Sich für ein schwieriges Kletterprojekt zu entscheiden, in das man Zeit und Energie investieren möchte, ist für mich zugleich beängstigend, aber auch sehr aufregend. Denn ich weiss, dass ich erneut alle meine Grenzen überwinden muss, um es zu schaffen. Was ich vor mir habe, ist nicht nur eine körperliche Prüfung, sondern vor allem ein mentaler Prozess.
Die Idee, mich erneut an ein Projekt im 9. Grad zu wagen, hatte sich in meinem Geist eingenistet, aber natürlich musste ich zuerst eine Linie finden, die mir gefällt und nicht nur eine die schwierig bewertet ist. Ein schöner, ruhiger und wohltuender Ort sollte es sein. Die Route Mollasse'son mit der Bewertung 9a, die sich in Mollans-sur-Ouvèze in Südfrankreich befindet, bot mir alles, was ich brauchte.
Bei meinem ersten Aufstieg schien die Schwerkraft besonders stark zu wirken, jeder Zug war extrem schwierig auszuführen. Ich war ungefähr so nah dran, alle aneinanderzureihen, wie am Beobachten einer Einhornparade. Die Tage vergehen, meine Bewegungsabläufe verbessern sich, ich beginne, die Züge zu zähmen, aber die Fortschritte bleiben minimal. Ich spüre, dass mir das Ziel durch die Finger rutscht und dass ich die Möglichkeit akzeptieren muss, dass ich mit dieser Route nicht so schnell Erfolg haben werde wie erwartet. Oder vielleicht sogar, dass ich es überhaupt nicht schaffen werde? Zweifel machen sich breit. Diese Momente, in denen ich meine Komfortzone verlasse, in denen ich mich verletzlich fühle, in denen die Angst vor dem Versagen zu einem Vertrauensverlust in meine Fähigkeiten führt, lassen mich den Sinn meines Handelns hinterfragen und diese kleine Route schleicht sich dann in meinen Kopf: Habe ich meine Ziele zu hochgesteckt? Habe ich genügend Ressourcen? Bin ich zu schwach? Sicher ist, dass ich mich diesmal damit abfinden muss, ohne mein Ziel erreicht zu haben, mit leeren Händen nach Hause zu gehen.
Sich auf ein schwieriges Projekt einzulassen ist manchmal ein komplizierter Prozess, der dich anregt, deine Gefühle zu erforschen und zu lernen, mit ihnen umzugehen. Jeder Tag, den ich in dieser Route verbringe und dabei mein Bestes gebe, jeder kleine Fortschritt, der daraus resultiert, ist ein Sieg, der mich meinem Ziel näherbringt. Die Route hat mich gelehrt, mit Frustration, und dem Gefühl nicht immer erfolgreich zu sein, umzugehen, ohne dabei mein Selbstvertrauen und vor allem die Freude am Klettern zu verlieren. Ich vertraue auf meine Ausdauer und meine Geduld, um es zu schaffen. Ich werde wiederkommen!
Der Frühling kommt, und damit taucht auch ein Mehrseillängenprojekt wieder auf, das mir schon seit einiger Zeit im Kopf herumschwirrt. Vor einigen Jahren stolperte ich über ein beeindruckendes Foto von Nina Caprez in einer Mehrseillänge auf der linken Seite der Verdonschlucht. "La Ramirole": ein 150 Meter langer, gigantischer Überhang mit langen, zwischen blau und weiss schwankenden Säulen, der in fünf, für viele abschreckend schwierige, Seillängen unterteilt ist: 8a+, 8a, 8b, 8a, 6c+! Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich bereit fühlte, mich diesem mineralischen UFO zu stellen, aber dieses Mal bin ich nicht allein mit meinem Ziel. Jim Zimmermann, mein Partner, ist an meiner Seite, um sich in dieses Projekt zu stürzen und mit mir die gleichen Grade zu durchqueren.
Es kommt mir vor als stünde die Klippe am Ende der Welt, es ist menschenleer. Wir begegnen während unseres Aufenthalts nur einer Handvoll Radfahrer:innen und Tourist:innen. Wir sind allein inmitten dieser grandiosen Landschaft und die einzigen Zeugen unserer unaufhörlichen Beschwerden – "Es ist zu hart!", "Meine Haut tut weh", "Ich bin müde" – sind die Vögel, die über unseren Köpfen den Himmel mit ihrem Luftballett durchschneiden. Die Route erweist sich als schwierig. Die Arme werden gebraten und gegrillt, der aggressive Fels hinterlässt rosige Beulen und die Knie und Beine sind in den sieben Farben des Regenbogens gefleckt. Der Superkrabbenmodus muss schnell aktiviert werden, um diese Sinter zu kneifen und tödliche Qualen zu vermeiden. Kurzum, ein Urlaub, wie wir ihn lieben!
