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Climb & Fly an der Jungfrau Nordwand

Lucien Caviezel, Montag, 02. August 2021

Mitte Juni ist die klassische Jahreszeit, um Nordwände in den Alpen zu klettern normalerweise vorbei. Aufgrund des schlechten Frühlingswetters waren jedoch die Bedingungen für ein kurzes Zeitfenster noch nahezu ideal. Diese Chance packten die beiden Alpinisten und Gleitschirmpiloten Roger Schäli und Lucien Caviezel, um mit Hilfe ihrer Gleitschirme eine Variante der selten begangenen Lauperroute an der Jungfrau Nordwand zu klettern.

Mitte Juni ist die klassische Jahreszeit, um Nordwände in den Alpen zu klettern normalerweise vorbei. Aufgrund des schlechten Frühlingswetters waren jedoch die Bedingungen für ein kurzes Zeitfenster noch nahezu ideal. Diese Chance packten die beiden Alpinisten und Gleitschirmpiloten Roger Schäli und Lucien Caviezel, um mit Hilfe ihrer Gleitschirme eine Variante der selten begangenen Lauperroute an der Jungfrau Nordwand zu klettern.

Die Idee, an der Jungfrau Nordwand zu klettern und den Zustieg, wie auch den Abstieg mit unseren Gleitschirmen zu verkürzen, schwirrte schon seit einiger Zeit in unseren Köpfen herum. Um ein solches Projekt zu realisieren, muss jedoch einiges zusammenpassen: Einerseits müssen die Verhältnisse in der Wand günstig sein, andererseits darf es zum Fliegen nicht zu viel Wind haben.

Mitte Juni ist es dann soweit: Die Wand ist noch gut mit Schnee bedeckt und die Wettermodelle prognostizierten günstiges Flugwetter mit schwachem Wind bis auf 4000m. Perfekte Climb & Fly Bedingungen.

Mit der Bahn geht es aufs Jungfraujoch. Mit im Gepäck sind unsere Gleitschirme, Biwakausrüstung, Kocher, Essen und unsere Kletterausrüstung. Obwohl unsere modernen Bergsteiger-Gleitschirme superklein verpackbar sind und nicht mehr als 2kg wiegen, sind die beiden 45 Liter Exped-Rucksäcke bis oben gefüllt.

Im Zug aufs Jungfraujoch überprüfen wir nochmals unsere Berechnungen zum Fliegen. Gemäss diesen reicht es bei einem Start vom Jungfraujoch knapp nicht bis auf den Giessengletscher am Wandfuss der Jungfrau Nordwand. Wenn wir jedoch 15 Minuten Richtung Mathildespitze hochklettern und von dort starten, sollten wir es gerade bis zu unserem Biwakplatz schaffen. 


Schwer bepackt machen wir uns also auf den Weg zur Aussichtsplattform des Jungfraujochs auf dem Gletscher. Hier übersteigen wir die Absperrung und ernten ein paar irritierte Blicke von einigen Touristen. Wir binden unsere Skis auf und machen uns an die Arbeit. Die 100 Höhenmeter im felsigen Gelände sind rasch geschafft und so stehen wir kurze Zeit später am Startplatz. Der Wind ist nahezu perfekt, ca. 15 km/h, schön von vorne. Wir schauen nach links in Richtung unseres angepeilten Landeplatzes. Auf den ersten Blick macht es nicht gerade den Eindruck, dass unsere Höhe für die Gleitstrecke ausreicht, aber wir vertrauen auf unsere Berechnungen. Sollte es nicht reichen, könnten wir jederzeit abdrehen und sicher im Tal landen. Sollte unser Plan schon beim ersten Flug scheitern, wäre dies nicht weiter tragisch. Denn mit Sportklettern im Lehn besteht für den nächsten Tag bereits ein verlockendes Alternativprogramm.

