8. bis 9. Juni 2019
Wir sind auf dem Weg ins Basislager des Nanga Parbat. Nach der erfolgreichen Befahrung des Spantik wechseln wir das Tal, auch die Landschaft und die Menschen ändern sich. Diese Region ist viel konservativer. In Shilaz, dem Ausgangspunkt für den Nanga-Trek, tragen die Männer lange Bärte, und Frauen, die in Skardu schon kaum zu sehen sind, sind hier völlig unsichtbar. In zwei Tagen erreichen wir, begleitet von unserem Polizisten, das Lager. Der Ort ist magisch: etwas Gras und die 4000 Meter hohe Wand des Nanga Parbat im Hintergrund. Zwei Teams sind bereits da: zwei georgische Kletterer und ein russisch-italienisches Team, darunter auch Cala Cimenti, die wir letztes Jahr am Laila Peak getroffen haben. Auch sie wollen wie wir eine Skiabfahrt versuchen. Die Bedingungen in der Diamirflanke sehen gut aus, und unsere kleinen -Gehirne träumen bereits ganz aufgekratzt von einer direkten Abfahrtslinie im Zentrum der Wand.
10. Juni 2019
An unserem ersten Tag steigen wir ins Lager 2, um die berühmte Kinshofer-Wand kennenzulernen – eine 150 Meter hohe, senkrechte Wand und die technisch anspruchsvollste Passage auf dem Weg zum Gipfel. Wir klettern die ersten 50 Meter und befestigen unser Seil. Von dort aus -können wir den Rest des Weges und vor allem die Reste der vielen Fixseile sehen. Ein kurzer Materialcheck ergibt, dass einige noch in gutem Zustand sind. Nur hier an der Kinshofer-Wand verwenden wir Fixseile. Guter Dinge kehren wir um und schwingen den riesigen, perfekt geneigten Hang hinab zum Lager 1. Um 15 Uhr sind wir wieder im Basislager.
11. bis 15. Juni 2019
Meine Zweifel vom Vortag sind bestätigt, Pakistan hat meinen Magen fest im Griff. Tiorfan, Imodium, georgische Medizin … nichts hilft. Ich spüre Tiphaines sorgenvolle Blicke auf meine körperliche Verfassung. Erst nach fünf Tagen und etwas Antibiotikum wird es besser. In der Zwischenzeit hat ein Schneesturm dem Basislager mehr als 80 cm Neuschnee beschert. Der Nanga Parbat selbst wurde dagegen vom Wind durchgefegt – nun glänzt das blanke Eis in der Sonne. Unser Traum von einer direkten Skibefahrung scheint zu schwinden.
15. bis 20. Juni 2019
Wir erkunden die Diamirflanke. Unsere Form ist mässig, aber wir sind optimistisch, dass in ein paar Tagen alles wieder normal sein wird. Zum Abschluss der Höhenanpassung wollen wir noch einmal bis auf 7000 Meter steigen. Um das ewige Auf und Ab an der Kinshofer-Wand zu vermeiden und eine mögliche Abfahrtsroute auszukundschaften, gehen wir in die wilde Diamirflanke. Das Wetter ist wechselhaft, aber nie wirklich schlecht, und die Schneeverhältnisse sind gut, also können wir uns in die Höhle des Löwen vorwagen. Nach vier Tagen erreichen wir, über eine vermutlich bisher unbegangene Route, das Ende der Diamirflanke auf knapp 7500 Metern. Hier stossen wir auf den Normalweg der Kinshofer-Route, über die man ebenfalls abfahren könnte. Nach einer letzten Nacht auf 6600 Metern kehren wir ins Basislager zurück. Mit dieser Reise ins Herz der Diamirflanke ist die Expedition für uns bereits ein Erfolg!
21. bis 25. Juni 2019
Unsere Akklimatisierung ist abgeschlossen. Jetzt heisst es ausruhen und warten auf ein günstiges Wetterfenster. Zwei neue Expeditionen erreichen das Basislager, unter anderem das Team um den Nepalesen Nirmal Purja, der alle 14 Achttausender in sieben Monaten besteigen will. Wir tauschen uns ein wenig mit den anderen Gruppen aus. Für uns ist klar, dass wir zum ersten günstigen Zeitpunkt unser Glück versuchen werden. Wenn wir den Berg dann für uns alleine haben, umso besser! Am 23. Juni kommen unseretwegen noch zwei Hubschrauber angeknattert. TF1, ein französischer Fernsehsender, ist gekommen, um über uns zu berichten. Leider bleibt keine Zeit, um von unserem wachsenden Bekanntheitsgrad zu profitieren. Unsere Wetterbeobachter wachen über uns. Für den 29. Juni ist ein gutes Wetterfenster angesagt: Diesen Gipfeltag sollten wir nicht verpassen.
