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Roger Schäli: Erstbegehung am Mount Meru

Jürg Buschor, Mittwoch, 09. August 2023

Dem Schweizer Alpinisten Roger Schäli ist zusammen mit Mathieu «Meme» Maynadier und Simon Gietl eine Erstbegehung am 6660 Meter hohen Meru Peak im Himalaya gelungen. Im Interview mit Bächli Bergsport berichtet Roger über Risikoverhalten, Basislager-Koller und Dankbarkeit.

In deinem zweiten Versuch hast du die Erstbegehung des Meru Peak über die Südostwand geschafft. Was zeichnet die Route aus?

Das Besondere daran ist die Kombination aus den klettertechnischen Schwierigkeiten, der anspruchsvollen Absicherung, der grossen Höhe und den zahlreichen alpinen Gefahren wie beispielsweise Lawinen, Spalten oder Wächtenabbrüchen. Die Höhe spürt man enorm, wenn man im Alpinstil klettert. Und der Zustieg aus dem Basislager ist sehr lang. Mit dem Spuren und den schweren Rucksäcken dauerte es sieben Stunden. Zudem hatten wir im Himalaya selten stabile Bedingungen: Beim ersten Versuch ist uns das Wetter im obersten Wanddrittel zum Verhängnis geworden und wir mussten umkehren. Wir mussten ein ungeschütztes Sitzbiwak einnehmen und wir, Sean, Meme und ich hatten eine schlaflose Nacht mit Spindrifts. Sean meinte am nächsten Morgen, dass dies das kälteste und grausigste Biwak war, das er je erlebt hat! 

Wir versuchten am nächsten Tag nochmals höher zu klettern. Jedoch war der Fels stark eingeschneit und wir kamen nur extrem langsam voran. Der Gipfel schien nicht mehr weit weg zu sein und es tat brutal weh, nach einem enormen Einsatz akzeptieren zu müssen, dass der einzige vernünftige Weg jetzt nach unten führt. Wir seilten die ganze Nacht ab. Es war die richtige Entscheidung, denn das Wetter war an den folgenden Tagen miserabel. 

Wie bist du auf die Route gekommen?

Durch Waleri Babanow! Ich habe ihn vor rund viereinhalb Jahren per Zufall auf der Torinohütte getroffen. Ich wusste, dass er im Garhwal-Himalaya eine Alleinbegehung gemacht hat. Im rechten weniger steilen Teil des Meru Peaks. Bei einem Bier habe ich ihn dann gefragt, ob er nicht noch eine coole Linie im Kopf habe. Er bejahte: Die ganze Wand unter dem Hauptgipfel sei noch unberührt. Damals war ich knapp 40 – und die Idee setzte sich in meinem Kopf fest. 

In so abgelegenen Gebieten gibt es keine organisierte Rettung. Wie wirkt sich das auf das Risikoverhalten aus?

Ich war bereits vor 20 Jahren ein paar Mal im Himalaya. Ohne Satellitentelefon, nur mit einer kleinen Apotheke. Damals war das noch normal. Mein Bergführer-Ausbildner Bruno Hasler sagte, wenn er sterbe, sollen wir ihn nicht mit nach Hause nehmen. Er fühle sich wohl in einer Gletscherspalte. Das war damals der Spirit. Aber ich habe schon Unfälle erlebt, bei denen Leute nicht gerettet werden konnten - das hatte ich schon im Hinterkopf. Auch den tragischen Unfall am Arwa Spire, bei dem unser Kameramann Daniel Ahnen in einer Gletscherspalte verunglückte. Simon Gietl und ich versuchten Daniel während vier Tagen aus der extrem tiefen und zerrissenen Spalte zu retten. Die Herausforderung bestand darin, überhaupt zu ihm vorzudringen, weil überall Eisschwerter hingen, die einem jederzeit zur erschlagen drohten. Das hat mich geprägt – diese Hilflosigkeit war eine unbeschreiblich intensive Erfahrung. Solche Erfahrungen machen einem einmal mehr bescheiden. Man realisiert, dass man nur ein Geduldeter in einer extremen und faszinierenden Welt ist. Wenn man zu dritt ist und jemand sich schwer verletzt, kommt das fast einem Todesurteil gleich.

