Strahlend blauer Himmel, ein unverspurter Hang, die ersten genussvollen Schwünge im Schnee. Dann passiert es: Der Hang bricht, Tausende Tonnen von Schnee beginnen mit beängstigender Geschwindigkeit talwärts zu rauschen. Ein kräftiger Zug, ein Knall, und drei Sekunden später besteht die grösste Hoffnung aus Luft – besser gesagt: aus einem mit komprimierter Luft gefülltem Ballon. Lawinenairbag-Rucksäcke sind die einzige Notfallausrüstung, die bei einem Lawinenabgang eine Verschüttung verhindern kann. Das physikalische Prinzip dahinter nennt sich inverse Segregation, im Volksmund: der Paranuss-Effekt. Kleinere Partikel orientieren sich in einer sich bewegenden Masse von Teilchen nach unten, grössere nach oben. Schüttelt man also beispielsweise an einem Müsliglas, gelangen Paranüsse automatisch nach oben, Haferflocken nach unten. Dasselbe Prinzip gilt für eine Person mit aufgeblasenem Airbag in einer Lawine: Durch den Auftrieb «schwimmt» das Lawinenopfer an der Oberfläche.
Allerdings nur im Idealfall. Inwiefern ein Lawinenairbag die Überlebenswahrscheinlichkeit in einer Lawine tatsächlich erhöht, hat der Lawinenforscher Pascal Haegeli mit einem Expertenteam 2014 untersucht: In der Forschungsarbeit analysierten sie über 245 Lawinenunfälle, in denen Personen mit und ohne Airbag in derselben Lawine involviert waren. Das Ergebnis: 22,2 Prozent aller Personen, die ohne Airbag in eine Lawine geraten, sterben. Mit aufgeblasenem Airbag sind es 11,1 Prozent. Ein aufgeblasener Airbag kann also die Hälfte der Todesopfer verhindern. Gleichzeitig bedeutet es: Selbst mit aufgeblasenem Airbag stirbt noch jeder neunte Verschüttete. Der Unterschied ist zwar signifikant, aber nicht so gross, wie bis dahin angenommen. Zudem wurde der Optimalfall betrachtet, das heisst: Die Person konnte den Airbag auslösen. In der Praxis misslingt aber jedem fünften Lawinenopfer die Auslösung des Airbags.
Der Lawinenairbag-Rucksack
Trotzdem ist der Lawinenairbag-Rucksack eine sinnvolle Notfallausrüstung, die Leben retten kann. So sollte das Auslösen trainiert, der Rucksack regelmässig gewartet sowie die LVS-Ausrüstung nicht vernachlässigt werden genauso wie die Tourenplanung. Berücksichtigt man all diese Faktoren, ist der Airbag ein Sicherheits-Plus. Jedes Modell besteht vereinfacht gesagt aus einer Auslöseeinheit, meist in Form eines im Schultergurt verstaubaren Griffs, einer Fülleinheit, die sich meist im Mittelteil des Rucksacks befindet, sowie einem Luftkissen, das komprimiert in einem separaten, geschützten Fach im oberen Teil des Rucksacks liegt. Darüber hinaus besitzt jeder Lawinenairbag-Rucksack eine Beinschlaufe, die von hinten zwischen die Beine nach vorne durchgefädelt und im Hüftgurt eingehängt wird. Diese oft als unnötiges Feature angesehene Beinschlaufe verhindert, dass die Lawine den Rucksack vom Leib reisst.
Generell müssen alle in Europa zugelassenen Lawinenairbag-Rucksäcke seit 2017 eine EU-Norm erfüllen, die beispielsweise ein Mindestvolumen des Luftkissens von 150 Litern vorschreibt. ABS bietet mit ihrem patentierten TwinBag zwei 85-Liter-Airbags, die komplett voneinander getrennt sind. Sie sollen für mehr Auftrieb als ein Mono-Airbag sorgen und zudem als Reserve dienen, falls ein Luftkissen beschädigt wird. Ausserdem sind die Airbags auf den Körperschwerpunkt abgestimmt. «Viel wichtiger als die Anzahl sind nämlich die Position und das Volumen des Airbags», erklärt Ski & Mountain Merchandiser Loïc Tonnot von Black Diamond Europe. Black Diamonds JetForce Pro 35 Airbag hat deswegen ein Volumen von 200 Litern.
