«Mentale Stärke und
Belastbarkeit sind wichtig»:
Rettungsspezialist Iwan
Infanger nach der Übung
auf der Göscheneralp, die er
überwacht hat.
Wie bist du Rettungsspezialist Helikopter
(RSH) geworden?
Iwan Infanger: Ich war damals als 18-Jähriger in der Rettungskolonne
tätig, wurde Bergführer und
war viel in den Bergen unterwegs. Über andere
Rettungsspezialisten, die mich direkt angefragt
haben, bin ich in das Umfeld der RSH
reingerutscht. Es folgte die Grundausbildung
bei der Alpinen Rettung Schweiz ARS und die
Trainingswoche. Heute müssen die RSH-Aspiranten
zuerst etliche Ausbildungsmodule
durchlaufen. Bergführer zu sein ist keine
Pflichtvoraussetzung, aber erwünscht.
Welche Eigenschaften, welchen Charakter sollte ein zukünftiger RSH mitbringen?
Charakterlich sind mentale Stärke und Belastbarkeit wichtig. Dazu natürlich das alpintechnische Können: Es braucht den Alpinisten, der viel und aktiv in den Bergen unterwegs ist.
Welche Eigenschaften sollte er nicht mitbringen?
Er sollte kein Eigenbrötler und dadurch nicht teamfähig sein. Teamfähigkeit ist das A und O.
Wie ist der Umgang mit Verunfallten nach dem Einsatz – gibt es ein Dankeschön, oder sitzt der Schock bei vielen noch zu tief?
Gelegentlich erhalten wir Rückmeldungen und auch mal ein Geschenk von Geretteten, aber im Allgemeinen eher selten.
Wie sieht es mit der Nachwuchsrekrutierung aus?
Wir schätzen uns diesbezüglich in der glücklichen Lage, dass wir keinerlei Nachwuchsprobleme haben, im Gegenteil.
Wie hoch ist die «Aussteiger-Quote» – gibt es Phänomene wie Burn-out?
Wir haben eine äusserst geringe Aussteigerquote. Die allermeisten bleiben viele Jahre lang dabei, oftmals bis sie die Altersgrenze für RSH von 60 Jahren erreichen.
Während eures Weiterbildungskurses habe ich ausschliesslich Männer in der Funktion RSH angetroffen, gibt es auch Frauen?
Spontan kommt mir keine Frau in den Sinn, welche als RSH tätig ist. In den Rettungskolonnen sind aber viele Frauen tätig, auch als Rettungs-Chefinnen.
Ein verunfallter Sportkletterer
wird in diesem Übungsszenario
nahe Isenthal per Rettungswinde
aus der Wand gerettet.
Für welche Art von Einsätzen werdet ihr als RSH aufgeboten?
Das kann bei der Rettung von verunfallten oder blockierten Alpinisten, Kletterern, Pilzsammlern, Wanderern, Jägern, Skitourengehern, Basejumpern, Bikern etc. sein. Auch bei Lawinenverschüttungen und Spaltenstürzen, bei Canyoning-Unfällen oder bei eingeklemmten Personen, was bei Strahlern (Kristallsuchern) und Bergsteigern ab und zu vorkommt. Bei Unfällen mit Hängegleitern, die sich etwa in Bäumen oder Tragseilen verhangen haben, auch bei Seilbahn-, Gondel- oder Liftevakuationen werden wir aufgeboten.
Wie viele Einsätze leistet ihr als RSH der Alpinen Rettung Zentralschweiz (ARZ) ca. pro Jahr?
Rund 100 Einsätze im Jahr.
Hat die Zahl der geleisteten Einsätze in den letzten Jahren zugenommen?
Ja, die Anzahl der Einsätze hat in den vergangenen Jahren stetig leicht zugenommen. Und im Vergleich zu vor 25 Jahren sind es viel mehr Einsätze geworden. Grund dafür ist, dass immer mehr Menschen in den Bergen unterwegs sind und Outdooraktivitäten im Alpenraum zugenommen haben.
Wie läuft ein typischer Einsatz aus Sicht von dir als RSH ab?
Auf der Aufgebots-App erscheint eine Kurzmeldung mit der «Ist-Situation». Dort steht der Ort des Einsatzes inklusive Kartenausschnitt, die Anzahl betroffener Personen und der Alarmierungsgrund. Dann kann ich auf der App antworten: A = sofort bereit, B = in 20 Minuten bereit, C = bedingt bereit, D = nicht bereit. Diese Aufgebotsmeldung geht an sämtliche dem Einsatzgebiet zugeteilten RSH. Aufgrund der Rückmeldungen wählt der Einsatzleiter in der Einsatzzentrale der Rega einen RSH aus.
Und wenn du ausgewählt wirst?