Wie kann man das ausblenden?

Man kann dieses Risiko gewissermassen akzeptieren. Während der Tour ist man ja mit Vielem beschäftigt: dem Biorhythmus oder dem Wetter etwa. Da gibt es immer wieder Ups und Downs. Und es hat auch Vorteile, allein in einem Gebiet unterwegs zu sein: Man beurteilt die Lage viel objektiver, schaut auf die Verhältnisse, hört auf sein Bauchgefühl. Wenn fünf Gruppen vom selben Parkplatz losgehen, können die Vorderen immer auch Steinschläge auslösen – oder es entsteht ein seltsamer Wettbewerb. Entscheidend ist aber vor allem die Stimmung innerhalb der Seilschaft.

«Wenn du als Team anreist, musst du schauen, dass du auch als Team wieder abreist.»

Wie war die bei euch?

Meme hatte am ersten Tag unseres Gipfelversuches Durchfall. Da ist fast ein Streit ausgebrochen, weil er meinte, wir lassen ihn am Fuss der Wand zurück. Simon und ich haben dann eine Aufstiegsspur gelegt und die Kletterausrüstung oben deponiert, so konnte er einen Tag ausruhen. Es hat grossen Einfluss auf die ganze Expedition, wenn einer nicht fit ist und Angst hat, dass er nicht mit Richtung Gipfel kann. Da musst du die Nerven behalten, um nicht gleich das Handtuch zu werfen.

Wie gehst du mit solchen Stimmungen um?

Dieses Mal kamen wir zweimal an einen kritischen Punkt. Meine Rolle war die des Vermittlers: Simon spricht kein Französisch und nicht wirklich englisch und Meme spricht kein Deutsch. Unsere Basissprache war Englisch. Das war manchmal anstrengend. Meme ist eher aufbrausend, da können auch ungefilterte Vorwürfe aus ihm raussprudeln, die sehr verletzend sein können. Wäre ich noch 20 gewesen, wären wir wohl alle ausgetickt und hätte es zu persönlich genommen. Mit ein bisschen Lebenserfahrung nehme ich vieles inzwischen weniger persönlich. Ein Ziel ist für mich immer: Wenn du als Team anreist, musst du schauen, dass du auch als Team wieder abreist. Das ist genauso ein Erfolg wie das Erreichen des Gipfels. Es gibt viele Beispiele für Expeditionen, die sich zerstritten haben.

Du hast mittlerweile eine lange Liste von Erstbegehungen auf deinem Konto. Wie würdest du «Goldfish» darin einordnen?

Als ein Höhepunkt im Himalaya. Es war puristischer Alpinstil im kleinen Team, ohne Bohrhaken. Zwei Halbseile, drei Männer, drei Rucksäcke – und ich hatte mich ja schon mal daran versucht. Die Route war wirklich schwer, beim ersten Versuch war ich mit Sean Villanueva und Meme Maynadier unterwegs, beide zählen zu den komplettesten Bergsteigern unsere Zeit. Ich freue mich sehr, dass es diesmal geklappt hat. Es gab einige dramatische Momente, und wir haben alle gepusht: In der Nacht vor der Gipfelbesteigung entdeckte ich erst um 22 Uhr eine Wächte, die uns doch noch ein Biwak ermöglichte. Das gab mir nochmal die Energie in der Nacht vorzusteigen. Wenn du nicht biwakieren und gut essen und trinken kannst, geht dir irgendwann einfach der Akku aus. Über diese Entscheidung bin ich stolz.

«Als Team heimzukehren, ist fast ein gleicher Erfolg wie der Gipfel.»

Bei Expeditionen zählen immer die Faktoren Wetter und Zeit: Hattet ihr Zeitdruck?

