Beim ersten Donnern geht der Blick zum strahlend
blauen Himmel. Erst das zweite Donnern rückt
die Ursache ins Bild: Mit Wucht sucht sich an der
Gletscherflanke vis-à-vis eine Lawine ihren Weg über fast
lotrechte Wände. Was manch einem Gast des Berghotels
Obersteinberg den Kuchenbissen im Hals stecken bleiben
lässt, ist hier im Hinteren Lauterbrunnental ganz alltäglich.
Vor allem im Frühsommer, wenn unzählige Silberfäden das
Gelände durchziehen: angeschwollene Bäche, die als Wasserfälle
über Felsen schiessen und dem Tal seinen Namen
gaben. Die Natur ist hier ganz nah: Vor der Hütte lümmeln
Murmeltiere, gleich unter der Terrasse treffen sich abends
manchmal Steinböcke.
Seit über hundert Jahren gehört die Alp Obersteinberg der
Familie von Allmen. 1989 übernahmen die Geschwister
Dori, Hugo und Hans-Christen den Gastbetrieb von ihren
Eltern. In den Zimmern duftet es nach Holz, durch die
Fenster strahlen weisse Drei- und Viertausender auf dicke
Federbetten. Die Kerzen auf den Nachttischchen und die
Waschschüsseln auf der Kommode sind keine Dekoration.
Es gibt hier weder Strom noch fliessend Wasser. «Heute
nennt man das nostalgisch», sagt Dori und schmunzelt. Die
Sommermonate auf der Alp bedeuten für die Geschwister
viel Aufwand. Dori etwa benutzt zum Waschen eine Wassermotor-
Maschine von 1930. Hans-Christen versorgt die Kühe,
macht aus frischer Milch Butter, Rahm und Käse. Nur Hugo,
der sich einst mit seiner Mulidame Fiona um den Lebensmittel-
und Getränketransport kümmerte, ist nicht mehr.
Vielleicht schaut er jetzt von oben runter und freut sich,
dass einer seiner Cousins immer wieder für Frischkost ins
Tal hinuntereilt, um sie dann auf steilem Pfad 870 Höhenmeter
hinaufzuschleppen. Denn eine Zufahrtsstrasse gibt
es nicht. Stechelberg, das letzte Dorf im Lauterbrunnental,
ist Endstation der Postautolinie wie auch aller öffentlich
zugänglichen Strassen.
Der Staubbachfall, von Goethe mit seinem Gedicht «Gesang der
Geister über den Wassern» literarisch verewigt:
Strömt von der
hohen,
Steilen Felswand,
Der reine Strahl,
Dann stäubt er lieblich,
In Wolkenwellen,
Zum glatten Fels,
Und leicht empfangen,
Wallt er verschleiernd,
Leisrauschend,
Zur Tiefe nieder.
DIE MAGIE DES BERGFRÜHLINGS
Mit heute rund 2,5 Millionen Übernachtungen pro Jahr
gehört die Jungfrauregion zu den gefragtesten Urlaubszielen
der Schweiz. Doch bekanntlich werden von der
Masse nur die Klassiker abgeklappert. Schon 1859 muss
das ähnlich gewesen sein, als sich am 9. August der St.
Galler Alpenpionier Weilenmann ins Hintere Lauterbrunnental
aufmachte, flüchtend vor der «Zudringlichkeit
der Wegelagerer, in Gestalt von Führern und Sesselträgern,
Erd- und Himbeerverkäufern, Alphornbläsern
und Echoerweckern, Marqueurs de bâtons, Schnitzereien-
und ‹Souvenirs du Staubbach›-Händlern». Dann
aber «überrascht es angenehm, wenn er, kaum das
Dorf und den Staubbach im Rücken, sich unversehens
von der hehren Stille eines unentweihten Alpenthales
umgeben sieht.» Und weil das Hintere Lauterbrunnental
mit ins UNESCO-Welterbe aufgenommen wurde, wird
das auch so bleiben. Das Tal der 72 Wasserfälle, von
Goethe poetisch verewigt, zeigt seine besondere Magie
im Bergfrühling. Mächtig donnern dann die Holdri- und
Schmadribachfälle.
