Hans Berger ist ein weit gereister Alpinist. Er
kennt die Berge der Welt, ist als Bergführer in
allen Gebirgsgruppen der Alpen unterwegs. Und
er war bis zum Ende des Sommers 2017 Hüttenwart auf
der Salbithütte in den zentralen Urner Alpen. Logisch,
dass er die beiden Traumlinien an seinem Hausberg,
den Salbitschijn, liebt und lobt. Aber er weiss auch um
die Beliebtheit insbesondere des Südgrates, den er selber
als «Symphonie in Granit» in den höchsten Tönen
lobt. Fragt man ihn nach einer Alternative, kommt die
Antwort ohne zu zögern: «Klettert den Westgrat am
Feldschijen!»
«Feldschijen – noch nie gehört!» – das dürfte wohl der
häufigste Kommentar sein, wenn man Alpinisten nach
dem Westgrat des Feldschijen fragt. Und auch ich hatte
ja keine Ahnung. «Wo steht denn der Berg überhaupt?»,
war daher meine nächste Frage an Hans. Von der Terrasse
seiner Hütte zeigt er auf ein relativ unscheinbares
Ensemble von Granitfelsen auf der Südseite des
Göscheneralpsees. Und dort soll eine dem Südgrat des
Salbitschijns vergleichbare Tour zu finden sein?
SELEKTIVER ZUSTIEG
Zu viert machen wir uns auf, die Aussagen des Hüttenwarts
zu überprüfen. Sonja und Simone als starke
Frauen-Seilschaft, Alex und ich als männliches Pendant.
Was sofort als Unterschied zum Salbit ins Auge
fällt, beziehungsweise in die Waden fährt, ist der Zustieg.
Satte 600 Höhenmeter wollen auf einem steilen
Pfad überwunden werden, bevor man die Hand an den
Fels legen darf. Ein Filter, der schon immer die Spreu vom Weizen trennte. So stehen wir dann auch nach
zwei Stunden und einem schweisstreibenden Zustieg
alleine im Blockfeld unterhalb des Grates. Wobei unsere
Augen schon dabei sind, den Fels abzusuchen: Wo
ist eine kletterbare Linie? Wie lässt sie sich absichern?
Alex findet als Erster die drei Bohrhaken, welche die
erste Seillänge absichern. Die Routenführung ist eindeutig.
Spreizend und piazend klettert er hinauf zum
ersten Stand direkt auf dem Grat. Das sieht vielversprechend
aus!
Mit dem Erreichen der Gratschneide weicht der konzentrierte
Blick der ersten Klettermeter erstmals der
Weite der Umgebung. Das gesamte Panorama der zentralen
Urner Alpen tut sich auf, eine Landschaft bestehend
aus den Farben Weiss, Grün und Grau. Oder übersetzt:
Eis, Gras und Granit. Eis von immer noch beeindruckenden
Ausmassen ist am Dammastock zu finden, mit
3630 m der höchste Berg im weiten Rund. Seine Gletscher
bzw. deren Schmelzwässer waren es, die vor
rund 70 Jahren den Startschuss zur Errichtung des
Göscheneralpsees gaben. Am Grund des türkisgrünen Sees des 1960 fertiggestellten Staudamms befinden
sich noch heute der Kirchturm des ehemaligen Dorfes
Göscheneralp. Seine Anwohner hatte man damals umgesiedelt
in den Weiler Gwüest, oberhalb des heute für
Kletterer so wichtigen Zeltplatzes.
Der gekonnte Einsatz von Keilen und Friends
hilft Risiken und Nebenwirkungen des
alpinen Kletterns überschaubar zu halten.
GRANIT – DIE URNER FELSBURGEN
Granit wiederum ist die Basis von allem in den Urner
Alpen. Wer in der Schule aufgepasst hat, erinnert
sich: «Feldspat, Quarz und Glimmer, vergess’ ich nimmer!
» Granit ist sicherlich eines der am einfachsten
aufgebauten Gesteine – aus mehr als den genannten
drei Mineralien besteht Granit nicht. Generell und
überall auf der Welt. Und woher kommen sie? Granit
ist ein magmatisches Gestein, entstanden in den Tiefen
unserer Erde. Vor vielen Millionen Jahren drang geschmolzenes
Gestein in die Erdkruste ein und blieb
während ihres Aufstiegs in Tiefen zwischen ca. vier und
sechs Kilometern stecken. Dort hatte der heisse Gesteinsbrei,
den man sich von der Form her ungefähr
vorstellen muss wie einen in das umgebene Gestein
eingelagerten Pilz, dann Zeit. Viel Zeit – um abzukühlen und grosse Kristalle zu bilden. Durch den Abkühlungsprozess
schrumpfte auch der gesamte Gesteinskörper,
es bildeten sich Schrumpfungsrisse, die
– anders als man das z. B. vom Bodensatz einer
Pfütze her kennt – im rechten Winkel zueinander stehen.
Wenn man also den gesamten Gesteinskörper
betrachtet, ist dieser durchzogen von senkrecht aufeinander
stehenden Rissen, so als wäre dieser aus
Quadern unterschiedlicher Grösse aufgebaut. Noch
jedoch steckt das Gebilde tief in der Erdkruste. Und
das wäre auch noch lange so geblieben, hätte nicht
Afrika in seiner Kontinentalbewegung vor ca. 55 Millionen
Jahren einen Nordschwenk vollzogen – auf Kollisionskurs
mit Europa. Es bildeten sich die Alpen, und
zuvor tief im Erdinnern geparkte Gesteine kamen
durch Hebung und Erosion an die Oberfläche. Wasser
konnte jetzt auch den Urner Granit angreifen und
drang in die bereits von der Natur angelegten Schwachstellen
des Gesteins ein – die senkrecht zueinander
stehenden Risse bzw. Klüfte. Durch den sich ständig
wiederholenden Zyklus des Gefrierens und Tauens
sprengte sich das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes
in den Fels hinein, die Gletscher der letzten Eiszeit
räumten den entstandenen Schutt zu Tal. Übrig blieben
die Zacken, Plattenfluchten und Grate der Urner
Berge. Riesige Felsburgen, deren Mauern von parallel
zueinander verlaufenden Rissen und Verschneidungen wie von einem surrealen Muster überprägt wirken.