Dann erfolgt sogleich ein Anruf von der Einsatzleitung mit einem kurzen Briefing, bei welchem wir besprechen, wo mich der Helikopter abholt. Dann mache ich mich bereit und werde vom Rega-Helikopter abgeholt, der innert fünf Minuten nach Alarmierung bereits in der Luft ist. Während des Anflugs zum Einsatzort sprechen wir uns innerhalb der Helikoptercrew ab. Am Einsatzort angelangt, macht der Helikopter zuerst einen kurzen Reko-Flug, um sich eine Übersicht zu verschaffen. Hier ist die Beurteilung und die Einschätzung der alpinen Gefahren und Rettungsmöglichkeiten durch den RSH von entscheidender Wichtigkeit.
Durch Rekognoszierungsflüge, kurz «Reko-Flüge», können Schadenslagen überblickt und Informationen gesammelt werden.
Wie geht es dann weiter?
Gehen wir mal zum Beispiel von zwei blockierten, unterkühlten Klettersteiggehern aus: Nach Beurteilung der Lage entscheiden wir uns, ganz in der Nähe auf einem Zwischenlandeplatz, etwa einer Alpenwiese, zu landen, und dort das nicht benötigte Material sowie den Arzt auszuladen. Somit hat der Helikopter nun auch mehr Leistung zur Verfügung. Der Windenoperateur im Helikopter lässt mich dann mit der Rettungswinde punktgenau zu den beiden Patienten im Klettersteig hinab. Sobald ich Kontakt mit dem Felsen habe, sichere ich mich und hänge den Windenhaken aus, damit der Helikopter wieder frei ist.
Nun erkundige ich mich nach dem Wohlbefinden der beiden Klettersteiggeher und entscheide in diesem Fall, dass kein Arzt oder weitere Gerätschaften eingeflogen werden müssen. Dann bereite ich beide für die Evakuation vor. Wenn wir bereit sind, fliegt uns der Helikopter in zwei Rotationen aus der Wand aus und setzt uns unten auf dem Zwischenlandeplatz ab, wo uns der Rega-Notarzt oder die -Notärztin in Empfang nimmt. Nach der Erstversorgung durch den Notarzt fliegen wir auf direktem Weg ins Spital, um die beiden unterkühlten Patienten zu übergeben. Wenn dies geschehen ist, fliegt mich der Helikopter wieder an meinen Abhol-Standort zurück. Mit meinem Einsatzbericht schliesse ich den Einsatz ab.
Wie fühlt es sich an, wenn man sich vom Windenhaken ausklinkt und sich plötzlich mit einem vielleicht panischen Bergsteiger mitten in einer exponierten Wand befindet?
Panisch ist nur sehr selten jemand. Die Leute sind in der Regel unglaublich froh, dass wir nun da sind. Auch hören sie uns meistens gut zu. Wir erklären ihnen kurz, welche nächsten Schritte wir geplant haben. Auch warum wir es so machen müssen – etwa, wenn wegen Nebel kein Ausfliegen möglich ist und wir uns gemeinsam abseilen müssen. Dass wir laut und deutlich werden müssen, ist sehr selten.
Welchen Rettungseinsatz vergisst du nie mehr?
Das war ein Einsatz vor mehr als zehn Jahren. An einem Geländeüberhang brach eine Skifahrerin ein und fiel etwa zwölf Meter in einen darunter liegenden, verdeckten Wasserfall-Schacht. Das Becken war gebrochen und sie lag schwer verletzt tief unten im eiskalten Schmelzwasser. Ihr Begleiter setzte beim Einsturzloch im angefrorenen Lawinenschnee Eisschrauben und seilte sich zu der Frau in den Wasserfallschacht ab. Es gelang ihm, die Verletzte unten im Schacht aus dem Wasser zu ziehen und auf einem kleinen Podest zu platzieren. Beim Wiederaufstieg lösten sich die Eisschrauben und er fiel ebenfalls in den Schacht. Glücklicherweise war er nur leicht verletzt. Mit zwei Eisschrauben arbeitete er sich dann Trittschlinge für Trittschlinge aus dem Schacht. Allerdings waren beide Handys durch das Schmelzwasser unbrauchbar. Der Begleiter musste also völlig erschöpft noch die weitere Abfahrt auf sich nehmen. Zum Glück waren Einheimische zu dieser Zeit in einer Hütte hinten im Tal, die ihn sahen. Sie alarmierten die Rega.
Und dann kamst du ins Spiel …
Der Helikopter holte mich ab und flog mich zum Unfallort. Wegen der Lawinengefahr entschied ich mich, allein zur verunfallten Skifahrerin zu gelangen, um den Notarzt und die gesamte Crew nicht unnötig zu gefährden. Es gelang mir, etwas weiter oben im Felsen, einen Stand zu bohren, an welchem ich einen Flaschenzug einrichten konnte. In der Zwischenzeit wurde der von mir angeforderte zweite Bergretter eingeflogen. Ich seilte mich zu der verunfallten Skifahrerin in den Schacht herunter. Dann konnten wir die Frau mit dem Flaschenzug aus dem Wasserfallschacht retten und ausfliegen. Später erfuhr ich, dass sie überlebt hatte und nach diesem Unfall entschieden hatte, Medizin zu studieren.