Kraftorte, an denen man nicht selten
ganz alleine steht. Nur zu Fuss erreichbare Berghotels
sind Garant für eine nostalgische Übernachtung. Obersteinberg,
das höchstgelegene, hat sich als Kerzenhotel
einen Namen gemacht. Auch Weilenmann genoss diese
Herberge, wo «gegenüber schauerlich wild, in nackten
Felsflanken die Jungfrau sich thürmt». Dieser Blick begleitet auch hinauf zum Oberhornsee. Ein türkisblaues
Juwel, das zum Reinspringen verführt, wie Gott einen
geschaffen hat. Wäre das glasklare Wasser nur nicht so
kalt. Aber egal. Es härtet ab und danach fühlt man sich
wie neugeboren. Eine weite Rundhöckerlandschaft breitet
sich hier im Quellgebiet der Weissen Lütschine aus,
umstellt von mächtigen Gletscherbergen. Zwischen dem
Lauterbrunner Breithorn und dem Tschingelhorn fällt der
Blick auf die Wetterlücke. Ende des 13. Jahrhunderts sollen
Lötscher dort herübergewandert sein, um sich neue
Siedlungsräume zu suchen. Sie gründeten Ammerten,
Trachsellauenen, Sichellauenen, Gimmelwald und Mürren.
Nur Gimmelwald und Mürren haben als ehemalige
Walsersiedlungen überlebt. Auch sprachliche Eigenarten
in der Lauterbrunner Mundart weisen auf die Verwandtschaft
mit den Wallisern hin. Begriffe wie «Ggufer» für
loses Gestein oder «Griiffli» für Preiselbeeren sind auf
beiden Seiten gebräuchlich.
Gletscherbäche gurgeln durch leuchtende Blumenmatten,
Moränenwälle aller Grössen und Formen ziehen von
den Gebirgsflanken herunter. Dazwischen verstecken sich
zahlreiche Flachmoore, die im Hochsommer von einem weissen Wollgras-Meer umgarnt werden. Vielleicht trifft
man auf Andreas Wipf, der zwischen den gletschergeschliffenen
Wannen und Kuppen oft herumstromert.
Dazwischen schlängelt sich ein Pfad zur Schmadrihütte.
Eine Selbstversorgerhütte, in die sich der Geograf gerne
einquartiert, um seine Studien zu intensivieren. «Durch
Erosion sind hier ältere geologische Einheiten wie durch
ein Fenster aufgeschlossen und lassen einen Blick in den
Aufbau der Alpen zu», begeistert er sich. Das Zusammentreffen
von kristallinen und kalkreichen Gesteinen
bringe zudem eine ungeheure Vielfalt in der alpinen
Flora hervor. Blaugras, Alpen-Akelei, Strauss-Glockenblume,
Alpen-Aster und Edelweiss lieben den Kalk am
Obersteinberg und an den Hängen des Spitzhorns. In
den Vorfeldern von Tschingel-, Wetterlücken-, Breithornund
den beiden Schmadrigletschern gedeihen neben
Moosen Pionierpflanzen wie Fleischers Weidenröschen,
Schild-Ampfer und Kleearten. Natürlich kennt er auch die
Plätze von Frauenschuh-Orchideen.
