIN ANBLICK ZUM SCHWÄRMEN
Ein Jahr zuvor hat mir Stephan ein Bild des Cerro Kishtwar
geschickt. Perfekt, denke ich. Als könne es nichts Besseres
geben. Der Sechstausender im Kashmir, der an
den Cerro Torre erinnert, lässt Alpinisten immer wieder
ins Schwärmen geraten. Mick Fowler und Steve Sustad
waren die Ersten, die 1993 den 6155 Meter hohen Gipfel
über die Nordwest- und Nordostwand erreichten. Fast
zwei Jahrzehnte vergingen, bis er ein weiteres Mal
bezwungen wurde: Von Konflikten geprägt, wurde Kashmir
Mitte der Neunziger für ausländische Alpinisten
gesperrt. Erst ab 2010 wurden die Bestimmungen etwas
gelockert – bereits ein Jahr später reiste Stephan in die
zwischen Indien, Pakistan und China umstrittene Region
mit ihren zahlreichen Sechs- und Siebentausendern.
Gemeinsam mit Denis Bordet und David Lama bestieg
er den Cerro Kishtwar über die Nordwestwand. In den
folgenden Jahren kehrte Stephan immer wieder nach
Kashmir zurück, realisierte sieben Erstbesteigungen
und eine neue Linie am Kishtwar Shivling.
Nun hat er eine neue Route auf den Cerro Kishtwar im
Kopf. Durch eine bislang undurchstiegene Wand. Nach
zwei gescheiterten Versuchen am Latok I bin ich von der
Idee sofort angetan. Ein drittes Scheitern in Folge würde
meinem Selbstbewusstsein als Bergsteiger wohl einen
Knacks versetzen. Eine gedankliche und praktische Pause
vom Latok I, ein anderes Ziel und eine andere Herausforderung
sind genau das, was ich jetzt brauche. «Bin
dabei», schreibe ich zurück. «Wann geht’s los?»
VORBEREITUNGEN VOR ORT
Kashmir, ein Jahr später. Anfang September wandern
Stephan und ich auf einem Pilgerweg durch das besiedelte
Machail-Tal, in dem sich eine der wichtigen hinduistischen
Tempelstätten befindet. Im August pilgern rund
80‘000 Menschen zum Tempel, Touristen trifft man dagegen
selten an. Als wir vorbeikommen, ist der Ort verlassen.
Bunte Fahnen flattern im Wind und nur der Müll
am Wegesrand zeugt von den Menschenmassen, die hier
im vergangenen Monat unterwegs waren. Hinter Machail
wird die Landschaft ursprünglicher. Nach einer Nacht
in Sumchan, dem letzten – nun buddhistischen – Dorf
«Es war für mich eine
grosse Chance, mit
Stephan und Thomas
unterwegs sein zu
dürfen. Ich konnte viel
von ihnen lernen.»
auf unserem Weg zum Kishtwar, treffen
wir in den höhergelegenen Tälern nur noch
auf Schafhirten, die wiederum islamisch
geprägt sind. Zumindest hier im Tal scheint
das Zusammenleben der unterschiedlichen
Religionen zu funktionieren. Als
wir schliesslich das etwa 4000 Meter
hoch auf einer Randmoräne gelegene
Basislager erreichen, liegt ein sechstägiger
Fussmarsch hinter uns. Doch die Wetterverhältnisse
sind so gut, dass wir gleich am
nächsten Tag weiter in Richtung Cerro Kishtwar aufbrechen,
um ein vorgeschobenes Basislager auf 5050 Meter
einzurichten. Auf dem Weg zur Wand bleibe ich immer
wieder stehen. Obwohl ich schon viele beeindruckende
Berge gesehen habe, staune ich hier ständig aufs Neue
über die Wildheit der Landschaft. Nach mehreren Materialtransporten
– 150 Kilogramm Ausrüstung werden
ins vorgeschobene Basislager gebracht – geht es los.