Nachdem wir vier Tage lang jede Seillänge von unten nach oben bearbeitet hatten, begannen wir die richtige Spur zu finden und waren bereit einen zielgerichteten Versuch zu wagen: an einem Tag jede Seillänge im Vorstieg hintereinander ohne Sturz durchzuziehen.
9 Uhr: Wir steigen in die Route ein. Ich verspüre Druck. Ich weiss, dass ich mir keinen Fehler erlauben darf, um all diese körperlich anstrengenden Seillängen zu schaffen, und ich darf in keiner Länge fallen. Puh, die erste Seillänge geht nach grossen Widerständen und viel Kampf vorbei! Beim Einhängen des ersten Standes habe ich gerade genug Zeit mich über diesen ersten kleinen Sieg zu freuen, bevor ich daran denke, dass ich noch drei weitere Längen im 8. Grad schaffen muss... Der Druck steigt schnell wieder an! Ich schaffe die nächste Länge und befinde mich am Fuss der dritten Schlüssellänge, 8b. Jetzt geht es richtig los. Auf der verzweifelten Suche nach potenziell rettenden Positionen versuche ich, Fussspitzen, Knie oder andere Körperteile einzuklemmen, um mich in diesem langen Kampf gegen die Schwerkraft weiterzubringen!
Aber ich kenne noch nicht ganz alle Abläufe auswendig, tappe ein wenig im Dunkeln, verliere Energie, kämpfe mich aber durch und steige immer höher und höher. Zu meinem Erstaunen erreiche ich den allerletzten Teil der Seillänge, wo sich die Crux (der schwierigste Teil) befindet, und bin nur wenige Meter vom Stand entfernt. Ich ruhe mich so gut es geht aus, schüttle meine vor Müdigkeit geschwollenen Arme, atme tief durch, um meinen Herzschlag zu beruhigen – der die Traviata spielt – während ich mir die mir noch bevorstehenden Züge vorstelle. Dann geht es los und ich mache mich an die letzten Meter: die Griffe kneifen, das Knie gegen die Säule klemmen, um die Arme zu entlasten, das linke Bein im Dropknee, das letzte Expressset einhängen, die Arme noch einmal schütteln, atmen, den Körper bis zu einem Zweifingerloch hochziehen, den Fuss nachziehen, zuklemmen und... Sturz. Ich sage dem Stand vor mir gute Nacht und stürze quasi Nase voraus wieder runter. So kurz vor dem Ziel höre ich erneut, wie sich die gleiche kleine Stimme in meinem Kopf einschleicht, die mir sagt, dass ich es nicht schaffen kann, dass ich zu schwach bin. Erschöpft, aber entschlossen wie nie zuvor und überzeugt, dass das Erreichen des Ziels eng mit der unerschütterlichen Einstellung verbunden ist, dass es möglich ist, steige ich wieder zum Anfang der Länge hinab, um einen neuen Versuch zu starten. Da ich nichts mehr zu verlieren habe, klettere ich viel flüssiger und schneller bis zum letzten Abschnitt. Ich glaube bis zum Schluss daran, aber erschöpft stürze ich an der gleichen Stelle ab. Diesmal habe ich nicht mehr die Kraft, noch etwas anderes zu versuchen, aber ich beende den Tag mit einem breiten Lächeln und bin zufrieden, dass ich alles versucht habe.
Da wir nur noch wenige Tage bis zur Abreise hatten, legten wir vor dem nächsten Versuch einen Ruhetag ein. Jim und ich schaffen es beide, die ersten beiden Seillängen zu klettern (nach meinen Durchstiegen bin ich an jeder Seillänge abgestiegen, um ihn zu sichern, damit er im Vorstieg klettert, und bin an einem statischen Seil mit einer Handsteigklemme wieder aufgestiegen), es bleiben "nur" noch die 8b und die letzte 8a. Und schliesslich drehe ich dieser Route in einem vertikalen Kampf den Hals um und erreiche den Gral, nach dem jeder Kletterer strebt: das Gefühl, das Unmögliche geschafft zu haben! Jim schliesslich, ebenfalls sehr nahe am Ziel, stürzt im letzten harten Zug der 8b. Sein Fortschritt und seine Entschlossenheit haben mich jedoch immer wieder überrascht und sind an sich schon eine Leistung!
Dieses Abenteuer mit seinem Seil- und Lebensgefährten zu erleben, mit ihm den Druck, die Müdigkeit, die Schwierigkeiten, die Enttäuschung, wenn er gefallen ist, aber auch die Aufregung, die gegenseitige Unterstützung, das Lachen und die Momente der Freude nach jeder erfolgreichen Seillänge zu teilen, haben diesen Durchstieg zu einem unglaublichen Erlebnis gemacht, das mir noch lange in Erinnerung bleiben wird!
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