Wir packen unsere Gleitschirme aus dem Rucksack, ziehen unsere Gurtzeuge an und besprechen nochmals den optimalen Flugweg. Rechts von uns beginnt sich eine Wolke zu bilden. Sollte diese weiter heranwachsen, sitzen wir ruckzuck im Nebel und können nicht mehr starten. Also drücken wir etwas aufs Tempo. Leinen sortieren, Gleitschirm anhängen und Vorflugcheck machen. Roger startet zuerst. Gleich nach dem Abheben dreht er nach links ab und fliegt Richtung Wandfuss. Zwei Minuten später sehe ich, wie er souverän landet. Erleichtert starte nun auch ich und lande mit einem grossen Grinsen wenige Augenblicke später neben Roger. Der erste Teil ist geschafft.


Biwak im 1000-Sterne-Hotel

Inzwischen ist es bereits 17 Uhr. Zügig packen wir unsere Gleitschirme zusammen, bereiten unser Nachtlager vor und lassen den Gaskocher geduldig Schnee schmelzen. Zum Nachtessen gibt es Lyo Food “Penne Bolognese”. Gesättigt packen wir unsere Rucksäcke für den nächsten Tag: Etwas zu Essen und Trinken, eine Extrajacke und unsere Gleitschirme. Das restliche Material werden wir morgen holen.


Wir betrachten die verschiedenen Routen, welche sich durch die Wand ziehen und studieren die Lauperroute, welche wir klettern wollen. Diese Tour wurde 1926 von Hans Lauper und Pierre von Schumacher erstbegangen und führt über die nordwestliche Gipfelrippe im rechtesten Wandteil der Jungfrau Nordwand.

So langsam neigt sich die Sonne dem Horizont zu. Die Stimmung ist atemberaubend. Wir verkriechen uns bald in unsere Schlafsäcke und versuchen, etwas Schlaf zu finden. 


Aufbruch mitten in der Nacht

Um 1 Uhr nachts reisst uns der Wecker mit einem erbärmlichen Krach aus dem Schlaf; Zeit um aufzustehen. Wir werfen einen Blick aus dem Zelt, die Nacht ist sternenklar und auch der Schnee konnte bereits perfekt abstrahlen und ist hartgefroren.


Zuversichtlich fangen wir an, Wasser zu kochen, bereiten unsere Portion gefriergetrocknetes Porridge zu und werden langsam wach. Wir schmelzen nochmals Wasser für unsere Trinkflaschen, ziehen unsere Schuhe an, seilen uns an und los geht’s. Der Weg führt uns gemütlich über den Gletscher via Chlys Silberhorn zum Fuss der Lauperrippe.

Am Wandfuss angekommen besprechen wir die aktuelle Lage. Passen die Bedingungen und ist es objektiv sicher? Wie fühlen wir uns und sind wir fit? Von hier aus könnten wir noch komfortabel umdrehen, falls wir zum Entscheid kommen sollten, dass etwas nicht passt. Wir entscheiden, dass alles im grünen Bereich ist und setzen unser Abenteuer fort. 


Lohnende Kletterei in Fels und Eis

Nun beginnt die eigentliche Kletterei. Das Gelände wird steiler und im Licht unserer Stirnlampen klettern wir mal etwas mehr im Fels, mal mehr im Firn. Das Gelände ist nicht sehr anspruchsvoll und so geht es flott voran. Abwechslungsweise spuren Roger und ich jeweils einige Meter vor.


Es ist noch fast dunkel, als wir im oberen Bereich der Wand auf einmal vor einem grossen Felsturm stehen. Es stellt sich die Frage, ob wir diesem links oder rechts ausweichen sollen. Rechts ist die originale Lauperroute, welche über ein Band bis knapp unter den Gipfel führt, links geht es wieder mehr in die Nordwand hinein und dann in einer Rinne in ziemlicher Falllinie nach oben. Bevor wir uns entscheiden, machen wir kurz Pause, verzehren einen Riegel und werfen nochmals einen Blick auf das aktuelle Übersichtsfoto. Die Linie links schaut definitiv verlockend aus. Oben drin scheint es noch viel Eis zu haben. Zudem sind wir gut in der Zeit und die Temperatur ist immer noch schön kühl. Also entscheiden wir uns für die linke Variante.

