Die lange, über 500 Meter hohe Kalksteinwand des L’Argentine in der Romandie ist vor allem für ihre spiegelglatten «Miroir»-Routen berühmt. Eine neue Route in der Nordwestwand des Zentralgipfels, rechts von den Miroir-Routen, schien unmöglich zu sein: Der obere Teil ist steil und kompakt wie sonst nirgends im Massiv, während darunter ganze Terrassen mit schlechtem Fels liegen. Dennoch haben Jean-Michel «Jean-Mi» Pauchard und ich uns beharrlich bemüht, einen Weg durch dieses Labyrinth zu finden. Zentimeter für Zentimeter reinigten wir den Fels. 600 Bohrhaken und 40 Tage Arbeit hat es zwischen 2019 und 2022 gebraucht, um die Route zu erschliessen – das Ergebnis übertrifft all unsere Erwartungen.
Als wir uns das erste Mal über die Wand abseilen, bekennt Jean-Mi, der seit mehr als 25 Jahren klettert: «Ich weiss, dass du dem Material vertraust, ich kenne deinen Sinn für Humor und deine Sparsamkeit. Aber wenn wir beide ohne Tritt an einem solchen Abgrund an einem Haken hängen, beladen mit riesigen Rucksäcken, dann wird mir schwindlig. Ich möchte, dass du an meine Angst denkst, danke, dass du einen zweiten hinzufügst.» Man glaubt gar nicht, wie gut ein zehn Millimeter dicker Metallstift, der sieben Zentimeter tief im Fels steckt, eine Freundschaft bewahren kann.
Nach einigen Erkundungen erscheint es uns vernünftiger, das Projekt von oben mit fixierten Seilen anzugehen. Aber zuerst hacken wir uns einen Pfad und setzen 350 Meter Fixseile, die uns die Traverse unter der Wand zu unserem Biwakplatz erleichtern. In Fässern deponieren wir Kletter- und Biwakmaterial. Diese insgesamt zehn Tage der Erkundung und Vorbereitung haben unsere Begeisterung nicht gedämpft – mit den Songs von Sabaton, der berühmten schwedischen Hardrock-Band, haben wir eine sehr wirksames Stimulans gefunden.
Mit traumhaftem Fels und
grosszügigem Ambiente belohnt
der obere Wandteil die harte Arbeit
der Erschliessung.
Erschliessung der Wand: eine erdige Angelegenheit
Ein typischer Erschliessungstag beginnt in Solalex mit einem Aufstieg mit Gepäck bis zum Biwak, wo wir ein zweites Frühstück verschlingen. Cédric Lachat hat uns den Pantin gezeigt, eine Fusssteigklemme, die die Jumars ergänzt und mit denen wir viel schneller an den Fixseilen sind. Die ersparte Zeit brauchen wir auch, denn im unteren Teil ist der Fels oft unter einer 20 bis 30, manchmal auch 50 cm dicken Erdschicht versteckt. «Was machen wir hier eigentlich?», das fragen wir uns nicht nur einmal an diesen Tagen harter Arbeit mit Schaufeln, Hämmern, Brechstangen, verschiedenen Schabern und anderen Werkzeugen. Dann folgt endlich das Setzen der Bohrhaken. Gute Momente gibt es auch: wenn die Erde dem Fels weicht oder wir Felsbrocken mit viel Getöse die Wand hinunterrollen und der Geruch von Pulver aufsteigt.
Obwohl der Fels so kompakt aussieht, musste auch im oberen Teil viel schwarze Erde aus den Felsen entfernt werden. Alles braucht Zeit, jeder Umweg will erforscht werden: Nehmen wir lieber den einfachen Weg, der mehr Reinigung, Bohrhaken und Zeit erfordert? Oder gehen wir direkt über den schwierigen Absatz? Oft versuchen wir beide Optionen und studieren, welche sich besser klettern lässt. Die letzten Bohrhaken setzen wir am Abend des 11. August 2021, aber wir sind zu erschöpft, um diesen Moment zu geniessen.
Skizze von «Sully» von Claude Remy
20. August 2021: Erstbegehung von «Sully»
Nach einem nächtlichen Aufstieg erreichen Jean-Mi und ich den Einstieg von «Sully» bei Sonnenaufgang. Ein Frühstart empfiehlt sich, am besten an einem langen und heissen Tag mit hohem Druck und trockenem Fels. Die gesamte Route ist sehr gut abgesichert, insbesondere in den Crux- und Querungsbereichen sind die Hakenabstände sehr eng. Sich auf einer Route dieser Schwierigkeit und Grösse so wohlfühlen zu können, frei klettern zu können, vielleicht sogar onsight: Diese Herausforderung hat in gewisser Weise das manchmal hasardeurmässige Klettern von früher ersetzt. Trotzdem sollte jeder Wiederholer an lange, alpine Routen gewöhnt sein und ein gutes Nervenkostüm mitbringen.
Zum Beispiel in der 24. Seillänge, die mit einem extrem ausgesetzten, schrägen, absteigenden Riss aufwartet. Die Kräfte lassen bereits nach, die Bewegungen verlieren an Eleganz. Aber was heisst das schon: Auch mit den Knien kann man effizient klettern. Und überhaupt hat ja jeder seine eigene Methode: Schliesslich ist das Klettern die Kunst, den Felsen zu seinem Vergnügen zu nutzen. Im nachfolgenden Quergang über dem Dach beruhigen gute Griffe die Nerven, während die Leere unter den Füssen zunimmt. Mit der letzten Verschneidung verlassen wir auch die Ausgesetztheit und stehen am Gipfelplateau des L’Argentine. Vierzig Tage voller Zweifel, Hoffnung, Freude! Tränen glitzern auf unseren Wangen, während ein grossartiges Abenteuer in einer unglaublichen Route zu Ende geht.
Basislager: Das Biwak am
Wandfuss von «Sully»
Für Wiederholer
Die Schwierigkeit von «Sully» beziffern Remy und Pauchard mit 6b obligat. Benötigtes Material: 2x 50 Meter Seile, 18 Expressschlingen, Helm, Keile, Stirnlampe. Für den Abstieg empfiehlt sich das Abseilen über die Route. Abseilstände sind eingerichtet. In drei Passagen, nämlich in den Seillängen 1-5, 15-16 und 23-25 gibt es mit «Sabaton» (7c) noch eine schwerere Alternative zu «Sully». Gewidmet ist «Sully» dem langjährigen Wirt des Refuge du Solalex, Sully Rieben (1957-2022). «Eine unglaubliche Reise – sofort wiederholen!», schreiben Fabien Brand und Mathieu Mayencourt, die im Juli 2022 die Route erstmals wiederholten. Im August 2022 stiegen Emilie Langard und Cédric Lachat durch «Sully»: «Eine einzigartige Route in dieser Schwierigkeit und Länge, perfekt ausgerüstet.»
Das Glück der Tüchtigen
steht Pauchard
und Remy ins Gesicht
geschrieben.
Fotos: Gilles Damay, David Haefeli
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar schreiben