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Risikobereitschaft mit Lawinenairbags

Barbara Karlen, Montag, 06. November 2017

Sind wir bereit, ein höheres Risiko einzugehen, wenn wir einen Lawinenairbag auf dem Rücken haben? Diese Frage stellen wir uns wohl alle immer wieder. Die Masterarbeit von Barbara Karlen liefert empirische Antworten.

Es hat geschneit. Endlich. Die Vorfreude auf den Winter, auf pulverreichen Abfahrten ist gross. Diese Saison habe ich das erste Mal einen Lawinenairbag dabei. Werde ich das zusätzliche Gewicht bemerken? Das Gewicht ist also ein Thema. Und was ich schon sehr bald feststellen werde, gibt es noch ein anderes Thema. Vor allem Personen ohne Lawinenairbag konfrontieren Personen mit einem Lawinenairbag damit. Es geht um das Thema der Sicherheit. Oder besser gesagt um das Sicherheitsgefühl, ausgelöst vom Lawinenairbag, das die Lawinenairbag Besitzer/innen dazu veranlassen soll, mehr Risiko in Kauf zu nehmen. Wer schon einmal eine Lawine gesehen hat, geht mit mir einig, dass diese Naturgewalt unheimlich beängstigend wirkt. Wer sich in lawinengefährdeten Gebieten aufhält, möchte sich vor einem Lawinenunfall schützen – das liegt auf der Hand. Doch was ist, wenn genau diese Schutzausrüstung einem dazu verleitet, mehr Risiko einzugehen?

Genau mit dieser Frage wurde ich als begeisterte Tourengeherin immer und immer wieder konfrontiert. Das hat mich dazu veranlasst, dieser Frage empirisch nachzugehen. So packte ich die Gelegenheit, bei meiner Masterarbeit den Einfluss des Lawinenairbags auf die Risikobereitschaft der Freerider und Tourengehern zu untersuchen. Den Master absolvierte ich in Life Sciences mit der Vertiefung in Natürlichen Ressourcen. Die Masterarbeit durfte ich in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe Umweltplanung, an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften schreiben. Betreut wurde ich von Prof. Dr. Reto Rupf, der seine grosse Erfahrung im Bereich umweltgerechte Freizeitaktivitäten einbrachte und Prof. Dr. Pascal Haegeli: dem Lawinenairbag Spezialisten aus Kanada.


Als erstes verbrachte ich Monate damit, mich in bestehende Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit dem Lawinenairbag zu vertiefen. Herausgefunden habe ich kurz zusammengefasst folgendes: Winteraktivitäten abseits der gesicherten Piste erfreuen sich steigender Beliebtheit. Die grösste Gefahr bei den untersuchten Aktivitäten Freeriden und Tourengehen ist, in eine Lawine zu geraten. Um sich vor einem Lawinenunfall zu schützen, wurde eine Sicherheitsausrüstung bestehend aus Lawinenverschüttetensuchgerät (LVS), Sonde und Schaufel entwickelt. Als letzter Schritt kam Ende 1970er, anfangs 80er Jahre der Lawinenairbag auf den Markt. Der Lawinenairbag ist bislang das einzige Notfallgerät, das eine Lawinenverschüttung durch den Auftriebseffekt verhindern kann. Der Anteil an Personen, die einen Lawinenairbag besitzen, ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Im Zusammenhang mit der vermehrten Nutzung des Lawinenairbags ist die Theorie der Risikokompensation aufgetaucht. Diese besagt, dass die zusätzliche Sicherheit durch risikofreudigeres Verhalten aufgebraucht wird. Ein klassisches Beispiel für Risikokompensation ist der Sicherheitsvorteil von Sicherheitsgurten im Auto, der durch das schnellere Fahren zunichte gemacht wird. Bisherige Studien geben Hinweise, dass das Tragen von einem Lawinenairbag die Entscheidung in lawinengefährdeten Gebieten beeinflussen kann.

So viel zur Ausgangslage. Als nächster Schritt werden bei wissenschaftlichen Arbeiten Forschungsfragen definiert. Meine waren die folgenden drei:

  • Was sind die Gründe für oder gegen das Mitführen eines Lawinenairbags beim Freeriden oder Tourengehen?
  • Führt das Tragen von einem Lawinenairbag dazu, ein höheres Risiko einzugehen, von einer Lawine erfasst zu werden?
  • Wie lassen sich Lawinenairbag Nutzer und Nicht-Nutzer mit anderen Eigenschaften charakterisieren, um die Gruppen spezifisch anzusprechen?