Endlich! Die Wand übt eine solche Faszination aus, dass
wir es kaum erwarten können: im unteren Teil eine rund
vierhundert Meter hohe, steile Eisflanke mit kombinierten
Passagen, darüber eine sechs- bis siebenhundert
Meter hohe Granitwand. Linkerhand sind die Spuren der
Erstbegeher im Eis erkennbar, rechterhand die von
Siegrist, Bordet und Lama 2011. Die geplante Linie liegt
in der Mitte. Schwierig sieht sie aus, aber die Risssysteme
sind gut sichtbar und damit kalkulierbar.
Mittlerweile ist auch Julian eingetroffen, der wegen des
Abschlusses seiner Bergführerausbildung erst später
starten konnte. «Du brauchst nur noch deinen Schlafsack
auszurollen und deinen Klettergurt anzuziehen»,
begrüssen wir ihn grinsend. Nach einer kurzen Akklimatisierungsphase
fangen wir an: Der untere Teil der Wand
wird mit Fixseilen versichert, dann zerren wir die Haulbags
bis zum beginnenden Fels: Portaledge, Schlafsäcke,
Isomatten, Kocher, das gesamte Kletterequipment
und Proviant, genau berechnet. In fünf Tagen wollen wir
den Gipfel erreichen, wenn es gut läuft vielleicht auch in
vier. Das heisst Hauptmahlzeiten und Riegel für fünf Tage,
zwei Dosen Mineraldrink, Müesli, Kaffeepulver, Gummibärchen.
Und ein Stück feinsten Specks aus meiner
Heimat-Metzgerei in Berchtesgaden.
SCHWERER ANSTIEG
Noch einmal kehren wir zurück ins Basislager. Zeit für
jeden, die persönliche Ausrüstung zu optimieren, zu
schlafen, zu essen und sich auf den entscheidenden
Anstieg vorzubereiten. Am letzten Septembertag dreht
der Wind in der Höhe auf Nord, die Restfeuchtigkeit, die
am Nachmittag immer wieder für etwas Niederschlag
gesorgt hatte, ist verschwunden und hinterlässt einen
stahlblauen, wolkenlosen Himmel. Es geht los. Oberhalb
des Einstiegs zieht sich ein haarfeiner Riss rund
150 Meter bis auf ein Band empor. Doch wer fängt an?
Wortlos rüstet sich Julian mit Cams, Stoppern, Haken
und Bird Beaks aus. Kletterschuhe und Magnesia
bleiben erst mal im Haulbag – es ist schattig und kalt,
vielleicht minus zehn Grad. Die Sonne wird sich erst am
Nachmittag blicken lassen. Stephan baut unser Lager
auf, ein Portaledge für drei Personen. Ich lege das
Seil in das Sicherungsgerät. Julian schlägt zwei Meter
über dem Stand den ersten Bird Beak. Der Hybridhaken
ist mittlerweile das wichtigste Tool der modernen
Techno-Kletterei; mit ihm lassen sich fast kompakte
Passagen bewältigen, ohne dafür ein Loch in den Felsen
bohren zu müssen. Nach drei Stunden richtet Julian
einen Standplatz ein, Stephan übernimmt. Ich mache
es mir im Portaledge bequem. Von oben dringen Flüche
herab: «A huere Schiiisdreck!» Alle Risse sind geschlossen.
Ich schalte auf Durchzug – ändern kann ich sowieso
nichts. Am Abend haben wir nur 50 Meter geschafft. Viel
weniger als erhofft. Zu wenig, um in fünf Tagen den
Gipfel zu erreichen.