Für Tagestouren eignen sich Lawinenairbag-Rucksäcke mit mindestens 25 Litern Volumen, bei hochalpinen Touren oder Skidurchquerungen sind 35 bis 45 Liter sinnvoll. Bei einigen Herstellern, etwa Mammut, Alpride oder Ortovox, lassen sich die Airbag-Systeme vollständig aus dem Rucksack entfernen und in Modelle mit kleinerem oder grösserem Volumen wieder einbauen. Rucksäcke von ABS oder Black Diamond sind dagegen modular aufgebaut: Ein kleiner Rucksack samt Airbag-System bildet die Basis und kann über anzippbare Deckeltaschen und Aufsätze erweitert werden. «Freeriderinnen und Freerider wählen öfters eine Zip-on-Variante, Tourengeherinnen und Tourengeher haben hingegen eher einen Bedarf für einen schlichten, dafür etwas leichteren Airbag-Rucksack», fasst Bächli Produktmanager Matthias Schmid zusammen. Features wie ein höhenverstellbarer Griff, ein Umbau für Links- und Rechtshänder sowie Testauslösungen gehören mittlerweile zur Standardausstattung.
Verschiedene Prinzipien
Bowdenzug, pyrotechnische Auslösung oder doch ein Superkondensator? Was nach viel technischem Know-how klingt, ist gar nicht so kompliziert. Lawinenairbag-Systeme lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: mechanische und elektronische Systeme. Die wichtigsten Unterschiede vorab: Mechanische Systeme bringen mit einer extraleichten Carbon-Kartusche um die 1000 Gramm auf die Waage. Mit Rucksack kosten sie circa CHF 600.– bis 700.–, die Carbon-Kartusche um die CHF 160.–. Die Kaufpreise für elektronische Airbag-Rucksäcke, die über ein elektronisch gesteuertes Gebläse befüllt werden, liegen um die CHF 1000.– und wiegen circa 1300 Gramm.
Mechanische Systeme
Die Systeme mit Kartusche basieren alle auf einem ähnlichen Prinzip: Wie bei einer Fahrradbremse werden sie über einen Bowdenzug ausgelöst, der den Airbag mit der Kartusche verbindet. «Zieht man am Auslösegriff, kommt Zug auf ein Kabel, das wiederum eine Feder auslöst. Eine durch die Feder angetriebene Nadel sticht schliesslich die Gaskartusche an, das Gas tritt aus und füllt das Luftkissen», fasst Alexander Weijnman, Head of Avalanche Safety von Mammut, zusammen. Drei Sekunden dauert es, bis der mit 300 bar komprimierte (und für den Anwender völlig ungefährliche) Stickstoff den Airbag entfaltet und vollständig befüllt hat. Zusätzlich wird Umgebungsluft über Düsen angesaugt, um gemeinsam mit dem Gas den Airbag zu füllen. «Der Vorteil der mechanischen Systeme ist die hohe Initialenergie: Um den Airbag aus dem Rucksack zu befördern, braucht es eine gewisse Kraft. Diese ist bei Kartuschen-Systemen höher als bei elektronischen, weswegen die Airbags sehr komprimiert zusammengepackt werden können», erklärt Weijnman.
Zu den Systemen mit Gaskartuschen gehören auch das R.A.S. von Mammut sowie der Avabag von Ortovox. Beide Hersteller haben ihr eigenes System entwickelt, das Prinzip dahinter ist allerdings dasselbe – auch das Gewicht der Carbon-Kartuschen mit 310 Gramm unterscheiden sich nicht. Wichtig für den Anwender ist, dass die Feder des Auslösesystems nach jeder (Test-)Auslösung wieder selbst gespannt werden muss. Wie das funktioniert, ist in den Gebrauchsanweisungen nachzulesen. Nur bei den Mammut-Systemen wird die Feder durch das Einschrauben der Kartusche automatisch gespannt.
