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«Die Grösse ist keine Entschuldigung»

Stephanie Geiger, Dienstag, 01. Juni 2021

Vor zwei Jahren kletterte Katherine Choong als erste Schweizerin den Grad 9a rotpunkt. Die 1,58 Meter grosse Schweizerin über den Wert mentaler Stärke, «First Female Ascents» und warum sie in ihrer Freizeit niemals zum Wandern geht.

Vor zwei Jahren kletterte Katherine Choong als erste Schweizerin den Grad 9a rotpunkt. Die 1,58 Meter grosse Schweizerin über den Wert mentaler Stärke, «First Female Ascents» und warum sie in ihrer Freizeit niemals zum Wandern geht.

Katherine, du bist eine professionelle Kletterin. Wenn du in ein anderes Land reist, wie etwa im November zur Europameisterschaft in Moskau, welchen Beruf gibst du da im Visumsantrag an?
Klar, ich bin Kletterin, aber nur zur Hälfte. Ich habe bis 2016 an der Universität von Neuchâtel Jus studiert und das Studium mit dem Master in Medizinalrecht abgeschlossen. Dann habe ich im Staatssekretariat für Migration ein Praktikum absolviert und auch bei der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Jura. Auch als Lehrerin habe ich eine Zeit lang gearbeitet. Und seit einem Jahr habe ich eine 50 %-Stelle als Beiständin beim Service social Centre-Orval in Malleray. An mich wenden sich die Sozialarbeiter bei Rechtsfragen. Und ich kümmere mich um sämtliche administrativen und finanziellen Fragen von Menschen, die unter Beistandschaft gestellt wurden.

Das ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Ist Klettern dann ein Hobby für dich?
Klettern ist ganz bestimmt mehr als nur ein Hobby. Es nimmt ja auch sehr viel Zeit in Anspruch. Ich würde sagen: Klettern ist meine Leidenschaft. Es ist aber gut, dass ich mit dem Job einen Ausgleich habe, den Kontakt zu anderen Leuten und auch die normalen Probleme der normalen Menschen kennenlerne. Natürlich ist es schwierig, Job und Klettern zu koordinieren, man muss da schon gut organisiert sein. Aber weil es eine 50 %-Stelle ist, eröffnet mir das natürlich gewisse Freiheiten für das Klettern.

Wie bist du eigentlich zum Klettern gekommen? Deine Mutter stammt aus Italien, dein Vater aus Singapur, haben sie dich zu diesem Sport gebracht?
Meine Eltern sind nicht wirklich die grossen Sportler. Sie gehen vielleicht spazieren, aber auch nicht mehr. Uns Kinder, also meine Schwester, meinen Bruder und mich, haben sie aber immer dabei unterstützt, Sport zu machen. Mich haben sie auch immer zu den Wettbewerben und zum Training gebracht. Ich war etwa acht Jahre alt, da durften wir einmal mit der Turngruppe, in der ich als Kind war, an einer Kletterwand klettern. Das war eine kleine Wand. Nur fünf Meter hoch. Aber mir hat das so viel Spass gemacht, dass ich mich dann einer Klettergruppe angeschlossen habe. Weil es in unserer Gegend keine hohen Wände gab, sind wir mit dieser Gruppe regelmässig zu den grossen Hallen nach Zürich und Bern gefahren. Wir waren aber nicht nur in der Halle, wir sind immer auch an den Fels gegangen. Da war ich auch immer mal wieder mit Cédric Lachat unterwegs. Und mit dreizehn Jahren kletterte ich dann in der Nachwuchs-Nationalmannschaft. Da standen dann beim Klettern natürlich die Wettbewerbe im Vordergrund mit der Folge, dass ich vor allem viel in Hallen geklettert bin. Jetzt bin ich mehr am Fels. Aber ich muss sagen, ich mag beides sehr gerne.

