Mit Shorts, Trailrunning-Schuhen und einem 15-Liter-Rucksack 165 Kilometer und rund 9000 Höhenmeter von Davos nach St. Moritz laufen – klingt nach einer absurden Idee? Keineswegs! Dank trailrunningfreundlicher Hotels, laufbaren Distanzen und extrem abwechslungsreichen Trails ist die von uns getaufte «Via Grischuna» die perfekte Durchquerung für Bergläuferinnen und Bergläufer. Der Mehretappentrail verläuft mitten durch karge Mondlandschaften, über hochalpine Pässe, an zahlreichen glitzernden Bergseen vorbei und durch stille, idyllische Bergdörfer und Seitentäler.
An einem Augustabend trifft sich unsere vierköpfige Crew, bestehend aus dem Fotografen Duo Dan und Janine Patitucci, dem Läufer Brian und mir, Kim, im Berghaus Vereina, das auf knapp 2000 Metern Höhe im gleichnamigen und wohl schönsten Hochtal Graubündens liegt. In der gemütlichen Stube essen wir zu Abend und bereiten uns auf die kommenden Tage vor: «Via Grischuna» wird uns über die Jöriflüelafurgga und den Scalettapass führen und durch das Val Bever zum höchsten Punkt der Durchquerung, der Fuorcla d’Agnel auf knapp 3000 Metern Höhe. Auf der alten Römerstrasse geht es zum Septimerpass, weiter zum Pass Lunghin und seinem gleichnamigen schroffen Gipfel. Danach durchlaufen wir das idyllische Val Roseg bis nach Pontresina, ehe wir über das Hochplateau des Val Languard unser Zeil erreichen: St. Moritz. So wollen wir Heidis Heimat durchstreifen, das in den Sommermonaten für türkisfarbene Seen, saftige, grüne Wiesen und Wälder, Kuhglocken, schroffe Gipfel und feine Bündner Nusstorte berühmt ist. Doch bevor wir uns der Nusstorte hingeben, packen wir unseren winzigen 15-Liter-Rucksack und laufen los!
Etappe 1
- Berghaus Vereina – Gasthaus Dürrboden
- Distanz: 23 km
- Höhenmeter: hoch 1446 m, runter 1378 m
Nach langem Planen und noch längerem Warten – aufgrund der Pandemie, aber auch durch den frühen Wintereinbruch letzten Herbst – können wir es kaum abwarten, unsere Trailrunningschuhe wieder zu schnüren. Vor allem Brian, ein Amerikaner, der nun in der Schweiz lebt und mit uns bis dato noch keine mehrtägige Tour unternommen hat. Dick eingecremt und gleich mit zwei Sonnenbrillen ausgestattet, läuft er singend los. Ein Haufen Haribos ist sicher im Rucksack verstaut. Über Weiden entlang des Jöribachs folgen wir dem Weg zu den berühmten türkisfarbenen Jöriseen hinauf, während die Sonne den Morgennebel lichtet. Im stetigen Auf und Ab vergeht der Tag: Rauf zur Jöriflüelafurgga wird der Trail felsig, dann verlieren wir an Höhe und passieren die Wägerhütta, queren leicht ansteigend das Val Grialetsch und laufen anschliessend mit müden Beinen zum Gasthaus Dürrboden runter, wo grüne Hänge und kleine Holzscheunen tief im Dischmatal die Landschaft prägen.
Die vielen Lärchenwälder auf der Via Grischuna bieten im Sommer willkommenen Schutz vor Überhitzung.
