Argentinien, Februar 2005, Nordroute des Cerro Aconcagua. Das Tal wird immer schmaler, Sandra Greulich und Sacha Wettstein hoffen innig, einen Übergang zum Haupttal zu finden. Das Tal endet. Ein Wasserfall. Unmöglich, dort hochzuklettern, auch für die erfahrenen Bergsteiger. Eine präzise Karte des Gebiets haben sie nicht – die erstellen sie ja gerade. «Wir wussten nicht, wie wir aus diesem Tal wieder herauskommen. Ob wir aussteigen können oder die drei Tagesmärsche wieder zurückgehen müssen», blickt Greulich zurück. «Doch genau das gehört eben dazu: das Ungewisse. Ja, das Abenteuer.» Den Erkundern gelingt es schliesslich doch noch, eine Seitenflanke aus Geröll hochzukraxeln und so ins sichere Haupttal zu gelangen.
Die eigenen Grenzen kennen
Sandra Greulich kann sich gut einschätzen – insbesondere, was das Verhalten in der Natur angeht. Wenn sie von der Feldarbeit erzählt, wird das Lächeln breiter, die braunen Augen strahlen. Sie trägt Jeans und einen grauen, sportlich geschnittenen Fleece. Die Haare sind locker hochgesteckt. Die 43-Jährige war jahrelang alleine im Gelände unterwegs: acht Jahre intensive Feldarbeit für swisstopo, das Bundesamt für Landestopografie, daneben das Privatprojekt «climbing-map». In der Natur müsse man für sich ganz allein die Verantwortung übernehmen, sagt sie: «Wenn du etwa entscheiden musst: Überquere ich jetzt dieses Schneefeld oder nicht? Und du weisst, ausrutschen liegt nicht drin.» Früher hätte sie auch nicht immer ein Mobiltelefon dabei gehabt. Oder das Gerät hatte keinen Empfang.
«Durch die Feldarbeit habe ich meine eigenen Grenzen kennengelernt», erzählt Greulich. Die Erfahrungen mit der eigenen Angst findet die Kartografin besonders prägend. So wie an dem Tag, als der Wanderweg im Wallis, den sie erfassen sollte, mitten durch eine riesige Schafherde führte. Alle 20 bis 30 Meter musste sie stehen bleiben, um eine GPS-Messung zu machen. Bald wurde der Herdenschutzhund auf die Störung aufmerksam. Die Topografin blieb ruhig und setzte ihre Arbeit fort. Doch der Hund wurde zunehmend aggressiver. Langsam bekam sie Angst. Dies machte den Hund nur noch wilder. Er bellte, knurrte, umkreiste sie. Flucht. Endlich, am Rand der Herde, liess der Hund ab. Die Verfolgte atmete durch, am ganzen Körper zitternd.
Der Reiz des Handwerks
Wenn Sandra Greulich erzählt, tut sie dies in einem sanften Ostschweizer Dialekt. Es war das Fachgebiet, das die gebürtige Schaffhauserin vor vielen Jahren nach Bern verschlug. Als kleines Mädchen liebte sie es, im Schweizer Atlas zu blättern. Und als in der Schule das Thema Kartografie behandelt wurde, war die Begeisterung dafür geweckt: «Hinten auf einem Prospekt hatte es ein Bild, auf dem ein Mann mit einem Werkzeug die Landschaft in eine Glasplatte gravierte». Das wollte sie auch. Sie war so fasziniert von diesem Bild, «dass ich einfach mal angerufen und nachgefragt habe». Konsequenz dieses Telefongespräch war schliesslich der berufliche Werdegang: Erst vier Jahre Lehre als Kartografin bei swisstopo, anschliessend ein Jahr in Nepal bei einem kleinen Kartografie-Büro, danach vier Jahre freischaffend für eine kleine Firma in Frauenfeld. Nach den Wanderjahren kehrte Greulich wieder zum Hauptarbeitgeber für Kartografen in der Schweiz zurück: zu swisstopo in Wabern. «Da sich die Arbeit immer wieder veränderte, zog es mich nie mehr weg von hier.» Erst acht Jahre im Feld, dann acht Jahre Arbeit am Topografischen Landschaftsmodell (TLM), seit eineinhalb Jahren trägt sie die Verantwortung für die Lehrlingsausbildung in der Topografie.