GLETSCHERDRAMA
Sein besonderes Interesse gilt den Gletschern. Nirgends
könne man die Gletscherschwankungen der Nacheiszeit
so gut studieren wie hier, betont Wipf. Anhand der markanten
Moränenwälle lässt sich der Gletscherhochstand
von 1850 genau rekonstruieren. Für das Schweizerische
Gletscherinventar und bei der Inventarisierung der Gletschervorfelder
und alpinen Schwemmebenen von nationaler
Bedeutung war Wipf für das Hintere Lauterbrunnental
zuständig. Mehr als zwei Kilometer Länge verlor
der Tschingelgletscher. Die einst zusammenhängende
Eisfläche des Gebirgskessels schrumpfte zu fünf Gletschern,
die immer kleiner werden. Wehmut schwingt
da mit, weil der Klimawandel eben doch rascher voranschreitet
als bisher in der Zeitgeschichte üblich. «Vom
Menschen gemacht» lastet auf unseren Schultern. Tosend
donnert der Schmadribachfall über eine Felsstufe
von der Höhenterrasse ins Tal. Durch Alpenrosenbüsche
und Farnkraut weicht der Pfad östlich aus und balanciert nun auf der gegenüberliegenden Seite vom Obersteinberg
den Flanken unter Mittaghorn und Äbeni Flue
entlang. Unten in Trachsellauenen wartet der nächste
Kuchenstopp. Möglicherweise donnert es wieder – trotz
blitzblauem Himmel. Manch Einheimischer sagt dann:
Das sind die Rottalherren. Das Berghotel Trachsellauenen
liegt genau vis-à-vis des Rottal-Gletscherschlunds.
Eine blühende, fruchtbare Alp soll das einst gewesen
sein, bevor die Herren von Rotenfluh ihre Untertanen
plagten. Wahre Wüteriche, die gerne auch den Frauen
nachstellten. Als der Schlimmste, so berichtet die Sage,
lüstern ein Hirtenmädchen verfolgte, soll ein schwarzer
Bock der Jungfrau zu Hilfe geeilt sein. Mit seinen gewaltigen
Hörnern stiess er den Mann über eine Felswand in
den Abgrund. Da erzitterte das Land, Felsbrocken und
Eismassen begruben die Rottal-Alp und verbannten die
Willkürherrscher von Rotenfluh in die Gletschereinöde.
Mystik, die an der Neugier kitzelt, vielleicht doch einen
intensiveren Blick ins Rottal zu werfen. Alpinisten nutzen
den Weg zur Rottalhütte, um über den Rottalgrat den
Gipfel der Jungfrau zu erobern. Auf der Suche nach
den abenteuerlichsten Routen auf den Sehnsuchtsberg,
versuchten sich die Alpenpioniere schon 1863 auch am
Nordwest- oder Rotbrättgrat, dort wo das Silberhorn
seinen Schneekegel keck in den Himmel reckt. Weil
diese Route auch heute noch als schwierig gilt, wird sie
nur selten begangen. Bergwanderer aber können bis zur
Silberhornhütte ins alpine Abenteuerland vorstossen,
wenn sie abolute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit
mitbringen. Unterhalb der Bäreflue bei der Quelle «Bim
Chalten Brunnen» wechselt man vom Hüttenweg der Rottalhütte nach links in den Hüttenweg zur Silberhornhütte
und hangelt sich dann durch imposante Felsfluchten
in die Höhe.
Bei der Querung über Felsbänder und Plattenschüsse
sieht man sie schon, die winzige Hütte auf dem Sattel
zwischen Schwarzmönch und Jungfraumassiv. Ein Stützpunkt
wie zu Pionierstagen, unbewartet, spektakulär
gelegen, mit ungewöhnlichen Perspektiven auf Eiger,
Mönch und die zerrissenen Gletscher der Jungfrau.
Ganz zu schweigen von den Tiefblicken ins Lauterbrunnental,
zur Kleinen Scheidegg, zur Station Eigergletscher.
Der pure Luxus: Getränke sind vorhanden, dazu
Feuerholz. Im hauseigenen Geschirrsortiment fehlt
selbstverständlich auch das Fonduecaquelon mit Zubehör
nicht. Braucht man also nur noch die Käsemischung
hinaufzutragen. Candlelight-Dinner wie auf dem Obersteinberg,
nur noch archaischer und mit Nervenkitzel.
