Marktführer aus der Provinz sind eher selten.
Noch seltener ist, wenn sich eine weltweit erfolgreiche
Firma mitsamt ihren 250 Mitarbeitern
und Produktionshallen derart unauffällig in ein 3000-
Seelen-Nest einfügt, wie es Lowa im oberbayerischen
Jetzendorf tut. «Lowa City», wie das Ortsschild an der
Pforte augenzwinkernd ankündigt, liegt nicht in einem
Gewerbegebiet am Ortsrand, sondern mitten im alten
Dorfkern. Links der Friseursalon Bernhard, rechts die
Bäckerei Kloiber, vom Kirchhügel wirft St. Johannes seinen
Schatten auf die Firma. Hier sitzt der Bergschuh-
Champion, der im vergangenen Jahr 2,8 Millionen Paar
Schuhe verkaufte.
Vierzig Kilometer nördlich von München ist selbst der
feiste Speckgürtel der bayerischen Landeshauptstadt
längst zu Ende. Jetzendorf liegt weder im S-Bahn-
Bereich noch besonders nah an der Autobahn. Nicht
gerade ein Logistik-Traum, zumal das Firmengelände
inzwischen an seine Grenzen stösst. Und trotzdem hält
Lowa am Standort fest – seit fast 100 Jahren schon.
1923 gründete der Schuhmachersohn Lorenz Wagner hier
seine eigene Schuhfabrik, benannt nach seinen Initialen.
Wie übrigens auch sein Bruder Hans, dessen zwei Jahre
zuvor gegründete Firma Hanwag im benachbarten Vierkirchen
auch heute noch Schuhe fertigt.
MADE IN GERMANY
Genaue Zahlen gibt es zwar nicht. Gut möglich aber,
dass zu Lorenz Wagners Zeiten nicht einmal so viel Neuware
produziert wurde, wie heute repariert wird. Ein
Aushang vor der Serviceabteilung weist aufs Paar genau
die Zahl der laufenden Reparaturen aus: In den letzten
vier Tagen erledigte das Team 290 Paar Neubesohlungen.
Im ganzen Jahr 2017 standen 38'000 Reparaturen an.
Von den 18 Mitarbeitern im Service sind alleine vier über
Headsets nahezu ununterbrochen im telefonischen Kundenkontakt,
wie bei einer Spendengala im Fernsehen:
Reklamationen, Beratung, Reparaturen. Neben allerlei
Test- und Prüfgeräten mit so schönen Namen wie
«Zwickometer» stehen in Jetzendorf auch zwei Zentrifugen
bereit, um in einem einstündigen Schleudergang zu
verifizieren, ob (und wenn ja, wo) reklamierte Schuhe
wirklich undicht sind.
Beim Blick auf die Reparaturware wird klar, dass viele
Menschen eine wahrhaft emotionale Bindung zu ihren
Schuhen aufbauen können. 20, 25 Jahre alte oder gar
noch betagtere Modelle warten da auf ihre Frischzellenkur,
in teils abenteuerlichem Zustand. Trotzdem: «Zurückgewiesen
wird eigentlich nichts. Ausser, der Schaft
ist wirklich total zerbröselt», sagt Anke Stärk von Lowa,
die beim Rundgang durch die Produktionshalle führt.
Tatsächlich wird in Jetzendorf nicht nur repariert, sondern
auch produziert, und zwar nicht nur in Form einer
Endmontage von Schaft, Sohle und Schnürsenkel. Am
deutschen Standort fertigt Lowa die robusteren, wiederbesohlbaren
Modelle in gezwickter Machart. Die leichteren,
gestrobelten Schuhe entstehen in der Slowakei. Jedes
der bis zu 200 Teile pro Schuh stammt dabei aus
Europa, von der Öse bis zum Leder. Letzteres wird übrigens
zu 70 Prozent von der Gerberei Heinen aus Norddeutschland
zugeliefert, die sich mit dem besonders
ökologisch weiterverarbeiteten Terracare-Leder einen
Namen gemacht hat.
Im Erdgeschoss der Produktionshalle surren die Nähmaschinen
und klappern die Stanzen. Aus Hunderten
kleiner Leder- oder Synthetikstreifen, wasserdichtem
Innenfutter und Metallösen entstehen hier in Handarbeit
die Schuhschäfte. Der Zutritt zur Entwicklungsabteilung
bleibt verwehrt – dass es sie gibt, zeigt sich am riesigen
Schneidetisch nebenan. Ein Laser projiziert die neuesten
Ideen der Produktentwickler direkt auf den Tisch, ein
computergesteuerter Cutter seziert in Sekunden die gewünschten
Einzelteile aus dem ausgerollten Leder. Weil
die Wege kurz sind, kann in Jetzendorf binnen eines Tages
aus einer 3D-Skizze ein fertiger Prototyp entstehen.