Die «Feldjahre» waren geprägt von den Jahreszeiten: im Sommer Feldarbeit, im Winter Kartenund Schriftredaktion. Da von der Schweiz mittlerweile schon sehr gute Karten bestehen, sind die Kartografinnen und Kartografen vor allem mit deren Aktualisierung beschäftigt. «Hier ist ein Fels abgebrochen, dort hat sich ein Gletscher zurückgezogen, woanders ist ein Weg zugewachsen», spezifiziert Greulich. Lange hat sie an den Gletschern gearbeitet, «bei vielen Karten hatte ich schon meine Finger im Spiel». Heute wird etwas weniger von Hand gemacht als früher: Die Felsen auf den Landeskarten sind zwar meist noch handgezeichnet, doch die Veränderungen werden mit Photoshop angebracht. Für das Topografische Landschaftsmodell hat die Spezialistin vorwiegend am Bildschirm Luftbilder ausgewertet. Das TLM ist ein dreidimensionales Modell der Schweiz und die Basis für Simulationen und Berechnungen, aber auch für die Herstellung der Landeskarten. Die natürlichen und künstlichen Objekte der Landschaft werden erfasst und es entsteht quasi eine synthetische Version der Schweiz. Damit können etwa Simulationen für Solaroder Windkraftanlagen vorgenommen oder die Veränderung der Gletschermasse über die Jahre ausgewertet werden.
Am liebsten draussen
Greulich hat Erfahrung – und die darf sie nun in der Arbeit mit den Lernenden weitergeben. «Ich wusste von den J&S-Lagern, dass ich gerne mit Jugendlichen arbeite», erzählt die passionierte Kletterin und Skitourengängerin. Sie bildet Geomatiker mit Schwerpunkt Kartografie und Geoinformatik aus, ist fasziniert davon, was mit den heutigen technischen Mitteln möglich ist. «Natürlich fehlt mir die Feldarbeit. Mit dem 80-Prozent-Pensum reicht’s aber immer noch jede Woche für Ausflüge in die Berge.»
Bei schönem Wetter ist es für die Sportlerin schwierig, drinnen zu sein. Wo ihr Sonntagsspaziergang hinführe? «Hier durch mit dem Zug» – sie deutet mit dem Arm Richtung Berner Oberland – «und dann in die Höhe!» Wenn’s mal gar nicht passt, reicht auch der Gurten, der von ihrem Wohnort in Bern gut erreichbar ist. Aber mindestens mit dem Mountainbike. Klingt nach viel Action? Freunde haben ihr schon oft gesagt: Leg dich doch einfach mal in den Liegestuhl. Doch für Greulich bedeutet Erholung Draussensein: «Brauche ich Herausforderung, mache ich eine längere Skitour, brauche ich Entspannung, eine kurze.»
Die Schönheit einer Landkarte
Die Faszination fürs Draussensein und Kartografieren manifestiert sich im Hobby-Projekt von Sandra Greulich – das sehr professionell wirkt: Seit 2006 hat sie gemeinsam mit dem Bergführer, Biologen und Zeichner Sacha Wettstein sechs Detailkarten von Berggebieten auf der ganzen Welt erstellt. Vom Aconcagua (Argentinien), dem Kilimanjaro (Tansania), dem Cotopaxi (Ecuador), dem Elbrus (Russland), dem Pico Turquino (Kuba) und den beiden Gipfeln Island Peak und Mera Peak (Nepal). In der Zeit als Freischaffende hatte sie Wettstein kennengelernt. Die Leidenschaft für das Kartieren und Bergsteigen verband die beiden, und damit die Arbeit verteilt werden konnte, brachte sie ihm das Felszeichnen mit Tusche und Feder bei. Der Funke sprang über, noch heute sind alle Felsen auf den Karten von «climbing-map» von Hand schraffiert, die Rückseite enthält je nach Gebiet Routenprofile, Topos, Übersichtskarten und Informationen zu Flora und Fauna.
Greulich faltet die Karte von Kuba auseinander. «Durch meinen Schwager und das Salsatanzen bin ich persönlich mit dem Land verbunden – und vom höchsten Berg des Landes gab es einfach keine gute Karte.» Für eine «climbing-map» braucht es zahlreiche Zwischenschritte: Anhand von Satellitenbildern, auf welchen Vegetation, Gletscher, Gewässer etc. zu sehen sind, wird zunächst eine Basiskarte gefertigt und daraus ein «Feldkarton» erstellt. Damit gehen Greulich und Wettstein ins Gelände und zeichnen von Hand alle neuen Infos ein. Danach wird in minutiöser Detailarbeit alles eingepflegt und möglichst schön dargestellt. Ja, schön. «Diese Karte ist viel zu grün – diese hier mit Gletscher und Fels gefällt mir besser.» Die Kuba-Karte weggeschoben, ein Stück Kaukasus liegt auf dem Tisch. Schon sind die spannenden Geschichten rund um die Hügel hinter Santiago de Cuba und dem Pico Turquino vergessen, in denen sich in den Fünfzigerjahren die Rebellen rund um Che Guevara und Fidel Castro monatelang versteckt hielten. Auf Google Maps waren die für Kubaner «heiligen» Hügel zu Beginn des Kartenprojekts immer noch grosszügig verpixelt.