Es folgen knapp drei Seillängen in kombinierter Mix-Kletterei. Das Wasser-Eis ist nahezu perfekt, gut verbunden mit dem Fels und richtig schön griffig. Die Sonne zeigt sich immer mehr und bettet die umliegenden Berge langsam in ein weiches Licht.

Meter für Meter klettern wir weiter nach oben. Die stellenweise nahezu senkrechte Kletterei ist anspruchsvoll und dennoch eine wahre Freude.

Nach der dritten Seillänge öffnet sich die Rinne wieder und das Gelände wird etwas flacher. Die originale Lauperroute führt von rechts unten wieder zu uns. Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Ausstieg.


Morgensonne auf dem Gipfel der Wengener Jungfrau

Oben ausgestiegen haben wir beide ein grosses Lachen auf unseren Gesichtern. Die Anstrengung wird erstmal bei einer Pause mit Brot, Wurst und Käse belohnt. Zwar sind wir noch nicht ganz auf dem Gipfel der Jungfrau, sondern erst auf der Höhe der etwas tiefer liegenden Wengener Jungfrau, doch Stress haben wir keinen mehr. So geniessen wir für eine Weile einfach den Moment. Die Morgensonne wärmt angenehm und es ist beinahe windstill. 


Gut gestärkt nehmen wir auch noch die letzten 100 Höhenmeter auf den Gipfel der Jungfrau in Angriff. Abgesehen von drei anderen Bergsteigern, welche über die Normalroute kamen, sind wir alleine auf dem Gipfel. Wir gratulieren uns, machen ein Erinnerungsfoto und geniessen die Aussicht. Es ist kurz vor 8 Uhr. Der Gedanke, dass der Tag erst gerade begonnen hat, wir jedoch schon eine Nordwand geklettert sind, finden wir amüsant. Doch noch sind wir am Berg und müssen zuerst wieder runter. 


Abstieg mit dem Gleitschirm

Geplant ist, mit dem Gleitschirm zurück zu unserem Material beim Biwak zu fliegen. Dazu müssen wir jedoch erstmal ein paar Meter Richtung Wengener Jungfrau absteigen. Auf der Jungfrau selbst ist das Gelände zu steil und der Platz nicht ausreichend, um mit unseren Gleitschirmen zu starten.

Unten angekommen prüfen wir nochmals den Wind: Nahezu windstill, perfekt, um mit unseren Schirmen zu starten. Einige Minuten später sind wir startklar: Roger sprintet los, hebt problemlos ab und verschwindet in Richtung Biwakplatz. Nun bin ich an der Reihe. Mein Flug führt an unserer soeben gekletterten Route vorbei, die ganze Wand, so aus der Luft zu sehen, ist sehr imposant. 15 Minuten später lande auch ich bei unserem Zelt.


Hier packen wir all unser Material in unsere Rucksäcke und bereiten uns für unseren dritten Flug vor. Vor dem Start gibt es allerdings ein drittes, ausgiebiges Frühstück. Schliesslich wollen wir das Essen im Rucksack nicht wieder ins Tal fliegen.

Beim dritten Start fliegen wir gemeinsam los. Roger zieht seinen Schirm auf, ich folge ihm mit ein paar Sekunden Verzögerung. Gemeinsam heben wir ab und gleiten über die wilden Gletscherabbrüche des Giessengletschers in Richtung Grindelwald.

Nach der Landung fallen wir uns in die Arme, die Freude über das geglückte Projekt ist riesig. Neben Freude empfinden wir aber auch eine tiefe Dankbarkeit, dies zusammen erlebt haben zu dürfen. Drei Flüge, eine Nordwand - sicherlich ein climb & fly, das uns in Erinnerung bleiben wird.

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