RETTER RIETHMANN
Ein Stockwerk darüber wird es dann ernst: Die «Hochzeit»
von Schaft und Sohlenaufbau steht an. Grosse Gitterkästen
voller Firmengeheimnisse stehen hier herum – die
Leisten. Aus Kunststoff gegossen, für jedes Modell und
jede Schuhgrösse leicht anders, über die Jahrzehnte in
Millimeterschritten angepasst an die natürliche Entwicklung
des menschlichen Fusses. Um diese Leisten herum zwicken
spezielle Maschinen die Schäfte aus dem Erdgeschoss
an die Brandsohle. Grosse Absauganlagen halten die Luft
rein, denn für die Montage von Geröllschutzrand und
Sohlenaufbau ist einiges an Kleber nötig. Hier noch etwas
Feinschliff, Zwischenstopp beim «Ausleisten», da noch
ein Durchgang in der Imprägnieranlage, Schnürsenkel
rein, ab ins Lager. Um 10.53 Uhr zeigt der grosse Zähler
an der Hallendecke bereits 575 fertige Lowa «Focus» an
– simply more.
Natürlich gab es Rückschläge in der Unternehmensgeschichte:
Als 1953 infolge des Korea-Krieges das Leder
knapp und teuer wurde, musste Gründer Lorenz Wagner
den Betrieb mit horrenden Summen am Laufen halten.
Kurz darauf fielen die Preise wieder, eine Insolvenz
konnte die Firma nur knapp vermeiden. Auch in den
späten 1980er-Jahren geriet die Firma in finanzielle
Schieflage. Schliesslich wurde Lowa im 70. Jahr der
Firmengeschichte an die italienische Tecnica-Gruppe
verkauft. Dass Lowa heute besser da steht denn je, ist
nicht zuletzt Werner Riethmanns Verdienst. Den Kreuzlinger,
der am Wochenende von Jetzendorf nach Hause
in die Schweiz pendelt, sähen «immer noch viele
Mitarbeiter hier als Retter», erzählt Anke Stärk. Was
hat Riethmann, der Ende der 80er-Jahre vom Schweizer
Schuhhersteller Raichle zu Lowa wechselte und heute
selbst Anteilseigner des Unternehmens ist, verändert?
Seit 1923 sitzt Lowa im bayerischen Jetzendorf. Bei der Durchfahrt fällt das Gelände im Ortskern kaum auf.
IN DIE WEITE WELT
Vor allem zwei Dinge sind gewachsen: das Sortiment
und das Vertriebsnetz. Nahezu 500 Modelle umfasst
heute eine Lowa-Kollektion, vom ultrawarmen Expeditionsstiefel
bis zum urbanen Sneaker für den Stadtbummel.
Selbst Kletterschuhe gibt es. «Lowa ist in verschiedene
Nischen rein, die es gab», sagt Stärk. «Es hat Riethmann
zum Beispiel nicht gefallen, dass Athleten von uns
in Lowa-Schuhen zur Wand steigen und dann in andere
Kletterschuhe wechseln.» Dank dieser Strategie hat
Lowa den Trend zu leichten Bergschuhen von Anfang an
mitbestimmt. Der seit 1998 immer wieder neu aufgelegte Bestseller «Renegade» ist sozusagen der Sargnagel
der bocksteifen Bollerschuhe, ohne die sich früher
niemand in die Berge wagte. Mit ähnlicher Konsequenz
wurde das Vertriebsnetz ausgebaut, inzwischen sind Lowa-
Schuhe In 55 Ländern erhältlich. Allein in China, wo
stark in Markenshops eingekauft wird, gibt es 30 Lowa-
Stores. Derzeit wird am Aufbau des Südamerikavertriebs
gearbeitet. Die dritte Säule, die momentan zu einem
tragenden Pfeiler aufgebaut wird, ist das Marketing.
TV-Kampagnen, eine globale Website, Kundennähe
in den sozialen Netzwerken und Multi-Channel-Publikationen
sollen die Marke Lowa noch weiter in die Welt
hinaustragen. Fakt ist: Der hauseigene Slogan «Simply
more» lässt sich bei Lowa nicht nur auf eine Lesart
verstehen. Nur für das nächste Lager, lacht Anke Stärk,
müsse man sich etwas einfallen lassen: «Eigentlich
müssten wir in die Höhe wachsen – aber da ist schon
die Solaranlage.»
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