Ein anderes Auslösesystem verwendet die Münchner Firma ABS: Bei der pyrotechnischen Auslösung ist im Griff ein Sprengkörper enthalten, der durch das Ziehen eine winzige Explosion auslöst. Ein Metallstift, der durch den Sprengkörper angeschoben wird, durchsticht schliesslich die Versiegelung der Flasche und das Gas tritt aus. Nach einer Auslösung muss nicht nur die Kartusche, sondern ebenfalls der Griff ersetzt werden. «Die Konstruktion gilt nach wie vor als äusserst zuverlässig, Systeme mit Bowdenzug haben sich aber über die Jahre als ebenbürtig erwiesen», erklärt Bächli-Experte Matthias Schmid. Wiederholte (Test-)Auslösungen sind bei Kartuschen-Systemen nicht möglich. Nach einer Auslösung muss die Kartusche durch eine neue ersetzt oder wiederbefüllt werden. «Der Austausch ist in jeder Bächli Filiale möglich und kostet je nach Airbag-System zwischen CHF 10.– bis CHF 29.–», so Matthias Schmid. Eine Testauslösung während des Kaufs eines Lawinenairbags ist in den Bächli Filialien aber kostenlos – so können die Nutzer direkt mit dem Auslösesystem vertraut werden. Mit rund 300 Gramm (300 bar/0.68 psi) wiegen Carbon-Kartuschen knapp die Hälfte von Stahl- oder Aluminium-Kartuschen. Problematisch können gefüllte Kartuschen allerdings bei Flugreisen werden: Airbag-Druckkartuschen fallen zwar grundsätzlich in eine Sonderregelung der IATA (International Air Transport Association), dennoch empfiehlt sich eine Rücksprache mit der jeweiligen Airline vor Abflug. Manche Hersteller bieten deswegen leere Stahl- oder Alukartuschen zum Kauf an, die zum Beispiel in Taucherfachgeschäften vor Ort befüllt werden können. «Aber auch bei elektronischen Systemen ist es ratsam, die aktuellen Regeln abzuklären: Der Black Diamond Jetforce hat beispielsweise einen grossen Akku verbaut, die Kondensatoren von Alpride sind bei Fluggesellschaften teilweise noch unbekannt», erklärt der Bächli-Experte.
Vollelektronische Systeme
Ganz ohne Gaskartusche kommen die elektronischen Auslöseeinheiten aus. 2014 haben Black Diamond und Pieps mit dem Jetforce-System den ersten vollelektronischen Lawinenairbag-Rucksack auf den Markt gebracht, vier Jahre später wurde mit dem Alpride E1 ein weiteres elektronisches System vorgestellt. Auch Arc’teryx ist 2016 mit dem Voltair in den Markt eingestiegen, dann aber auf dem europäischen Markt schnell wieder verschwunden: Der Rucksack hatte in Europa keinen TÜV erhalten. Das JetForce Pro-System wird über einen wiederaufladbaren Lithium-Ionen-Akku betrieben. Nach der Auslösung füllt ein Gebläse den Airbag in regelmässigen Abständen nach. «Dadurch bleibt selbst ein beschädigtes Luftkissen mit einem faustgrossen Loch aufgeblasen», erklärt Loïc Tonnot von Black Diamond Europe. Gleichzeitig sorgt das Gebläse dafür, dass der Airbag nach drei Minuten entleert wird: So wird dem Verschütteten eine 200 Liter grosse Atemhöhle geschaffen. Zudem führt die Elektronik bei jeder Inbetriebnahme eine automatische Funktionsprüfung des Systems durch, der Systemstatus wird über LEDs am Griff angezeigt. Beim Alpride E1-System wurde die herkömmliche Lithium-Akku-Technologie durch einen Superkondensator ersetzt: Dieser speichert witterungsunabhängig genug Energie für zwei Auslösungen und lässt sich über ein Micro-USB-Kabel oder zwei AA-Batterien in 40 Minuten wieder aufladen. «Der Airbag kann zum Trainieren mehrmals ausgelöst werden, ausserdem sind auf einer Tour mehrere Auslösungen möglich. Eine Situation, bei der dies notwendig ist, sollte aber natürlich nicht provoziert werden», warnt Produktmanager Matthias Schmid. «Der Vorteil mehrerer Auslösungen liegt eher darin, dass man den Airbag im Zweifelsfall rascher auslöst und weniger Gefahr läuft, den richtigen Moment für die Auslösung zu verpassen.»
Was bringt die Zukunft?
«Die Systeme mit Druckpatronen sind bereits sehr ausgereift, bei den elektronischen ist aber vermutlich noch einiges an Potenzial vorhanden», schätzt Matthias Schmid. «Es könnte gut sein, dass irgendwann wieder ein neues System alle anderen in den Schatten stellt – die Unterschiede werden aber nicht mehr so gross ausfallen, dass aktuelle Modelle ersetzt werden müssten.»
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