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Eine Frage der Faser

Thomas Ebert, Donnerstag, 23. Juni 2022

Wenn es um Bergsportbekleidung geht, denken viele zuerst an die wetterfeste Hardshelljacke. Dabei beginnt die «Funktion» schon bei der ersten Schicht – je nachdem, aus welchem Material man seine Wäsche wählt. Eine kleine Materialkunde.

Früher war alles besser! Selten wird dieser Spruch so schnell als Trugschluss entlarvt wie bei einem Rundgang durch ein Bergsportgeschäft. Was hätten sich die Gipfelstürmer (und Stürmerinnen!) zur vorletzten Jahrhundertwende, auch diejenigen der 50er- und 60er-Jahre die Finger nach dieser Ausrüstung geleckt. Federleicht! Unzerstörbar! Funktionell und wetterfest! Aber es ist, wie es ist. Jeder von uns ist ein Kind seiner Zeit, das hin und wieder von der Vergangenheit träumt: Es gibt tatsächlich eine kleine Szene, die sich auch heute noch im Klettergewand der 1920er-Jahre kleidet und auf Hochtouren geht. Eine andere Option, den Altvorderen Respekt zu zollen, ohne auf die Errungenschaften der Textilforschung zu verzichten, wäre diese: sich einmal vertieft mit dem auseinanderzusetzen, was uns heute auf unserer Haut zu Höchstleistungen verhilft. Daniela Stünzi ist Einkäuferin und Produktmanagerin für den Bereich Damenbekleidung und Accessoires. Sie ist bestens vertraut mit den aktuellen Trends im Textilbereich und weiss, welche Faser wie funktioniert und welche Vor- und Nachteile sie jeweils besitzt.

Die Naturfasern

Für einen ersten Überblick kann man Base- und Midlayer in drei Kategorien aufteilen: nämlich erstens in solche aus Naturfasern, zweitens aus Kunstfasern und drittens aus einer Mischung von beidem. Im Bereich der Naturfasern spielt heute Merinowolle die grösste Rolle – also das feine Haar der Merinoschafe, das viel feiner und damit weniger kratzig ist als das der hiesigen Schafe. «Baumwolle findet man bei uns nur noch im Lifestyle- und Boulderbereich», erklärt Daniela Stünzi. Aus gutem Grund. Denn Baumwolle hat zwar einen guten Tragekomfort und fühlt sich auf der Haut angenehm an: «Aber das Feuchtigkeitsmanagement ist schlecht», so Stünzi, denn Baumwolle trocknet, einmal von Schweiss oder Regen durchnässt, nur sehr langsam. Und nasse Kleidung birgt am Berg immer die Gefahr, auszukühlen. Teilweise sei Baumwolle auch noch bei Boulder-Bekleidung oder als Anteil von Mischgeweben zu finden, so Stünzi. «Aber wenn es um Bekleidung für Bergsport geht, dominieren vor allem Kunstfasern und Merinowolle.»

Gerade die Merinowolle hat in den letzten Jahren ein sagenhaften Steigerungslauf hingelegt. Zum bereits erwähnten guten Tragekomfort kommen spezielle Eigenschaften, die wie gemacht sind für Bergsportlerinnen und Bergsportler: «Merinowolle ist temperaturregulierend. Es kann nicht aus 20 Grad 15 Grad machen, aber es ist schon ein spürbarer Effekt», erklärt Stünzi. Tatsächlich findet man heute auch T-Shirts für sommerliche Temperaturen aus Merinowolle, ermöglicht durch beständigen Fortschritt in der Herstellung immer feinerer Garne. Noch vor wenigen Jahren war Merinowolle nur bei langärmeliger Skiunterwäsche oder isolierenden Zwischenschichten üblich. Die Naturfaser hat eine hochkomplexe Struktur, die ihr besondere Eigenschaften verleiht: Erstens kann Merinowolle einen hohen Anteil an Feuchtigkeit aufnehmen und in ihrer Faserstruktur «verstecken», ehe sich das Textil unangenehm feucht anfühlt. Und zweitens unterdrückt diese Struktur auch die typische Geruchsbildung. «Merinowolle riecht einfach nicht so stark», erklärt die Produktmanagerin, «das ist auf Mehrtagestouren schon ein gewaltiger Vorteil.»