Klettern ist von seinen Ursprüngen her ein Bergsport. Das Nationalteam ist beim Schweizer Alpen-Club SAC angesiedelt. Bist du über das Klettern hinaus noch bergsportlich aktiv?
Nein, gar nicht. Auch Alpinklettern mache ich nicht. Ich gehe auch nicht wandern oder bergsteigen. Ich habe nämlich kaum Freizeit. Das soll aber nicht heissen, dass ich nicht gerne in der Natur unterwegs bin. Früher bin ich sogar ein bisschen Snowboard gefahren, aber durch das Wettkampfklettern und das Studium war dafür dann keine Zeit mehr. Und jetzt ist es so, dass ich die Mehrseillängenrouten für mich entdeckt habe.

Wie kam das?
Ganz einfach: durch Covid-19. Die Weltcups wurden 2020 abgesagt. Zum ersten Mal in meinen 15 Jahren im Schweizer Nationalteam konnte ich mich wieder ganz auf den Fels konzentrieren und vor allem etwas Neues ausprobieren. Mehrseillängenrouten stellen ganz andere Herausforderungen dar: Ich muss lernen, meine Kraft auf die gesamte Länge der Route einzuteilen und auch mit dem Seil umzugehen. Und viel Energie braucht es, mit der Angst vor der Leere klarzukommen.


Wie wichtig ist dir eigentlich in solchen Momenten am Fels, in denen du besonders gefordert bist, dass dein Freund Jim Zimmermann deine Leidenschaft für das Klettern teilt?
Dass Jim dabei ist, ist wirklich sehr wichtig. Er gibt mir das Selbstvertrauen, das ich gerade in den schwierigen Routen und an den schwierigen Stellen brauche. Mit ihm an meiner Seite kann ich mich voll und ganz auf das Klettern fokussieren. Er motiviert mich auch und hilft mir, positiv zu bleiben. Und ganz toll ist natürlich, Mehrseillängenrouten mit ihm zu klettern und diesen Teamgeist zu spüren, und die Emotionen, die man da erlebt, gemeinsam zu teilen.

Auch wenn 2020 für dich das Jahr der Mehrseillängenrouten war, warst du Ende Oktober auch in einer Sportkletterroute noch einmal sehr erfolgreich. Du bist deine dreizehnte 8c-Route geklettert. War das auch ein Grund, weshalb es bei den Europameisterschaften Ende November in Moskau nicht so gut lief für dich? Mit dem 19. Platz warst du ja nicht wirklich zufrieden, wie man deinem Post über das Resultat bei Instagram entnehmen konnte. Die Wettkämpfe in Moskau waren in der Vorbereitung echt schwierig.
Die Weltcup-Events waren gecancelt. Wir wussten nicht, ob die Europameisterschaften überhaupt stattfinden werden. Ich hatte zunächst wirklich wenige Anreize für das Training. Ich habe dann versucht, mir neue Ziele zu setzen, wie eben die Mehrseillängenrouten. Ich hatte ein paar Ideen in Frankreich und Spanien. Aber das war ja wegen Covid-19 auch alles nicht so einfach. Ich habe deshalb auch versucht, mehr in der Schweiz zu machen, zumal ich die Schweizer Gebiete auch gar nicht so gut kannte. Da habe ich jetzt viel kennengelernt.

Wo bist du in der Schweiz besonders gerne?
Der Klettergarten Gimmelwald ist schon wirklich sehr speziell. Es ist ein so ruhiger Ort. Und es ist wirklich wunderschön dort. Die Umgebung ist traumhaft.

Und wie steht es um deine Zukunft im Weltcup? Wirst du weitermachen?
2021 auf jeden Fall. Die Europameisterschaften haben mich motiviert für das nächste Mal. Ich habe das Wettkampfklettern echt vermisst. Das ist mir in Moskau noch einmal so richtig bewusst geworden. Aber natürlich muss man der Realität ins Auge sehen. Ich gehöre mit meinen mittlerweile 29 Jahren zu den Älteren im Weltcup, und im Schweizer Team bin ich schon so etwas wie die Grossmutter.

