Die Ausgangslage: Flachlandlauferfahrung
Meine Lauferfahrung habe ich über die letzten 10 Jahre auf Asphalt und Kieswegen aufgebaut. Jährlich absolviere ich ein bis zwei Halbmarathon-Wettkämpfe, wandere oder schneeschuhlaufe ab und zu an den Wochenenden und während der Arbeitswoche bin ich in der Kletterhalle oder draussen beim Bootcampen anzutreffen. Eine «gute Grundfitness» beschreibt meine Physik wohl am besten.
Um beim langen Sonntagslauf etwas Abwechslung zu schaffen, habe ich vor einigen Jahren mit unregelmässigen «Cross-Country-Runs» begonnen. Durch Wälder und Wiesen, über Zäune und Bäche mache ich jeweils Querfeldein-Läufe von rund 15 Kilometern Länge, welche zwischen 1.5 und 2 Stunden in Anspruch nehmen. Diese Läufe haben bereits einen gewissen Trailcharakter.
«Richtig» Trailen gehen wollte ich aber eh schon länger.
Die Vorbereitungen
Das "Gepäck" für den Trailrun: Trinkrucksack, randgefüllte Trinkblase, zwei Energieriegel und eine Packung Taschentücher.
- Internetrecherche: Ich durchforste Blogs und Youtube-Videos und lerne schnell die wichtigsten Punkte kennen: Der Traillauf wird langsamer und anstrengender sein als der Strassenlauf, die Aufmerksamkeit gilt der unmittelbar vor mir liegenden Wegstrecke und ich benötige ein Paar Trailschuhe für das ganze. Zudem solle man es vorsichtig angehen und eine an der eigenen Leistungsfähigkeit ausgerichtete Strecke in Schen Schwierigkeit und Länge wählen.
- Selbstkenntnis: Wie lange ich laufen oder wandern kann, wann Krafteinbrüche kommen und wie ich ihnen begegne – viele solcher Aspekte kann ich bei mir abschätzen. Diese Selbstkenntnis ist mein wertvollstes Instrument bei der Planung. Es bewahrt mich davor, eine Route ausserhalb meiner Fähigkeiten in Angriff nehmen zu wollen und gibt mir die Sicherheit, dass ich zu Beginn des Laufes weiss, dass ich ihn auch schaffen werde. Meine ich zumindest …
- Logistik: Das Osterwochenende bietet die perfekte Gelegenheit für einen mehrtägigen Ausflug ins Ticino. Diesen Trip will ich für mein Trail-Experiment nutzen. Ich hatte mir eh schon mehrmals vorgenommen, tiefer in die Tessiner Täler vorzudringen und kann das gleich kombinieren. Mitten in der Nacht fahre ich mit dem VW-Bus nach Locarno und erreichen den Stellplatz in den frühen Morgenstunden. Die Wetterbedingungen am Wochenende sind perfekt: Sonnenschein, 22 Grad, leichter Wind.
Die Route: Aus dem Centovalli zurück nach Locarno
Die rund 15 Kilometer lange Strecke ist ein Mix aus allem: verschlungene Waldpfade, harte Asphalt-Abschnitte, steinige Anstiege, enge Tessiner Gässchen, sandige Flussuferwege. Startpunkt ist das winzige, mit dem Zug zu erreichende Corcapolo im Centovalli, Zieleinlauf ist auf dem Maggiadelta. Insgesamt 650 Höhenmeter Anstieg, 950 Meter Abstieg. Wanderzeit rund 5 Stunden. Ich bilde mir ein, dass es sich hierbei um eine einfache Route handelt. Sie würde mich bestimmt fordern, doch ich erwarte, dass ich da ohne grosse Probleme durchkommen werde. Gefunden habe ich diese Route beim ausgiebigen Stöbern auf den Wanderkarten.
Die Ausrüstung
- Alpine Pro Trailschuh von Dynafit: Schuhwerk für anspruchsvolle Trails, Vibram Megagrip-Sohle, Sprengung von 8 Millimetern und ein praktisches Schnellschnür-System inklusive Abdecklasche, damit die Senkel beim Laufen nicht stören (super praktisch!).