Wo der Fels überdeckt ist von ein wenig Erdkrumen,
gedeiht üppiges Gras, dessen intensives Grün in wohltuender
Harmonie zum Grau des Granits steht.
EINE PERFEKTE LINIE
«Stand!» ruft Alex und ich weiss, dass die nächsten 30
oder 40 Meter Klettergenuss folgen werden. Denn der
Grat ist gerade in den unteren Seillängen der pure Genuss,
nie schwerer als der obere V. Grad zieht er sich
gen Himmel. Nach einigen etwas flacheren Metern, bei
denen man seinen Gleichgewichtssinn tänzelnd auf der
Gratschneide überprüfen kann, folgt eine Seillänge, für
die allein sich die gesamte Route lohnt: die Nummer 9!
Fantastisch ausgesetzt piazt man hier eine senkrecht
gestellte Platte hinauf, bestens abgesichert mit einigen
Bohrhaken. Nur an einer Stelle weicht man für wenige
Meter auf die Platte aus, ansonsten klettert man immer
direkt an der nur wenige Zentimeter schmalen Kante.
Ein Traum aus Granit, noch schöner und eleganter geht
Klettern eigentlich nicht. Wobei – auch die Schlüsselstelle der gesamten Tour in der 13. Seillänge ist, wenn
man nicht in die Haken greift, eine sich tief in die Erinnerung
eingrabende Einzelstelle. Nicht ganz so luftig
wie die Piazschuppe, dafür aber steil und überhängend,
führt die Route durch ein schmales Dach, das von unten
gesehen erst einmal unkletterbar aussieht. Aber, wie
bereits ein alter Kletterfreund sagte: «Es löst sich alles
auf». Griffe und Struktur bieten deutlich mehr Reibung
und Halt, als es zunächst den Anschein hat.
Gipfelblock und Gipfelglück im Regen. Von links: Sonja Schade, Alex Wick und Simone Bürgeler.
Nach rund vier Stunden erreichen wir alle den Gipfelblock,
tragen uns in das exklusive Gipfelbuch ein. Die
Feuchte des einsetzenden Regens kann uns die gute
Laune nicht aus dem Gesicht nehmen: Die Route ist ein
Traum. Gegenüber stehen die Granitfluchten des Salbitschijns,
wunderbar einzusehen. Wir sind zu weit weg,
um Menschen zu erkennen, aber es fällt nicht schwer,
sich das Gedränge am Stand oder das Seilchaos bei so
manchem Überholmanöver vorzustellen. Wer eine lohnenswerte
Alternative sucht, sollte auf Hans Berger
hören: «Klettert den Westgrat am Feldschijen!»
Anreise
Mit der Bahn bis Göschenen. Vom Bahnhof in Göschenen fährt ein Bus bis hinauf zum Göscheneralpsee.
Beste Zeit
Sobald die Sonne den Schnee vertrieben hat: Juni bis September.
Führer
- Toni Fullin, Andi Banholzer, SAC-Führer Urner Alpen Bd. 2, SAC-Verlag 2010
- Jürg von Känel, Schweiz plaisir Ost, Edition Filidor (Nachdruck 2012)
Karten
Landeskarte der Schweiz, 1:25.000, Blatt 1231 Urseren
Information
Andermatt-Urserntal Tourismus GmbH
Gotthardstrasse 2
Postfach 247
6490 Andermatt
Tel: +41 41 8887100
www.andermatt.ch
Bergführer (unter anderen)
Hans Berger
Gotthardstrasse 31a
6490 Andermatt
Tel: +41 41 8870060
www.salbit.ch
Oder auch bei unserer Partner-Bergschule: www.bergpunkt.ch
Hütten
- Salbithütte, 2105 m, 3,5 Std. vom Bahnhof in Göschenen über «Regliberg», bewirtschaftet von Mitte Juni bis Mitte Oktober, 60 Lager, Tel: +41/(0)41/8851431, www.salbit.ch
- Voralphütte, 2126 m, 5 Std. von der Salbithütte (oder 2,5 Std. von der Bussstation in der Voralpkurve), bewirtschaftet von Mitte Juni bis Ende September, 40 Lager, Tel: +41/(0)41 887 04 20, www.voralphuette.ch
Touren
- Salbitschijn – Südgrat (2981 m), Überschreitung über Takala (8 SL, VI+ (6- obl.)) und Südgrat (12 SL, VI+ (VI- obl.)), 1,0 h Zustieg, 5 - 7 Std. für den Grat und 2 Std. Abstieg.
- Salbitschijn - Westgrat (2981 m), Überschreitung über Westgrat (32 SL, VII A1 (VI+ obl.)), 12 - 16 Std. für den Grat, 2 Std. Abstieg. Der «Rolls Royce“ unter den Granitgraten».
- Feldschijn – Turm III (2828 m), Westgrat (15 SL, VII (VI+ obl.)), 2,5 Std. Zustieg, 4 Std. Gratkletterei, 2 – 3 Std. Abstieg. Luftige Alternative zum Südgrat mit einigen grandiosen Piazeinlagen. Die Schlüsselstelle (Überhang) kann auch mit Hakenhilfe überwunden werden.
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar schreiben