Es gab aber auch schon mal eine Zeit, da hattest du keine Motivation mehr für das Wettkampfklettern.
Ja, das war 2014. Ich hatte den Eindruck, alles schon mal gesehen zu haben, was mir das Klettern bieten konnte. Und ich dachte sogar, dass es mich von dem abhielt, wozu ich wirklich Lust hatte. Im November 2014 sind mein Freund Jim und ich zu einer ausgedehnten Kletterreise aufgebrochen. In China kletterte ich meine erste 8c. Wir waren aber auch noch in Thailand, Laos, Japan und in Südafrika. Besonders cool fand ich die USA, wo wir allein drei Monate blieben. Wir waren im Maple Canyon in Utah, in Smith Rock in Oregon und noch an einigen anderen Plätzen. In der Red River Gorge in Kentucky kletterte ich meine erste 8c+. Die Reise war insgesamt eine tolle Erfahrung und sie hat auch meine Leidenschaft fürs Wettkampfklettern neu entfacht.

Die Liste deiner Erfolge ist beeindruckend: 8c folgt da auf 9a und umgekehrt – das sind Schwierigkeitsgrade, die wirklich nur den Besten vorbehalten sind. Und wenn man dich bei einem Durchstieg klettern sieht, sieht das alles so leicht und einfach aus.
Das sieht aber wirklich nur leicht aus. Das ist schon alles sehr sehr hart erarbeitet. Bis zur ersten 9a-Route, der «Cabane au Canada» in Rawyl, war es schon hart und es hat echt viel Zeit gebraucht. Ich war damals auf der Suche nach einer neuen Herausforderung. Cédric Lachat oder Andy Winterleitner – ich weiss nicht mehr genau, wer, aber einer von beiden – meinte, diese Route würde zu meiner Grösse passen. Der Ort ist fantastisch und mir hat auch die Route sofort gefallen. Und dass es eine 9a-Route war, hat mich natürlich besonders motiviert. Für diese Route besonders hilfreich war, dass der Stil der Wettkämpfe sich zu dieser Zeit verändert hat. Es wurde alles viel dynamischer und schneller. Das hat mich gefordert. Ich habe an mir und meinen Schwächen gearbeitet. Und am Fels hat mich das dazu gebracht, schneller und explosiver zu klettern. Ich bin jetzt auch kräftiger und kann deshalb auch mehr Risiken eingehen.


Du hast eben deine Grösse angesprochen. Du bist 1,60 Meter gross.
Nein, es sind leider nur 1,58 Meter.

Empfindest du das in den schwierigen Routen als einen Nachteil?
Die Grösse macht es in einigen Routen schon schwieriger, aber klein zu sein, ist keine Entschuldigung. Es kann auch ein Vorteil sein. Und im Weltcup gibt es sogar welche, die sind noch kleiner als ich. Bei «Jungfraumarathon», meiner zweiten 9a-Route, war es tatsächlich so, dass ich wegen meiner Grösse einige Moves gar nicht geschafft habe.

Am Ende hat es aber doch geklappt.
Ich habe Griffe und Tritte gesucht, die ich erreichen konnte. Und dann konnte ich die Route auch durchsteigen. Diese Route hat mich vor allem mental sehr gefordert. Es hat sich alles so in die Länge gezogen. Im Oktober 2018 war ich zum ersten Mal in «Jungfraumarathon» unterwegs. Dann kam der Winter. Im Frühjahr bin ich dann sehr weit hinaufgekommen. Ich bin aber immer wieder an derselben Stelle gescheitert. Es ist wirklich extrem hart, wenn es keinen Fortschritt gibt. Da positiv zu bleiben, war echt schwierig. Ich habe die Route dann auswendig gelernt, habe versucht, mich an jeden Move zu erinnern und am Ende war es dann ein fantastisches Gefühl, als es mir gelungen ist, die Route zu durchsteigen.