Gut zu wissen: Mikron

Warum ist Grosis Wollpulli kratzig, während Merinowolle recht weich auf der Haut liegt? Der Grund liegt in der Stärke von Wollfasern, die in Mikron angegeben wird. Ein Mikron entspricht einem Mikrometer, also einem Tausendstel Millimeter oder 0,000001 Metern. Ganz klar: je feiner die Faser, desto weniger Kratzgefühl auf der Haut. Feine Merinounterwäsche hat in der Regel eine Stärke von 16 bis 23 Mikron, grobe Schurwolle hat eine Feinheit zwischen 28 und 38 Mikron. Exotische Wolle ist noch feiner, etwa das Unterhaar von Moschusochsen (11 bis 17 Mikron) oder Vikunjawolle (10 bis 20 Mikron). Ein menschliches Haar ist im Durchschnitt 50 bis 80 Mikron stark, weisse Rohseide ist gerade einmal drei Mikron dünn.

Neben der dominierenden Merinowolle sind im Bergsport noch zwei weitere Naturfasern relevant. Zum einen Hanf, das immer mehr Hersteller verarbeiten, etwa Ortovox, Ternua oder Maloja. «Hanf braucht im Anbau viel weniger Wasser und Chemie als Baumwolle, und es wächst sehr schnell», erklärt Stünzi, «es ist eine tolle, robuste Faser, die sich auch haptisch gut anfühlt.» In puncto Feuchtigkeitsmanagement und Temperaturregulierung schneidet Hanf besser ab als Baumwolle, kommt aber nicht ganz an Merinowolle heran. «Hanf ist derzeit vor allem bei Kletterbekleidung beigemischt, mit Anteilen von 30 Prozent. Früher waren die Seile daraus, jetzt sind es eben die Hosen und Shirts», lacht Stünzi.

Zum anderen ist da noch Lyocell, auch bekannt unter dem Markennamen Tencel. Dahinter verbirgt sich eine industriell hergestellte Zellulosefaser. «Lyocell wird gerne für Sommerbekleidung verwendet oder beigemischt», weiss Stünzi, «denn es hat kühlende Eigenschaften, fällt sehr schön und hat einen angenehmen Touch – ein wenig wie Seide.» Nicht unerwähnt bleiben soll auch das Projekt der Frauenmarke La Munt, die jüngst mit rezyklierten Kaschmir-Oberteilen an den Start ging. Die kuschlig-weiche Faser kannte man bis dato nur aus dem Luxusbereich. «Es tut sich viel derzeit», freut sich Stünzi, «das bringt die Branche voran.»

Die Kunstfasern

Seit 1935 mit der Nylonfaser erstmals ein Garn vollständig synthetisch hergestellt wurde, ist der Markt an Synthetikfasern unüberschaubar gross geworden. Bergsportler sollten vor allem drei kennen: Polyester, Polyamide (zu denen auch Nylon zählt) und Elastan. Die ersten beiden sind dabei so ähnlich, dass Stünzi die Unterschiede «für den Endkunden vernächlässigbar» hält. Polyester trocknet einen Tick schneller, ist geschmeidiger und hält die Farben etwas länger als Nylon, das dafür Vorteile bei Reissfestigkeit und Robustheit hat. Beide werden aus Erdöl hergestellt oder, was immer häufiger geschieht, rezykliert. Im Vergleich zu Naturfasern haben Polyester und Polyamid eminent bessere Eigenschaften im Abtransport von Feuchtigkeit – Synthetikbekleidung trocknet konkurrenzlos schnell. Zweiter grosser Vorteil gegenüber Merinowolle: Kunstfaser ist pflegeleicht. Nachteilig ist, wie jeder weiss, die (mehr oder weniger starke) Geruchsbildung verschwitzter Kunstfaser. Und: Beide Garne sind wenig dehnbar, weshalb oft Elastan ins Spiel kommt. «Dank Elastan macht ein Bekleidungsstück alle Bewegungen mit, auch wenn es eng am Körper anliegt», erklärt Stünzi. Weil vom Klettern bis zur Skitour überall am Berg viel Bewegungsfreiheit gefragt ist, findet man Elastan (im Englischen «spandex») sehr häufig auf dem Waschzettel im Kragen. Die Beimischung von drei bis acht Prozent Elastan genügt, «ohne dass es die grundsätzlichen Materialeigenschaften verändert», so die Bächli-Expertin.