Ja, am Ende schon. Wir waren fast vier Wochen im Basecamp. Über die ganze Tour hatten wir nur etwa sieben Tage keinen Schneefall. Wenn es schneit im Zelt zu warten – das zehrt. Und das auf bis 4300 Metern über Meer – da wird die Stimmung nicht besser. Einmal wollten wir auf dem Pass biwakieren zum Akklimatisieren, dann hat’s zugezogen und stark geschneit. Prompt kam es zu den ersten Schneerutschen: Bei diesen Verhältnissen ohne Sicht mit den Skis über den Gletscher runterzufahren, wird dann recht schnell kritisch. Wir hatten keine Zeit, den Schnee einfach mal setzten zu lassen, respektive wollten es auch nicht riskieren komplett eingeschneit zu werden. Das ist sehr mühsam. Du hast nie wie in den Alpen mal eine oder zwei Wochen Hochdruckwetter. Die Tour eröffnet nicht eine total neue Dimension, es ist die Summe der Herausforderungen, die sie ausmacht. Oder anders ausgedrückt: Theoretisch ist es kein Hexenwerk, aber die Umsetzung ist dann doch erstaunlich tricky.
 

Ihr musstet tagelang im Zelt sitzen: Wie vertreibt man sich da die Zeit?

Es ist schon hart: Man ist wie ein Rennpferd, das nicht losgaloppieren kann. Du hast was zu lesen, du machst mal eine Übung, ein paar Klimmzüge. Dann gibt es Zmorge, Zmittag und Znacht. (lacht) Die Köche waren cool, auch Daniel Hug, der Fotograf war immer guter Laune und super motiviert! Das hat geholfen. Ich habe beim Warten für die Theorieprüfung als Tandem-Gleitschirmpilot gelernt, andere haben Podcasts gehört. Weil ich nicht jedes Jahr wie Meme eine Expedition mache, war das für mich auszuhalten. Auch wenn die minus 10 Grad irgendwann anstrengend werden. Meme hatte ein bisschen ein Basislager-Koller bei dem schlechten Wetter und ist zwischendurch auch nochmal abgestiegen nach Gangotri. Es gibt auch 8000er-Bergsteiger, die zwischendurch nach Kathmandu hinunterfliegen, um sich zu erholen. Das ist aber nicht mein Stil.

Gibt es im Alpinismus momentan eine Generationen-Ablösung?

Vieles ist eine Typen-Frage. Es geht darum, ob du dich als Athlet über Leistung definierst oder die Geschichte suchst und für die Bilder und Videos performst. Es gibt inzwischen sicher relativ viele Athleten oder Kletterinfluencer für die das zweite gilt. Die gehen dann deutlich weniger Risiko ein, bleiben in der Komfortzone. Und das ist ja auch gut – viele der alten Bergsteiger leben schlicht nicht mehr. Da verändert sich schon etwas, das ist interessant zu beobachten. Mir persönlich fehlt dabei etwas das Unberechenbare und das Commitment. Dafür sind die smart, total kreativ und klettern oft auch extrem stark. Auf einem Video oder Instagram sieht doch fast alles extrem aus. Jedoch mag ich nicht werten oder mich auf keinen Fall besser darstellen. Ich darf jetzt seit meiner Kindheit in den Bergen Klettern und habe einfach vieles gesehen. Auch ich bin durch viele Phasen gegangen, musste lernen, auch lernen zu differenzieren. Es gibt Aktionen auf welche ich stolz bin und wiederum andere, die ich lieber vergesse (lacht). Nach dem Motto Leben und lernen. Jede Leistung muss immer zuerst erbracht werden. Und die meisten Kommentatoren sitzen daheim auf dem bequemen Sofa. Persönlich ist mir die Transparenz sehr wichtig und dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleicht. Mittlerweile gibt es im Klettern, Bergsteigen und Höhenbergsteigen sehr viele verschiedene Stile und Ethiken – da ist es für Aussenstehende nicht immer einfach, den Durchblick zu wahren. Umso wichtiger ist es, dass die Athleten selber und proaktiv kommunizieren, wie genau es gemacht wurde, und welche Hilfsmittel verwendet wurden.
 

Vielleicht haben sie von der Tatsache gelernt, dass ihre Idole nicht mehr leben…

Ja – und gleichzeitig wollen sie vom Bergsport leben. Sie haben schneller gelernt, professionell zu denken. Sie beziehen die Erwartungen des Publikums und der Sponsoren ein. Warum soll man einen Speedrekord in der Eigernordwand probieren, oder an einen unwirtlichen Ort weit weg von zuhause gehen, wenn andere Projekte genau so viel Reichweite geben. Es ist ein ökonomischeres Denken. Für mich macht es die Mischung aus kontrollierbarem Output und den grossen Träumen aus. Jedoch wie geht der Song welcher es auf den Punkt bringt? Never changed passion for glory!