Angy Eiter, die erste Frau, die überhaupt eine 9b-Route geklettert ist, hat diese Route damals sogar in der Halle nachgebaut, um sich bestmöglich vorzubereiten. Machst du das auch?
Bestimmte schwierige Züge trainiere ich natürlich in der Halle. Abhängig davon, was gerade ansteht, versuche ich, für die Wettkämpfe und für meine Projekte am Fels parallel zu trainieren. In der Halle geht es vor allem um Kraft und Explosivkraft für dynamische Züge. Das mache ich am Campusboard, am Hangboard oder mit No-foot-Bouldern, also Klettern ohne Zuhilfenahme der Füsse. Mit der Nationalmannschaft können wir dreimal pro Woche in der Halle in Biel trainieren. Ich bin zweimal pro Woche dabei. Mein Freund hat im Haus seiner Eltern eine einfache Trainingswand, an der ich trainieren kann, und dann gibt es seit Kurzem eine weitere Spray Wall bei den Griffebauern von «Flathold» in Moutier, die ich auch nutze. Und für Sportkletter- und Mehrseillängenrouten sind auch die Wettkämpfe hilfreich. Viele Routen an einem Tag klettern zu müssen, wie in den Wettkämpfen, verbessert die Ausdauer. Und vor allem lernt man in den Wettkämpfen, mit Druck und Stress umzugehen. Für mich ist aber auch das Felsklettern selbst ein gutes Training, das mir Ausdauer gibt und Kraft in den Fingern.

Du hast vorhin kurz angedeutet, dass es dich für die «Cabane au Canada» motiviert hat, dass es eine 9a-Route war. Du hast damit gezeigt, dass du die derzeit beste Schweizer Kletterin bist.
Meine Felsprojekte sehe ich vor allem als persönliche Herausforderung. Da geht es zunächst um nichts anderes. Natürlich freut es mich aber, dass ich die erste Schweizerin war, die eine 9a geschafft hat, wobei ich sicher bin, dass es auch andere Frauen gibt, die so stark sind wie ich und die eine 9a einfach noch nicht versucht haben – vielleicht, weil ihr Fokus anderswo liegt, im Wettkampfklettern oder in Mehrseillängenrouten. 9a heisst deshalb nicht, dass ich die beste Schweizer Kletterin bin, wie ich übrigens eh der Meinung bin, dass Felskletterer diese Schwierigkeitsgrade, die ja sehr subjektiv sind, viel zu ernst nehmen. Stundenlang können sie darüber diskutieren, ob eine Route eine 9a oder eine 9a+ ist.

Was macht für dich dann den Unterschied aus?
Ob es eine Erstbegehung oder eine Wiederholung ist. Die, die eine Route wiederholen, wissen nämlich, dass sie möglich ist. Wobei sich auch da sehr viele Parameter verändern können, was die Vergleichbarkeit echt schwierig macht. Das Wetter hat viel Einfluss und verändert vieles. Und wenn die Route oft geklettert wurde und abgegriffen ist oder wenn ein Griff ausgebrochen ist, ist es auch schon wieder ganz anders. Echte Vergleichbarkeit gibt es für mich deshalb nur an einer künstlichen Wand, an derselben Route am selben Tag.

Und was hältst du von Kategorien wie «First Female Ascent»?
Ich gebe zu, dass wenn eine Frau eine Route geschafft hat, sie dann auch für mich möglicher erscheint – allein schon wegen meiner Grösse. Und wenn der Zusatz «FFA» dem Erfolg eine grössere Sichtbarkeit gibt und Frauen dazu inspiriert, schwierige Routen zu klettern, ist das für die Sache ganz gewiss sehr gut.

Fotos © Julia Cassou

Über Katherine Choong

Katherine Choong wird am 1. Januar 1992 geboren. Im Alter von acht Jahren kommt sie durch Zufall zum Klettern. Mit zwölf Jahren beginnt sie richtig zu trainieren. 2009 wird sie Junioren-Weltmeisterin im Lead-Klettern. 2011 führt sie den Europacup bei den Juniorinnen an. 2013 wird sie Schweizer Lead-Meisterin. In internationalen Wettkämpfen schafft sie es immer wieder in die Top Ten. 2018 wird sie siebte beim Weltcup im slowenischen Kranj. Beim Bächli Swiss Climbing Cup 2020 erreicht sie im Lead den dritten Platz. Aber nicht nur in der Halle kann Katherine Choong beachtliche Erfolge für sich reklamieren. 2018 war sie die erste Schweizerin, der die Rotpunktbegehung einer Route im Schwierigkeitsgrad 9a gelang. Mittlerweile hat sie auch Mehrseillängenrouten für sich entdeckt.

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