- Osprey 1.5l Trinkrucksack: Neben der Trinkblase bietet der Rucksack noch ein kleines bisschen Platz für Autoschlüssel, Taschentücher und zwei Energieriegel. Wichtig ist hier die Smartphone-Tasche, welche direkt am Schulterträger angebracht ist. Für Fotos und Navigation muss ich einfach und schnell auf das Handy Zugriff haben und es ebenso schnell wieder verstauen können.
- Zwei Powerriegel: Bei dieser Verausgabung ist klar, dass ich unterwegs Energiezufuhr brauchen werde. Die Riegel sind kompakt und fallen nicht ins Gewicht – die optimale Wegzehrung.
- Smartphone: Kommt immer mit. Navigieren, Tickets lösen, bezahlen, Fotos machen – alles passiert mit dem Handy. Und natürlich auch aus Sicherheitsgründen will ich es immer dabei haben beim Wandern, Laufen und nun natürlich auch beim Trailrunning.
- Laufbekleidung: Sportshorts, Sportshirt, eine alte Baseballmütze
Der Lauf: ein Wechselbad der Gefühle
Ich komme mit dem Zug in Corcapolo zur Mittagszeit an. Es ist wunderschön: Vom Lago Maggiore her zieht ein warmer Frühsommerwind das Tal hinauf, in den Vorgärten der Häuser im Hang wehen stolz die Tessinerflaggen und jeder freier Meter ist mit Weinreben bebaut.
Abschnitt 1: In Corcapolo auf den Trail
Mit viel Schwung nehme ich den Lauf in Angriff. Die Route führt in einem steilen Zickzack über einen mit Naturstein befestigten Pfad hinunter zum Melezza-Bach und über eine Brücke. Die Steine und Felsen sind von sich sonnenden Eidechsen bevölkert. Auf der anderen Seite wechseln sich erdige, steinige und laubige Passagen ab. Der Pfad führt der nördlich ausgerichteten Hangseite entlang talwärts.
Der Fluss Melezza führte, wie alle Bäche im Tessin im Frühjahr 2022, sehr wenig Wasser.
Ich merke sofort: Trailrunning mit einem solchen konstant wechselnden Untergrund ist harte Arbeit! Kontinuierlich scannt mein Blick die unmittelbar vor mir liegenden Meter, damit ich die Schritte sicher aufsetzen kann. Die Schritte sind kurz. Wenn es eben und hindernisfrei ist, jogge ich. Geht es steil auf- oder abwärts, bin ich mit einem leichtfüssigen Wanderschritt unterwegs. Je technischer das Gelände wird, umso mehr verlagere ich die Lauftechnik hin zum Vorfusslauf. Mein Bewegungsapparat ist schon etwas mit dem Vorfusslauf vertraut: Ich experimentiere immer mal wieder mit den unterschiedlichen Lauftechniken. Meine ganze Aufmerksamkeit ist gefragt und ich folge einmal gar der falschen Wegabzweigung, weil ich so sehr auf die Trailrunning-Beinarbeit konzentriert bin.
Unterwegs komme ich an verschlafenen Rustici und einer eindrücklichen Steinbogenbrücke vorbei. Ich halte immer wieder an, mache einige Fotos und geniesse die Ruhe hier im Centovalli. Der kleinere der beiden Energieriegel hat es aus präventiven Gründen bereits in meinen Bauch geschafft.
Der Weg aus dem Centovalli heraus führt vorbei an romantischen Tessiner Rustici, bei welchem man sofort ins Träumen kommt, wie das Leben wohl wäre, man könnte sie sein eigen nennen ...
Abschnitt 2: Verschnaufpause auf Asphaltpassage in Golino
Nach rund 3 Kilometern auf dem Naturpfad erreiche ich eine befestigte Bergstrasse. Sie führt über rund 2 Kilometer hinunter nach Golino, bevor es wieder zurück auf den Wildtrail geht. Es ist eine regelrechte Verschnaufpause, auf dem Asphalt in den gleichmässigen Laufschritt überzugehen und die hypnotische Aufmerksamkeit vom Weg lösen zu können. Denn in einen Rhythmus gekommen bin ich auf dem Naturtrail nie, viel zu oft wechselte das Terrain.