Übrigens: Schon lange Zeit versuchen Hersteller, der Kunstfaser die nachteilige Geruchsbildung auszutreiben – meist über Beimischung bestimmter Partikel. Bei Bächli erhältlich sind etwa die Technologien «Zeroscent» von Odlo, bei der biobasierte Polymere des Schweizer Herstellers HeiQ einen Schutzfilm um die Kunstfaser legen. Schöffel geht bei «s.Café» einen anderen Weg und integriert gemahlenen Kaffeesatz schon bei der Garnproduktion in die Faser, um so die Struktur geruchshemmender zu machen. Und bei Bekleidung mit einer «Polygiene»-Ausrüstung sollen Silberchloride eine antibakterielle, geruchshemmende Wirkung fördern. «Man kann mit diesen Technologien den Effekt mindern, aber an Merinowolle kommt es noch nicht heran.»

Die Mischungen

Was also sollten Bergsportler für ihre Bekleidung wählen – Naturfaser oder Kunstfaser? «Ganz grob zusammengefasst macht Kunstfaser dann Sinn, wenn man zügig unterwegs ist, aktiv schwitzt und bald nach dem Sport duschen geht. Merinowolle empfehlen wir beim weniger schnellen Bergsport, bei Mehrtagestouren oder wenn man auf Skitour auch mal gemütlich Salami und Käse auspackt», erklärt die Produktmanagerin. «Man muss einfach schauen, wie viel man schwitzt.» Laut Stünzi würde derzeit bei Bächli etwas mehr Merinowäsche verkauft als solche aus Kunstfaser. Je weiter es in Richtung Midlayer geht, desto mehr gewinnt Kunstfaser wieder die Oberhand. Wobei die Unterscheidung von Kunstfaser und Naturfaser heutzutage gar nicht mehr so einfach möglich ist. Denn einerseits kommen derzeit biobasierte Kunstfasern auf den Markt, etwa auf der Basis von Rizinussamen, wie im Textil «Natex» der Firma UYN. Und andererseits haben Hersteller längst einen Weg gefunden, Natur und Synthetik zu verbinden. Etwa, indem Merinofaser um einen Kern aus Nylon gesponnen wird. «Diese Materialmischungen vereinen die Vorteile beider Welten», sagt Stünzi, «das Geruchshemmende von Merino, das Schnelltrocknende von Synthetik – und die Haltbarkeit wird auch noch verbessert.»

Apropos Haltbarkeit: «Das Pflegeetikett zu lesen ist eminent wichtig», sagt Daniela Stünzi. Die Bächli-Expertin empfiehlt für Merinobekleidung ein Spezialwaschmittel, das die nachfettenden Eigenschaften der Wollfaser erhält. Von ihnen hängt nämlich auch die Hemmung von Gerüchen ab. Und es sei zwar richtig, dass man Merinobekleidung auch mal auslüften statt waschen könne. Das von Wetterschutzjacken bekannte Pflege-Mantra «So oft wie nötig, so wenig wie möglich waschen» müsse man auf Wollwäsche aber nicht anwenden. «Ich persönlich wasche meine Baselayer und T-Shirts nach jedem Einsatz, auch die aus Merinowolle. Das verträgt die Wäsche auch, wenn man es richtig macht», so Stünzi.

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