Nicht immer geht es so gut aus. Als RSH bist du oft auch mit belastenden Situationen konfrontiert. Wie gehst du damit um?
Für mich ist dies eine der Herausforderungen in meinem Job, das Mentale. Es ist im Anschluss wichtig für mich, das Geschehene für mich selbst zu verarbeiten. Auch mit meiner Frau kann ich mich jederzeit aussprechen. Aber ich spreche hier für mich, jeder Retter handhabt dies etwas anders. Wenn ein RSH möchte, kann er auch jederzeit auf ein Care-Team oder eine Fachperson der Rega zurückgreifen.
Ein Rettungsspezialist wird für
eine Wandbergung an der Winde
abgelassen. Der Rettungssanitäter
bedient per Joystick die Winde und
ist die Schnittstelle zwischen Pilot
und Rettungsspezialist.
Was sind die aktuellen Herausforderungen der ARS-Rettungsstation Gotthard?
Dass wir immer die Zeit für die zahlreichen gemeinsamen Trainings mit der Rega finden.
Sind die Berggänger:innen in den letzten Jahren unvernünftiger geworden?
Für uns ist es nicht relevant, warum die Unfälle passieren. Eine mögliche Erklärung für die zunehmenden Einsatzzahlen ist zum Beispiel, dass viele Leute nicht mehr Vollzeit arbeiten und darum in der Freizeit auch unter der Woche in den Bergen anzutreffen sind. Dies betrifft sämtliche Freizeitaktivitäten. Und wo mehr Leute unterwegs sind, gibt es auch mehr Unfälle.
Bist du privat auch auf Bergtouren unterwegs, wenn ja, auf welchen, und wie würdest du dein Risikomanagement beschreiben?
Wenn ich in den Bergen unterwegs bin, muss
es mir in erster Linie Freude bereiten. Ich bin jedoch überlegt unterwegs, kopflose Aktionen sind nicht mein Ding. Aber es ist sicher nicht so, dass ich wegen meiner Tätigkeit als RSH übervorsichtig bin oder ständig an mögliche Unfallgefahren denke. Ich finde, man muss dies klar trennen können. Wenn es belastend ist, hat man gewisse Einsätze nicht richtig verarbeitet.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der Rega?
Wir haben auf der Rega-Basis in Erstfeld eine sehr angenehme und kollegiale Zusammenarbeit, bei welcher wir uns auch gegenseitig wertschätzen. Der «Kitt» im Team ist sehr gut, was bei schwierigen Einsätzen auch sehr wichtig ist.
Arbeitet ihr bei euren Rettungen ausschliesslich mit der Rega zusammen oder auch mit privaten Helikopter-Unternehmen?
Je nach Situation, oder wenn ein zweiter Helikopter benötigt wird, arbeiten wir auch mit kommerziellen Helikopter-Unternehmen zusammen, zum Beispiel für einen Transporthelikopter zum Einsatzort.
Wie ist man als Rettungsspezialist versichert?
Wenn wir als RSH aufgeboten werden, sind wir über die Alpine Rettung Schweiz versichert. Dies ist auch während den Trainings der Fall.
Was hat sich seit deinen Anfängen als Rettungsspezialist im Rettungswesen verändert?
Die Einsätze sind im Allgemeinen mehrheitlich dieselben geblieben. Jedoch haben sich die Berge und Rettungsmittel stark verändert. Hier haben wir, auch bei uns in Erstfeld, in den letzten Jahren viel Arbeit für die Weiterentwicklung geleistet. Auch wurden die Helikopter immer weiterentwickelt und die Rettungswinden optimiert. So sind zum Beispiel die heutigen Windenseile mit 90 Metern viel länger als früher.
Was möchtest du aus Sicht des Retters uns Wanderern und Bergsteigern noch mit auf den Weg geben?
Dass man sich vom Schwierigkeitsgrad her gesehen wieder vermehrt «step by step» hocharbeitet und nicht gleich oben einsteigt, was oftmals zu Überforderungen und gefährlichen Situationen führt.
Weitere Eindrücke von den Rettungsübungen
Nach ersten medizinischen
Massnahmen wird der Patient im
Bergesack ausgeflogen.
Wo der Helikoptereinsatz
nicht möglich ist, muss terrestrisch
gerettet werden. Übung im
Stägwald bei Erstfeld.
Übung einer Seilbahn-Evakuation
an der Bahn Attinghausen-Brüsti.
Zwischen den Tragseilen der Gondeln
ist die Luftrettung besonders
anspruchsvoll.
Über den Fotografen
Als Bergliebhaber, SAC-Tourenleiter und Fotograf ist Urs Nett viel in den Bergen unterwegs.
Die einzigartigen Lichtverhältnisse und Stimmungen in den Bergen, gepaart mit alpinen Herausforderungen faszinieren ihn immer wieder aufs Neue. www.ursnett.ch.
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