Die Knacknuss meiner Masterarbeit war und ist (dazu später) die Messung der Risikobereitschaft der Freerider und Tourengeher. Um meine Forschungsfragen beantworten zu können, führte ich im Winter 2017 eine Online-Befragung durch. Bei der Verbreitung der Befragung wurde ich unter anderem von Bächli Bergsport AG unterstützt – dafür bedanke ich mich herzlichst. Da war ja noch die Knacknuss – diese versuchte ich mit einem Wahlexperiment (engl. Discrete Choice Experiment) und mit Aussagen zur Risikobereitschaft zu knacken. Mit Hilfe des Wahlexperimentes lassen sich die Präferenzen für eine Abfahrt analysieren. Konkret – die Teilnehmenden hatten in acht verschiedenen Szenarien jeweils die Wahl zwischen einer Abfahrt A, Abfahrt B oder keiner dieser Abfahrten. Die beiden Alternativen wurden mit verschiedenen Attributen beschrieben. Ein Beispiel eines solchen Auswahl-Sets ist in unterstehender Abbildung dargestellt. Und schon gleich vorherweg, ja mir war bewusst, dass dies nicht der Realität entspricht. Und doch ist ein DCE bislang eine der wenigen Möglichkeiten. die Risikobereitschaft zu messen, wie bisherige Studien zeigten.

Als ich die Befragung im Mai dieses Jahres beendete, war ich extrem neugierig was die Daten hergeben werden. Wer hat mitgemacht? Was war die grösste Kritik an die Befragung? Kann ich meine Forschungsfragen beantworten? So verbrachte ich die nächsten Monate beim Auswerten meiner Daten im Statistik Programm R. R ist eine freie Programmiersprache für statistisches Rechnen und statistische Grafiken. Als neugieriger Zahlenmensch hat mir dieser Teil der Arbeit besonders Spass gemacht. Nun also zu den Ergebnissen. Über 2/3 der Befragten waren Männer. Die meisten Personen gehörten der Alterskategorie 25-34 Jahre an. Der wichtigste Grund einen Lawinenairbag zu besitzen, war die Erhöhung der eigenen Sicherheit. Als nicht wichtig wurde die Aussage «möchte mehr Risiko eingehen können» beurteilt. Der zutreffende Grund keinen Lawinenairbag zu besitzen waren die Erwerbskosten und der am wenigsten zutreffendste Grund war «Ich glaube nicht, dass ein Lawinenairbag eine Verschüttung verhindern kann».

Bezüglich des Einflusses des Lawinenairbags auf die Risikobereitschaft und somit zum Herzstück meiner Untersuchung fasse ich die wichtigsten Ergebnisse so zusammen: Die Lawinenairbag-Besitzer_innen weisen höhere Werte bei den Aussagen zur Risikobereitschaft auf. Und sie sind mehr gewillt, einen steilen Hang zu befahren, als wenn sie keinen Lawinenairbag tragen. Aus diesen beiden Ergebnissen schliesse ich, dass der Lawinenairbag zu einer Veränderung der Risikobereitschaft führt. Spannend war auch das Ergebnis, dass die Lawinenairbag-Besitzer/innen die Erhöhung der allgemeinen Risikobereitschaft als weniger zutreffend beurteilten- als die Nicht-Besitzer/innen.

Zur Charakterisierung der Lawinenairbag-Besitzer/innen. Zum grössten Teil sind sie zwischen 25 und 34 Jahren alt und weisen einen Anteil von 80% Männern auf. Sie gehen häufiger und seit mehr Jahren Freeriden und/oder Touren. Sie haben einen höheren Anteil an Experten und ein höheres Wissen in Lawinenkunde. Sie nehmen LVS, Schaufel und Sonde konsequenter mit und beteiligen sich häufiger an Entscheidungen, ob ein Hang befahren werden soll oder nicht.

Als alle Daten analysiert, gruppiert, hinterfragt und kontrolliert sowie schliesslich die Ergebnisse niedergeschrieben waren, kam ich zur Schlussfolgerung meiner gesamten Arbeit. Die Lawinenairbag-Besitzer/innen zeigen höhere Werte bei der Einstellung zur Risikobereitschaft auf. Allerdings bleibt offen, ob die höheren Werte zur Risikobereitschaft der Lawinenairbag-Besitzer/innen ausschliesslich auf den Faktor Lawinenairbag zurückzuführen ist. Nach meinem Erachten beeinflussen Persönlichkeit und Motivation die Risikobereitschaft ebenfalls nicht unerheblich.

Schliesslich bleibt das Risiko ein Balanceakt zwischen einer pulverreichen Abfahrt und einer lebensgefährlichen Verschüttung. Wichtig ist, dass man sich den Gefahren und möglichen Einflussfaktoren auf das eigene Verhalten bewusst ist. Denn nur wer die Gefahren und Einflussfaktoren kennt, kann auch wählen, welche Risiken er eingehen will. In diesem Sinne hoffe ich, mit meiner Arbeit einen kleinen Beitrag an die Lawinenunfallprävention geleistet zu haben und freue mich auf den nächsten Winter. RIDE ON.

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