Etappe 2
- Gasthaus Dürrboden – Bergün
- Distanz: 30 km
- Höhenmeter: hoch 1279 m, runter 1920 m
Fotograf Dan packt seine Kamera, die Objektive und die Reservekamera in den Rucksack. Die restlichen Ersatzteile verstauen wir in unseren Rucksäcken. Heute durchqueren wir eines von Dans Lieblingsgebieten: das enge Val Funtauna. Doch das will hart erkämpft werden: Unsere heutige Etappe startet mit einem knackigen 600-Meter-Anstieg zum aussichtsreichen Scalettapass, ehe der Weg oberhalb des ruhigen Flusstals vorbeiführt. Blauer Himmel, satte, grüne Wiesen und die türkis schimmernden Ravais-ch Seen: Nach unserem ersten Highlight, dem Val Funtauna, laufen wir in einer fast schon kitschigen Fotokulisse der nächsten Herausforderung entgegen – dem langen Abstieg entlang des Ava da Ravis-ch, gefolgt von einem zweiten Aufstieg über die Alp digl Chants. Und bevor wir uns in dem traditionellen Städtchen zwischen den engen, kopfsteingepflasterten Gässchen und den Sgraffiti-Fassaden endlich ein Weissbier bestellen und den Tag ausklingen lassen, nehmen wir zuletzt die hügelige Traverse mit Blick auf das Val Tuors in Angriff und sausen unterhalb des Piz Darlux in Serpentinen hinunter nach Bergün.
Etappe 3
- Bergün – Gasthaus Spinas
- Distanz: 18 km
- Höhenmeter: hoch 1200 m, runter 751 m
Janine holt ein zweites Sandwich aus ihrem Rucksack und reicht es Dan. Schon wieder befinden wir uns inmitten einer Bilderbuchkulisse: am Lais digl Crap Alv. Ohne grosse Höhenunterschiede startete die heutige Etappe zunächst auf knieschonenden, sanften Waldwegen entlang des Flusses Alvra, bis der Weg unter der Albulabahn hindurch langsam an Höhe gewann. Nach diesen ersten Kilometern sitzen wir nun an unserem fabelhaften Picknickplatz, dem auf 2291 Metern gelegenen Bergsee. Wir legen unsere Rücksäcke ab, halten unsere Füsse ins eiskalte Wasser und geniessen die Stille. Mit 18 Kilometern und 1200 Höhenmetern gehört die Etappe zu den kürzeren Tagen. Trotzdem verweilen wir nicht lange: Nur wenige Minuten später schlagen Janines Wanderstöcke, gleichmässig wie ein Metronom, schon wieder auf den felsigen Boden. Wir beeilen uns, nicht den Anschluss zu verlieren. Nach einem kurzen Anstieg erreichen wir den Fuorcla Crap Alv. Vom Pass geht es – weniger kniefreundlich – steil hinab ins Val Bever. Spinas, unser Tagesziel, liegt nur wenige Kilometer flussabwärts entlang des Beverin.
Tag 3 auf der Via Grischuna: Füsse kühlen im Lais digl Crap Alv
Etappe 4
- Gasthaus Spinas – Bivio
- Distanz: 27 km
- Höhenmeter: hoch 1543 m, runter 1590 m
Mit voller Fahrt rast eine Kuhherde auf uns zu. Erst wenige Meter vor uns trennt sich die springende Herde. Das Herz rast – und das ganz sicher nicht wegen des langen Laufs ins hintere Val Bever. Nach dem Beinahe-Drama müssen wir erst mal durchschnaufen – sonst werden die steilen Serpentinen vor uns definitiv zur Qual. Dan zieht an meinen Stöcken, um mir den Anstieg zu erleichtern. Wie eine Lokomotive bewegen wir uns langsam, aber stetig, aufwärts. Die grünen Weiden der vergangenen Tage liegen weit hinter uns, stattdessen sind wir in eine alpine, felsige Mondlandschaft eingetaucht. An der Fuorcla d’Agnel auf 2982 Metern angekommen, dem höchsten Punkt der Via Grischuna, erleben wir die schönsten, aber auch kargsten Aussichten der gesamten Tour. Nach der Überquerung des zweiten Passes, der Fuorcla digl Leget, beginnt unser letzter, langer Abstieg für heute: runter nach Bivio, dem lieblichen Dorf am Fuss der beiden Alpenpässe Julier und Septimer.