Ich ziehe ein erstes Zwischenfazit: es ist viel anspruchsvoller, als ich es erwartet hatte. Aber auch viel schöner und viel abwechslungsreicher als meine üblichen Joggingrunden.
Sicht vom Trail auf das Dörfchen Intragna.
Abschnitt 3: Steiler Anstieg auf dem Weg nach Arcegno
Am Ende des Dörfchens Golino geht es zurück auf den Naturpfad und es wird ernst: Die Strecke steigt nun um 400 Höhenmeter steil an. Wie sehr mich dieser Anstieg fordern würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Bereits nach kurzer Zeit bin ich ausser Atem und muss mich kurz hinsetzen. Ich raffe mich wieder auf und gehe weiter. Der Stand ist unsicherer geworden, die Beine sind zittrig.
Ich drossle das Aufstiegstempo deutlich und achte auf einen gleichmässigen Schritt. Der grosse der beiden Energieriegel kommt aus dem Rucksack und wird weggefuttert, dazu trinke ich viel Wasser. Das hilft. Als der Weg links abbiegt und wieder in die waagrechte führt, freue ich mich und habe wieder zu Kraft gefunden. Allerdings ist die nun folgende Passage stark von trockenem Laub bedeckt, sodass ich den darunterliegenden Boden kaum einschätzen kann.
Die Gässchen im malerischen Arcegno sind wahrlich Postkartenmaterial. Man kann sich kaum sattsehen.
Bald komme ich im malerischen Berdorf Arcegno an. Steinhäuser reihen sich aneinander, enge Gässchen schlängeln sich labyrinthähnlich durch das Dorf, abgesehen von einer alten Nonna ist niemand anzutreffen. Ich kurve mehrmals durch den Dorfkern, bis ich sämtliche Gässchen erkundet habe und nehme schliesslich die letzte Etappe in Angriff. Ich habe es durch das Energieloch geschafft und etwas wie ein Laufrhythmus hat sich eingestellt.
Abschnitt 4: der Maggia entlang zurück nach Locarno
Erst noch durch etwas Wald, folgt schon bald wieder befestigter Untergrund. Ganz unspektakulär folge ich der Hauptstrasse durch Losone hindurch und biege bei der Maggia auf den sandigen Uferweg.
Inzwischen schmerzen meine Füsse, ich bin körperlich und auch geistig erschöpft und habe den Lauf in meinem Kopf eigentlich schon beendet. Ich kann den Impuls nicht mehr widerstehen und ziehe die Schuhe aus. Was für eine unglaubliche Wohltat es ist, barfuss auf dem warmen Sand zu gehen. Bei nächster Gelegenheit steige ich zum Fluss hinab, setze mich hin und erfahre die noch viel grössere Wohltat des kühlenden Maggiawassers an meinen müden Füssen. Ich beschliesse, dass für heute genug gelaufen wurde.
Am Abend nach dem Lauf belohne ich mich mit meinem Lieblingsessen: einer Portion Spaghetti Bolognese an der Riviera von Locarno.
Fazit
Der Lauf hat sich als intensive Trainingseinheit herausgestellt: viele Tempowechsel, Koordination und Motorik im Dauerbetrieb, Steigungen und Gefälle, unterschiedlichstes Gelände – und dies eingebettet in die wunderschöne Landschaft des wilden Centovalli. Genau in dieser Vielfalt liegt der Reiz und das Potential von Trailrunning.
Material und Equipment hat tiptop gepasst, meine Leistungsfähigkeit war jedoch nicht ganz auf dem erwarteten Niveau. Dank ausreichend Wasser und Wegzehrung konnte das gut abfangen (womit wir wieder bei der Selbstkenntnis wären). In diesem Punkt bin ich nicht zu streng mit mir selber; ich bin ja immer noch ein Hobbyläufer und kein Wettkampfathlet.
Für meinen allerersten dedizierten Traillauf war die Strecke ganz klar am oberen Limit bezüglich Schwierigkeitsgrad. Ich möchte bei nächster Gelegenheit unbedingt zurück auf die Naturpfade, werde bei der Routenwahl auf ein weniger technisches Gelände setzen und auf grosse Höhenanstiege verzichten (mehr gelbe Wanderwege, weniger rot-weisse Bergwanderwege).
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