Was die Rottalherren im Schilde führen, wenn's donnert,
ist nie so ganz sicher.
INFOS HINTERES LAUTERBRUNNENTAL
Anreise
Mit dem Zug nach Lauterbrunnen, dann Postauto bis Stechelberg, Fahrpläne: www.sbb.ch. Mit dem Auto von Interlaken über Wilderswil ins Lauterbrunnental bis zum Parkplatz von Stechelberg.
Infos
Stechelberg Tourismus, CH-3824 Stechelberg, Tel. 033/855 10 32, www.stechelberg.ch
Berghäuser & Hütten
Berghaus
- Trachsellauenen, 1202 m, bew. Mitte Mai bis Mitte Okt., Tel. 033/855 12 35, www.stechelberg.ch.
- Berghotel Tschingelhorn, 1678 m, bew. Juni bis Sept., Tel. 033/855 13 43, www.tschingelhorn.ch.
- Berghotel Obersteinberg, 1778 m, bew. Juni bis Sept., Tel. 033/855 20 33, www.stechelberg.ch.
- Schmadrihütte, 2262 m, unbewirtschaftet, 12 Schlafplätze, Kochgelegenheit mit Holz, Hüttenwart: Jürg Abegglen, Tel. 033/855 23 65.
- Silberhornhütte, 2663 m, unbewirtschaftet, 12 Schlafplätze, Getränke, Kochgelegenheit mit Holz, Hüttenwart: Bernhard Seiler, Tel. 079/656 16 04.
Runde im Hinteren Lauterbrunnental
- 1. Stechelberg – Trachsellauenen – Schürboden 1.30 Std. – Holdrifälle – Läger – Obersteinberg 3 Std.: 4.30 Std., 900 Hm, T3.
- Variante: Gimmelwald – Sefinental – Busenalphütte – Tanzbödeli – Obersteinberg: 3.45 Std., 770 Hm, T3. Oder: Obersteinberg – Tanzbödeli 1 Std. – Sefinental, 1.30 Std. – Stechelberg, 1 Std.: 3.30 Std.
- 2. Obersteinberg – Oberhornsee 1.10 Std. – Schmadrihütte 1 Std – Stechelberg 2.50 Std.: 5 Std., 580 Hm im Aufstieg, 1450 Hm im Abstieg, T3.
Tour Silberhornhütte
Stechelberg – Trachsellauenen 1 Std. – Silberhornhütte 5 Std.: 6 Std., Rückweg 4.30 Std., 1810 Hm.
Anspruch: T5. Bis P. 2019 „Bim Chalten Brunnen“ T2. Dann weiss-blau-weiss markierte alpine Wanderroute, heikle Abschnitte sind mit Ketten und Tritten entschärft, die Route ist dennoch sehr ausgesetzt. Bei Nässe sollte man eine Begehung sein lassen. Vor allem die glatten Abschüsse der Strählplatti können sich dann in eine lebensgefährliche Rutschbahn verwandeln. Absolute Trittsicherheit und Schwindelfreiheit Voraussetzung.
Literatur
Wanderführer Berner Oberland Ost, Daniel Anker, Bergverlag Rother. Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn – 35 Wanderungen im und ums UNESCO-Weltnaturerbe, Thomas Bachmann, Rotpunkt Verlag. Gletscher der Schweiz, Band West, 52 faszinierende Bergwanderungen zu Eisströmen in den Kantonen Bern, Wallis und Waadt, von Christoph Käsermann und Andreas Wipf, Ott Verlag. Roman: Die Walserin, Therese Bichsel, Zytglokke Verlag. Die Autorin erzählt die Geschichte der Lötscher, die sich im 13./14. Jahrhundert im Lauterbrunnental ansiedelten.
Karte
Swisstopo, 1:50 000, Blatt 264 T Jungfrau oder 1:25 000, Blatt 2520 Jungfrau Region.
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