So sieht das aus, wenn ein Zyklop einen gigantischen Schneemann baut und ihn danach mit Urgewalt wieder flach macht. Mit dem Unterschied, dass er statt ein paar Ästen ganze Baumstämme als Ärmchen verwendet. Und grosse Gesteinsbrocken als Augen.» Dani drosselt das Tempo seines Campervans auf Schritttempo, als er bei Holzerhiischere an einem gewaltigen Lawinenzug vorbeifährt. Unzählige Bäume ragen heraus, umgeknickt wie Streichhölzer von der brachialen Gewalt der Schneemassen. Die weitläufigen Südhänge unterhalb von Eggerhorn und Chlis Fülhorn sind Ende März weitgehend ausgeräumt. Einmal ins Rutschen gekommen, gab’s kein Halten mehr. Lochgrabe und Tielöüwigrabe fungierten dabei wie riesige Trichter, durch welche die Schneemassen mit unvorstellbarer Kraft durchgepresst wurden, bis sie dann am Gegenhang endlich zum Stillstand kamen. Nicht jedoch, ohne mit ihrer Druckwelle noch all die Bäume umzupusten, die dieser Urgewalt nicht genug entgegenzuhalten hatten. Die Strasse ist schon seit einiger Zeit mit Schneefräsen und Motorsägen geräumt worden. Geblieben ist ein beeindruckender, über drei Meter hoher Querschnitt eines Gemischs aus Bäumen und Schnee.
Magie für die Bucket List
«Da hätte auch das LVS-Gerät nichts mehr genützt», quittiert Leni salopp, als sie im Weiler Fäld die Funktionskontrolle der Lawinenverschüttetensuchgeräte durchführt. An diesem späten Märztag herrscht Lawinenwarnstufe 2. Damit geniesst das Thema Lawinengefahr nicht mehr dieselbe Aufmerksamkeit, die sie noch vor Kurzem erfordert hätte. In flottem Tempo geht es auf der schneebedeckten Strasse nach Figgerscha. Es lässt sich nur erahnen, welche Schätze sich unter der dicken Schneedecke verbergen. Auch die einfache Baracke der Mineraliengrube Lengenbach, an der die Aufstiegsroute vorbeiführt, deutet nicht darauf hin, dass dieser Ort eine der zehn bedeutendsten Mineralfundstellen der Welt ist. Bisher konnten allein in der kleinen Grube insgesamt 165 Minerale nachgewiesen werden – für einige von ihnen ist die Mineraliengrube Lengenbach die bisher einzige bestätigte Fundstelle weltweit.
Leni und Dani interessieren sich mehr für die glücklicherweise nicht ganz so seltenen, dafür umso vergänglicheren Schneekristalle. Und die vermuten sie am heutigen Tag in ihrer trockensten Form in den nordseitigen Hängen am Schwarzhorn. Der Gipfel und die nachfolgende Abfahrt müssen allerdings zuerst verdient werden. Von dem angekündigten Wetterhoch ist noch nichts zu sehen. Eine dichte Nebeldecke liegt über dem Binntal, als die zwei in regelmässigen Spitzkehren zwischen dem Erlengestrüpp oberhalb der Mineraliengrube an Höhe gewinnen. Das Vorankommen gestaltet sich im Gebiet Alte Mässerchäller wesentlich einfacher, denn die uralten Lärchen schirmen in ihrem Sommerkleid so viel Licht ab, dass im Wald nur wenig Unterwuchs ist. «Fantastisch», murmelt Dani leise, während er eine Aufstiegsspur in den Altschnee legt. Seine Begeisterung gilt den unzähligen Felsblöcken, die in Grössen von Kleinwagen bis 40-Tönner überall im Wald verstreut liegen. Allesamt haben sie eine meterdicke Schneehaube auf. «Die liessen sich zu einer perfekten Pillow Line kombinieren», erklärt er Leni. Heute muss allerdings der Konjunktiv bemüht werden, denn die Schneekissen sind alles andere als weich. In der Bucket List in seinem Kopf wird der Mässerchäller als «Zauberwald» in der Liste aller unerledigten Skitourenprojekte abgespeichert. Zuerst sind allerdings die beiden Ziele dran, die Dani bei der Ankunft am Vorabend beim Blick aus dem Hotelzimmer erspäht hat: «Waaaahnsinns-Couloirs». Auf Danis virtueller Topo-Karte prangt eine Stecknadel bei den zwei parallel verlaufenden Rinnen, die über 1000 Höhenmeter in gleichmässiger Steilheit vom Gipfel des Breithorns zum Bachbett der Binna hinunterziehen.