Hilfreiche Kontakte
Schön ist eine Karte, «wenn man die Landschaft sofort lesen kann», erklärt die Fachfrau, «wenn man sich das Gebiet in 3D vorstellen und durch die Karte darin eintauchen kann». Entscheidend für diese Ästhetik ist die Endphase der Gestaltung: ob man die Schrift auf der hellen Fläche platziert oder entlang des Felsbandes, ob die Schattierung sitzt, das Waldstück berücksichtigt wird. Auf der Kaukasuskarte sind alle Bezeichnungen auch auf Russisch: Vor Ort lernten Greulich und Wettstein Lisa kennen. Eine Deutsche, die im Elbrus-Gebiet wohnt. Ein Glückstreffer, denn erst so erhielten sie Zugang zu wichtigen Informationen. Und zur Sprache: «Wir hätten nie herausgefunden, wie die Einheimischen ihre Orte nennen – und erst so konnten sie sich mit der Karte identifizieren.» Auch am Kilimanjaro war eine Bekanntschaft entscheidend: Als die beiden Schweizer sich im Café berieten, wie sie es umgehen könnten, für jeden Tag im Park hundert Dollar bezahlen zu müssen, sprach ein Mann am Nebentisch sie an. John arbeitete für einen lokalen Trekking-Anbieter – und war ein GPS-Freak. Er hatte schon viele Daten rund um den Kilimanjaro zusammengetragen, wusste aber nicht, wie diese auszuwerten sind. Greulich lächelt vor sich hin. «Er sagte, er habe schon lange auf Kartografen gewartet: Wir kämen wie gerufen.» Der Deal stand schnell: John gab ihnen seine GPS-Daten, die Profis erhoben die fehlenden Wege zusammen mit dem besten Guide von Johns Agentur und erstellten danach die Karte, die sie wiederum John zur Verfügung stellten. «Besser kann es fast nicht laufen – manchmal muss man einfach auf den Zufall vertrauen», sagt Greulich.
Inserat gegen Maultier
Als Hobby eigene Landkarten zu erstellen, ist ganz schön aufwendig. «Ich habe bei jeder Karte gesagt, das sei die letzte – jetzt sag ich es nicht mehr.» Die Ostschweizerin lacht. Es würden schon ein paar neue Ideen diskutiert «und wenn sich dann eine konkretisiert, geht das zackzack». Zackzack heisst im Fall Greulichs rund ein Jahr. Bis eine Karte auf dem Markt ist, braucht es eben doch mehr als Papier, Stift und Computer. Die «climbing-map. com GmbH» ist ein Mini-Verlag, mit allem was dazugehört.
Doch weder Greulich noch Wettstein haben ein Faible für Marketing. So sind die sechs Karten denn immer noch so etwas wie verborgene Schätze. Die grössten Abnehmer sind ein Reiseverlag aus Belgien und einer aus England. Mit dem Erlös können die beiden immerhin die Reisen finanzieren – der Arbeitseinsatz ist unentgeltlich. «Früher haben wir Leistung gegen Leistung getauscht. Also etwa ein Inserat gegen ein Maultier fürs Gepäck», erzählt Greulich. Inserate wollen sie aber keine mehr auf die Karten drucken, «das kann auch Nachteile bringen, vor allem wenn Reiseagenturen ihre Konkurrenten vorfinden.»
Für den Überblick das Papier
Neugierde ist für Sandra Greulich der wichtigste Antrieb. Sie spricht lieber über ihre Arbeit als über ihr Privatleben. Bescheidenheit gehört zu ihrer Person. Belohnung sieht sie primär als etwas Immaterielles: «Natürlich freuen wir uns über jede Karte, die wir verkaufen». Aber ein schönes Kompliment ist für sie auch, wenn die Leute ihre Landkarten in den Berghütten von der Wand abfotografieren und nur noch mit dem Fotoapparat navigieren.
Die Karten von «climbing-map» gibt’s bis heute nur auf Papier. Wie lange braucht’s denn überhaupt noch gedruckte Landkarten? «Die werden nicht so schnell verschwinden», antwortet Greulich sofort. Sie ist stets mit einer Kombi aus gedruckter Karte, GPS und der swisstopo-App unterwegs. «Einen echten Überblick gibt nur das Papier.» Die routinierte Bergsteigerin entscheidet stets situativ: Das Wetter ändert, der Hang dort vorne sieht besser aus, die Verhältnisse stimmen – machen wir doch den. Sie lächelt. «Die Normalroute interessiert mich weniger.»
Fotos: Manu Friedrich, ZVG
Dieser Artikel erschien im Inspiration-Magazin 01/2016
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