Der nächste Tag. Nach einem schnellen Frühstück – ein
paar Löffeln Müesli und einer Tasse Kaffee – steige ich
mit Julian zum gestrigen Umkehrpunkt. Er sichert, ich
arbeite mich stetig nach oben. Ohne die Bird Beaks würde
ich manchmal nicht weiterwissen. Kurz nach Mittag
erreiche ich das ersehnte Band, wo wir unser nächstes
Lager einrichten. Julian, der mich vier Stunden gesichert
hat, ist durchgefroren und spürt seine Zehen nicht
mehr, Stephan übernimmt. Ich quere das Schneeband
nach rechts, endlich kommen die perfekten Risse! Am
Abend bin ich völlig euphorisiert und zuversichtlich.
Doch am dritten Tag folgt die Ernüchterung: Nur 35
Meter in sechs Stunden! Nicht mal ein Drittel der Wand
ist geschafft. Stephan kämpft mit einer geschwollenen
Hand, Julian mit gefühllosen Zehen. Ich mit der Angst,
auch hier zu scheitern. Die Essensportionen werden
reduziert und jeder versucht, irgendwie Schlaf zu finden.
In Gedanken gehen wir die möglichen Szenarien durch.
Weitergehen? Die Essensrationen auf ein Minimum
reduzieren und noch einmal alle Kräfte bündeln? Oder
umkehren? Kletterseile fixieren, sodass der Status quo
vom Basislager aus in einem Tag erreicht werden kann?
Etwas drückt in meiner Jackentasche. Es ist der kleine
Stein, den mir meine Tochter vor der Abreise gab.
«Mut» steht darauf. Wenn wir jetzt absteigen, denke ich,
laufen wir nicht davon, sondern beweisen Mut. Können
uns erholen, um dann noch einmal mit voller Kraft und
vollem Vertrauen durchzustarten. Am darauffolgenden
Tag kehren wir ins Basislager zurück.
«Bereits bei meinem
ersten Besuch war ich
überwältigt von der eindrucksvollen
Gebirgswelt,
der Ästhetik der
Berge und den vielen
ungekletterten Linien.
Obendrein trifft man hier
kaum auf andere Bergsteiger
oder Touristen.»
STEPHAN SIEGRIST
MIT VOLLER KRAFT ZURÜCK
Achter Oktober. Zurück am Ausgangspunkt der
Wand. Wenige Tage haben gereicht, um neue
Kräfte zu sammeln. Am Morgen ist das Wetter
freundlich, doch der Wind hat gedreht und bringt
am Nachmittag Quellwolken und Schnee. Die Voraussetzungen
sind nicht ideal, aber keiner von
uns denkt an einen weiteren Rückzug. Wir sind
bereit, alles anzunehmen, was die Wand bereithält.
An unsere Grenzen zu gehen.
Das müssen wir. Es wird harte Techno-Kletterei
unter widrigsten Bedingungen: Die Risse sind
vereist, Spindrift überschüttet uns im Aufstieg
mit Schnee. Im Portaledge ist alles klamm,
feucht oder vereist und entbehrt jeder Annehmlichkeit.
Die Temperaturen sinken teilweise auf
bis zu minus zwanzig Grad. Dann, am Abend des
fünften Tages, haben wir ein kleines Felsband
auf 6100 Metern erreicht. Darüber legt sich die
Wand zurück, der Gipfel ist spürbar nah. Am
Morgen des 14. Oktober zeigt sich der Himmel
wolkenlos und die aufgehende Sonne taucht die
umliegenden Berge in sanftes Licht. Die letzten
hundert Meter sind ein Geschenk: Leichte, kombinierte
Kletterei führt in eine Scharte, von dieser
sind es nur noch wenige Schritte bis zum Gipfel.
Es ist absolut windstill. Stephan, Julian und ich
gehen die letzten Meter gemeinsam und können
unser Glück kaum fassen. «Har-Har Mahadev»
soll die Route heissen. Der Satz aus der hinduistischen
Mythologie ist dem Gott Shiva gewidmet
und bedeutet übersetzt so viel wie «Steigere die
moralischen Werte, damit du die Angst überwindest,
um gefährliche Situationen zu meistern.»
Oder wie wir in Bayern sagen würden: «Reiss di
zamm».
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar schreiben