Der Berg ist eine versteckte Perle mit zwei Gesichtern. In Richtung Albigna zeigt er sich mit breitem und rundem Rücken, während er in nördlicher Richtung mit einer erstaunlich mächtigen Wand aufwartet, dessen kompakter Fels seinen Schatten bis über die Strassen des Talbodens wirft. Ich war von Anfang an beeindruckt von dieser kalten, abweisenden Wand. Schon der Zustieg ist speziell, er führt von der Spazza Caldeira durch ein wildes Couloir, das wohl nicht jeder Durchschnittskletterer absteigen würde. Ich kam mir fast ein bisschen vor wie in «Mordor» aus «Der Herr der Ringe».
Etwas beschwerlicher als in ganz berühmten Wänden war es auch, Infos über Begehungen in der Wand zu finden. Aber über Tom, oder auch Luca Schiera und Matteo della Bordella von den Ragni di Lecco, die ich beide gut kenne, kamen schon bald einige Infos zusammen. Die Wand ist zwar unbekannt, aber natürlich nicht unentdeckt – hier verlaufen einige sehr interessante Routen wie Niedermann (von M. Niedermann, E. Näf, U. Hürlimann, und P. Frei, 1975) oder Nigg (von L. Blättler, E. Neeracher, P. Nigg, 1986), welche vor allem mit bemerkenswerten Riss- und Verschneidungsklettereien begeistern. Historisch ist auch das Wandbuch, in welchem sich auch bekannte Namen wie Romolo Notaris oder einheimische Grössen eingeschrieben haben. Aber was mich noch sehr viel mehr interessierte, waren die vielen Wandteile, in denen noch niemand zuvor geklettert ist. Insbesondere der direkte Aufstieg im steilsten Sektor der Wand fand meine Aufmerksamkeit. So war meine Entscheidung schnell gefällt, eine neue Linie zu eröffnen.
Schälis Neutour am Roda Val della Neve: Der Zustieg (in gelb) zur unbekannten, aber nicht unentdeckten Wand führt durch ein steiles Couloir.
Ich habe für die Route ganz bewusst einen sehr puristischen Begehungsstil gewählt: Ground up, Solo & Trad, lediglich für die Stände habe ich Bohrhaken verwendet. In fünf Tagen fand ich eine anspruchsvolle Linie entlang eines Risssystems im rechten Wandteil. Die unteren 350 Meter bewerte ich mit A2+ 6c, die oberen, flacheren 250 Höhenmeter ziehen im vierten Schwierigkeitsgrad zum Gipfel. Was mir wichtig war: ein guter Routenverlauf. Die Bohrmaschine ist ja schnell bei der Hand, und genauso schnell ist ein Bohrhaken am falschen Ort versenkt. Es braucht etwas Erfahrung und Gespür dafür – Erschliesser Michel Piola hat da die Messlatte auf ein hohes Niveau gesetzt, nachdem man sich in den 1980ern vor lauter Euphorie über die Bohrmaschine im Bohrrausch etwas verloren hat. Somit sind die Standplätze jetzt gebohrt, und zwar nach dem «ledge-to-ledge»-Prinzip, fixe Zwischensicherungen gibt es nicht. Ich konnte zu 90 Prozent meiner von unten studierten Linie folgen und bin recht zufrieden damit, wie es aufgegangen ist.
Wie weiter? Seiner von
unten erspähten Linie
konnte Schäli «zu 90 Prozent
» treu bleiben.
«Tierra del Fuego» taufte ich die Route, zum einen deshalb, weil Feuerland für mich und meine Freundin – die während der Begehung in Patagonien war – einfach ein wichtiger Ort ist, und zum anderen passt es mit der Abgeschiedenheit des Roda Val della Neve ganz gut zusammen. Für mich ruft die Route auch wieder einmal die Schönheit der Schweiz in Erinnerung. Ich bin fasziniert, wie sich auch abseits bekannter Wände und namhafter Berge abenteuerliche Flecken in nächster Nähe von der Haustüre finden lassen. Diese Tour bedeutet mir ähnlich viel wie eine neue Linie am Badile oder am Eiger – der Unterschied ist, dass sie kürzer ist und das Engagement, der Zeitaufwand weniger hoch. Aber die Abgeschiedenheit gleicht das fehlende Prestige wieder aus. Je älter ich werde, desto weniger Prestige brauche ich, das ist vermutlich ein typischer Werdegang. Ich werde zwar nicht systematisch nach solchen Wänden suchen, dafür bin ich ein zu intuitiver Bergsteiger. Und eines darf man nicht vergessen: Eine Erstbegehung zieht immer Aufmerksamkeit auf sich. Für die sinnvolle Sanierung einer alten Route, sodass sie wieder öfter wiederholt wird, bekommt man dagegen kaum Lorbeeren – eigentlich zu Unrecht. Da liegt noch ganz viel Potenzial. Aber für mich ist klar, das dies nicht die letzte Route in diesem Bündner Seitental bleiben wird, das mir mit seinem Dornröschencharakter schon jetzt ans Herz gewachsen ist.
Mehr als Mr. Eiger
«Tierra del Fuego» reiht sich ein in die Liste namhafter Erstbegehungen, die Roger Schäli in seiner Alpinkarriere bereits gelungen sind, darunter «Odyssee», in der Eigernordwand, «Silberrücken» am Jungfrau Rotbrätt oder «Troya» an den Wendenstöcken. Schäli hat sich aber auch einen Namen damit gemacht, schwierige Routen als Erster im Rotpunkt-Stil zu «befreien»: Dazu zählen vor allem die drei grossen Eiger-Direttissimas (Japanerroute, Harlin, Piola-Ghilini) sowie «La vida es silbar» und «Merci la vie», die ebenfalls in der Eiger-
nordwand liegen. Fotos: Romano Salis
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