«Die Alpen sind der coolste Ort, um etwas zu unternehmen.»

Wie sehen deine künftigen Projekte aus?

Bei mir ist meistens zu viel los, ich war drei Monate nicht in meiner Heimat. Zwischendurch braucht es auch Zeit, um zuhause mal richtig auszupacken, die Wohnung zu putzen und für meine Partnerin Znacht zu kochen. Als nächstes möchte ich die Tandem-Gleitschirm-Ausbildung abschliessen. Und meine im letzten Jahr eröffnete Route «Tierra del Fuego» im Bergell noch einmal klettern. Aber bereits hat mich Stephan Siegrist wieder angefragt unser altes Projekt am Rotbrätt, einer tollen Kalkwand im Jungfrau-Gebiet, zu vollenden. Mit dabei ist auch John Thornton, wir haben bereits wieder ein paar Daten fixiert. Und das Berne Oberland liegt vom Engadin nicht mehr gleiche um die Ecke.
 

Aber eine grössere Expedition ist nicht geplant?

Nein, im Himalaya nicht. Aber irgendwann werde ich sicher wieder losziehen: Ich habe das Khumbu-Tal noch nicht gesehen, das Karakorum. Auch nach Patagonien zieht es mich wieder. Aber Reisen ist auch anstrengend – und schlecht für die Umwelt.
 

Apropos Nachhaltigkeit: Willst du den Leuten bewusst zeigen, dass die Abenteuer auch vor der Haustür warten?

Grundsätzlich sind die Alpen der coolste Ort, um etwas zu unternehmen: Die Kreativität ist unendlich. Eine Vorbildfunktion – ich weiss nicht. Natürlich sollte man weniger reisen. Und unser North6 Projekt war etwas vom Besten was ich je machen durfte. Aber seien wir ehrlich: Ich selber habe ja keinen guten Footprint. Und es ist nun mal so: Wenn du ausschliesslich in den Alpen kletterst, hast du nicht denselben Horizont. Wer mal im Yosemite war, weiss: Was die Jungs dort klettern – das ist eine andere Welt! Das musst du ab und zu wieder sehen. Die klettern regelmässig 1000 bis 2000 schwere Meter im Granit und an einem Tag, was wir uns oft nicht vorstellen können! Dieser Vergleich macht was mit dir. Oder der kulturelle Unterschied in Patagonien: Dort leben sie ein Leben ohne unser Schweizer Versicherungsdenken und ohne Altersvorsorge. Die Menschen sind dort viel gelassener und lachen mehr.

«Es tut gut, mit Menschen zusammen zu sein, die einfach im Moment leben.»

Schwebt dir ein solches Leben im Moment vor?

Die Menschen dort klettern oft einfach aus Eigenmotivation und machen nicht so ein Tamtam wie wir hier. Ich bin natürlich extrem dankbar, eingebettet zu sein, Sponsoren-Verträge zu haben wie etwa mit Bächli Bergsport. Gleichzeitig tut es gut, mit Menschen zusammen zu sein, die einfach im Moment leben und dankbar sind.

Roger Schäli

Der 44-jährige Sörenberger Roger Schäli ist einer der bekanntesten Alpinisten der Schweiz. Am 13. Mai 2023 ist ihm zusammen mit Mathieu «Meme» Maynadier und Simon Gietl die Erstbegehung der Südostwand des 6660 Meter hohen Meru Peak im indischen Garhwal-Himalaya gelungen. Bereits der Zustieg zur 800 Meter langen Route «Goldfish» (M6+ A1) entspricht dem Aufstieg auf den Mont Blanc. Schäli wohnt mit seiner Partnerin im Engadin und ist seit 14 Jahren Profi-Alpinist. Link zur Website

 

Meru Peak

Der 6660 Meter hohe Meru ist Teil der Gangotri-Gruppe im Garhwal-Himalaya. Der Berg liegt im indischen Bundesstaat Uttarakhand, zwischen den in Alpinkreisen ebenso bekannten Gipfeln Shivling im Osten und Thalay Sagar im Westen.

Fotos: Daniel Hug

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