Der Manibode gilt den Einheimischen als Kraftort. Man braucht kein Flair für Esoterik zu haben, um das zu verstehen. Just in dem Moment, als Leni und Dani die auf 2000 Metern Höhe gelegene Ebene erreichen, verflüchtigen sich die Nebelwolken. Nicht jedoch, ohne sich vorher einen dramatischen Kampf mit den immer kraftvolleren Sonnenstrahlen zu liefern. Die Sonne behält schliesslich die Oberhand und lässt Grampielhorn, Rothorn, Schwarzhorn und Stockhorn in warmem Licht erleuchten. Die Isolationsschicht verschwindet im Rucksack, die Hardshelljacke ist mehr denn je gefragt. Ein kräftiger Westwind bläst vom Furggulti herab und droht den Torso innert kurzer Zeit auszukühlen. Statt der Standardaufstiegsroute entscheiden sich Leni und Dani für die direkte Route. Nicht ohne Hintergedanken, denn so können sie schon im Aufstieg auschecken, wo der Schnee für die anschliessende Abfahrt am besten ist. Die steilen Aufschwünge über den Gletscher umgehen sie in westlicher Richtung. Das erscheint ihnen nicht nur sicherer, sondern auch angenehmer. Je höher sie steigen, desto stärker wird der Wind. Sie verlieren deshalb keine Zeit, richten auf 3050 Metern das Skidepot ein und klettern die verbleibenden 67 Höhenmeter zum Schwarzhorn hoch. Punta Marani nennen die Italiener den Grenzgipfel, den man auch vom Rifugio Castiglioni und der Alpe Devero aus besteigen kann. Wie vermutet und erhofft finden die zwei auch Tage nach dem letzten Schneefall noch unverspurten Schnee in der gewünschten Konsistenz: in leichten Kristallen.
Leichter Schnee, schwerer Wein
So leicht die Kristalle im Binntal sind, so schwer wiegt der Wein. Am Ende eines herausragenden ersten Tourentages schwenkt Leni das Weinglas, schliesst die Augen und atmet tief ein. Der Heida der St. Jodern Kellerei riecht verführerisch und strahlt in einem dunklen Gelb. Der Wein ist eine Besonderheit. Und das in zweierlei Hinsicht: Nicht nur ist Visperterminen das höchst gelegene Weinanbaugebiet Europas, die Trauben der Rebsorte Savagnin Blanc werden dort oben von wurzelechten Reben gewonnen, die über 100 Jahre alt sind. Der Wein zum Apéro ist ein Versprechen für das, was später auf dem Teller und im Rotweinglas folgt. Das Restaurant und Pension Albrun wird von Mario Inderschmitten und seiner Frau Laetitia geführt. Er, der Binntaler, der nach seinen Lehr- und Wanderjahren den Weg zurück in seine Heimat gefunden hat. Sie, die Elsässer Hotelfachfrau, die mit viel Charme und Erfahrung für das Wohl der Gäste sorgt. Zusammen wirten sie so erfolgreich, dass die Gastrokritiker von Gault & Millau dem Restaurant Albrun 15 Hauben verliehen haben. So gediegen das Nachtessen, so einfach die Zimmer – als Bergsportler fühlt man sich hier jedenfalls zu keinem Zeitpunkt deplatziert.
Zu schwer war der Wein offenbar nicht. Zur frühen Morgenstunde sind Dani und Leni die einzigen zwei Skitourengeher hier oben am Mässersee, der sich unter ihren Tourenskis und der dicken Schneedecke nur erahnen lässt. Es herrscht absolute Ruhe. Kaum zu glauben, dass die Wanderer hier im Sommer dutzendweise an den Ufern rasten und picknicken. «Schau, dort drüben sind unsere Abfahrtsspuren von gestern noch ansatzweise zu sehen», freut sich Leni und zeigt mit ihrem Skistock in Richtung Schwarzhorn. Über das nur mässig ansteigende Hotäl erreichen sie auf 2700 Metern ein kleines Plateau, von dem aus das Grosse Schinhorn zum Greifen nah scheint. Anders als am Vortag ist es heute fast windstill und der Himmel ist wolkenlos. Dass das nicht immer so ist, davon zeugt die gewaltige Wächte am Mittelbergpass. Von hier sind es nur noch etwas mehr als hundert Höhenmeter zum Gipfel, wobei die letzten Meter zum Gipfelkreuz zu Fuss zurückgelegt werden. «Irgendwo da hinten müsste die Binntalhütte sein», meint Dani, während sein Blick Richtung Osten schweift. «Und gleich hinter dem Albrunhorn der gleichnamige Pass.» Heute ist kaum vorstellbar, dass im 13. Jahrhundert die Walser über diesen Pass nach Italien und weiter dem Alpenhauptkamm Richtung Osten zogen, auf der Suche nach einer neuen Heimat und einem besseren Leben. Was sie zurückgelassen haben, ist – an den heutigen Standards gemessen – nämlich ein kleines (Skitouren-)Paradies.
Binntal in Zahlen
- 15 Hauben vergibt Gault-Millau dem Restaurant Albrun.
- 9 Skitouren-Dreitausender bietet das Binntal.
- 350 verschiedene Mineralien sind für das Binntal und die Alpe Devero nachgewiesen.
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