Etappe 5
- Bivio – Sils Maria
- Distanz: 21 km
- Höhenmeter: hoch 1208 m, runter 1169 m
Als wir zum felsigen Piz Lunghin, unserem einzigen Gipfel der gesamten Tour, aufsteigen, hört es auf zu regnen. Die Etappe führt auf der alten Römerstrasse erst über den Septimerpass, dann höher über den Pass Lunghin und entlang der Via Engadina hinunter nach Sils Maria. Ich bin sie schon einmal im Herbst gelaufen. Damals, leichtfüssig und unbeschwert durch den goldenen Lärchenwald. Heute fühlt sich die Strecke steiler an als vor einigen Jahren – vor meiner Krebs-Diagnose. Mein Rucksack ist schwerer, voller Rezepte und Nahrungsergänzungsmittel. Ich spüre das Gewicht auf meinen Schultern, neben den Narben des Überlebens. Als ich über den Silser- und den Silvaplanersee blicke, sehe ich das Bergdorf Sils Maria, das eingebettet zwischen den glitzernden Seen liegt. Ich lächle – und spüre das Gewicht nicht mehr.
Entlang der Via Grischuna ist die Alpwirtschaft noch intakt – und für Ablenkung vom Fernseher sorgt die Natur.
Etappe 6
- Sils Maria – Pontresina
- Distanz: 23 km
- Höhenmeter: hoch 1116 m, runter 1156 m
Der Trail hinauf zur Fuorcla Surlej bietet immer wieder Ausblicke auf den blau schimmernden Silvaplanasee. Doch so schön die Aussichten sind, so viel Trubel erwartet uns auf dem Pass unterhalb des Piz Corvatsch: Viele Ausflügler, Wanderer und Familien erreichen dank Bahnunterstützung mit wenig Mühe den fotogenen Aussichtspunkt. Eilig laufen wir durch die Menschenmenge hindurch. Wenige Minuten später befinden wir uns wieder auf einsamen Wegen und können in Ruhe den Blick auf die gewaltige Berninagruppe geniessen, bevor es ins idyllische Val Roseg hinunter geht und in entspanntem Tempo nach Pontresina.
Highlight der 6. Etappe: die Ausblicke zum Piz Bernina, hoch über dem Val Roseg
Etappe 7
- Pontresina – St. Moritz
- Distanz: 22 km
- Höhenmeter: hoch 1131 m, runter 1167 m
Theoretisch erreicht man St. Moritz in nur sechs Kilometern: flach im Tal entlang, ohne viel Höhenunterschiede. Dass das für unsere letzte Etappe nicht infrage kommt, war sofort klar. Über steile Serpentinen folgen wir stattdessen dem Trail in die Hochebene des Val Languard bis zur Chamanna Segantini, die nach dem grossen Maler Giovanni Segantini benannt wurde. Von hier führt der Endspurt über viele Treppenstufen ins Val Muragl und vorbei am Lej da San Murezzan bis zu unserem Ziel: St. Moritz. Brian hat sich in den letzten Tagen einige Blasen und einen kleinen Sonnenbrand geholt, aber er singt noch immer, als wir am See entlanglaufen. Dan hingegen murrt wie üblich, als wir der Stadt näherkommen, und Janines Stöcke geben nach wie vor den Takt an. Ich bin erleichtert, das Ziel erreicht zu haben, freue mich auf eine Dusche, ein Bett – und neue grosse Trailrunning-Pläne.
Die Schleife am Schlusstag zwischen Pontresina und St. Moritz über das Val Languard erlaubt nochmals Rückblicke auf weite Teile der Tour, wie hier von der Chamanna Segantini in Richtung Val Roseg.
Fotos © Dan Patitucci, Headerbild von Matt Gross
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