26. Juni 2019
Wir verlassen das Basislager um 4 Uhr morgens. Der Weg zum Lager 2 muss neu gespurt werden. Über die Kinshofer-Route mit den schweren Rucksäcken und Ski auf dem Rücken aufzusteigen, ist ein ordentlicher Kraftakt. Nach elf anstrengenden Stunden erreichen wir Lager 2, wo sich einige andere Bergsteiger akklimatisieren. Beim Zeltaufbau profitieren wir von den Terrassen der Georgier und sparen uns eine Stunde Schneeschaufeln. Das Karma stimmt heute: Tiphaine merkt, dass sie die Berg-Apotheke vergessen hat, aber unsere spanischen und brasilianischen Freunde helfen uns mit ein paar Pillen aus. Nur Vincent, unser Wetterfrosch zu Hause in Frankreich, ist nicht mehr so optimistisch. Statt am 29. Juni soll das beste Wetterfenster nun am 4. Juli herrschen. Die Vorhersage für die nächsten Tage ist eher wie die von letzter Woche: sehr schön am Morgen, etwas bedeckt und etwas Schneefall am Nachmittag, aber nie wirklich schlecht. Wir müssen eine Entscheidung treffen. Alle anderen werden ins Basislager zurückkehren. Aber von dort mit 15 anderen Bergsteigern im Gänsemarsch aufzusteigen, wäre nicht mehr das gleiche Abenteuer. Ohne gross zu diskutieren, entscheiden wir uns, im Lager 2 zu bleiben und den Aufstieg fortzusetzen.
27. und 28. Juni 2019
Wir verlassen das Lager gegen 6 Uhr morgens und steigen den ersten Teil des Grates hinauf, der am Vortag von den pakistanischen Trägern gespurt wurde. Nach 200 Metern erreichen wir einen grossen, unberührten Hang. Der Tiefschnee weicht im Laufe der Zeit hartem Eis. Bei Nebel und Schnee erreichen wir Lager 3, aber die Sonne kehrt schnell zurück. Als ich das Zelt aufbaue, lasse ich eine Zeltstange fallen. Sie fliegt in hohem Bogen die Wand hinab. Jetzt haben wir nur noch ein halbes Zelt … Glücklicherweise entdeckt Tiphaine das Gestänge am Rande eines Séracs. Puh, die Expedition ist gerettet! Der Weg von Lager 3 nach Lager 4 ist sehr anstrengend. Um Triebschneeansammlungen aus dem Weg zu gehen, müssen wir erst etwas abfahren und dann steil wieder aufsteigen. Wir queren das Grosse Plateau hinüber zum Lager 4, das im Windschatten eines kleinen Séracs liegt. Wir sind auf 7250 Metern, es ist 19 Uhr. Der Zeltaufbau und das Schneeschmelzen nehmen drei Stunden in Anspruch. Erst um 22 Uhr können wir eine wohlverdiente Pause einlegen.
29. Juni 2019
Tagwacht um 3:30 Uhr. So überraschend es auf 7250 Metern auch sein mag: Wir haben geschlafen wie die Murmeltiere. Um 5 Uhr gehen wir los. Mit weniger als 100 Höhenmetern pro Stunde scheint der Gipfel nicht näher zu kommen. Unsere Moral wackelt. Gegen 13 Uhr ziehen einige Wolken auf. Das Spuren verlangt einen zähen Willen. Tiphaine lässt nicht locker, obwohl sie müde ist. Gegen 18 Uhr sind wir auf mehr als 8000 Metern. Ich steige noch weiter, bis der Höhenmesser 8040 Meter zeigt. Der Gipfel ist in Sicht, aber ausser Reichweite. Tiphaine ist stehen geblieben. Es ist spät, das Wetter ist mässig, ich gebe auch auf. Als wir für die Abfahrt fertig sind, wird es bereits dunkel. Wir benutzen unsere Smartphones als Stirnlampen und fahren in einem ziemlich abenteuerlichen Stil, mehr seitlich rutschend als fahrend, zurück ins Lager 4, das wir gegen 21 Uhr erreichen. Wir sind müde, aber nicht verausgabt. Unser später Aufbruch hat unsere Erfolgsaussichten sabotiert. Wir müssen es noch einmal versuchen.
30. Juni 2019
Ruhetag auf 7250 Metern. Wir verbringen den Tag mit trinken, Geschichten erzählen und der Reparatur meines Schuhs, der in der Abfahrt gebrochen ist. Mit einer Eisschraube bohre ich zwei Löcher in die Schale, mit einer Schnur kann ich den Schuh in der Abfahrtsposition fixieren. Die Moral ist gut, und ausgestreckt in unseren Schlafsäcken spüren wir nicht einmal die Höhe!
1. Juli 2019
Diesmal klingelt der Wecker um 0:30 Uhr. Leider verschütten wir die Hälfte des Topfinhalts im Zelt. Bis wir wieder Schnee geschmolzen, die Schuhe vorgewärmt haben und losziehen können, ist es wieder 3:30 Uhr – unser neuer Rekord bei der Morgenroutine! Zudem müssen wir spuren. Unser Tempo ist deprimierend niedrig, schon nach kurzer Zeit wechseln wir uns mit dem Spuren ab. Auf 7800 Metern bleibt Tiphaine an einem Felsen zurück, und erklärt mir, dass sie hier auf mich warten wird. Ich bin etwas überrascht, sie schien bis jetzt in guter Verfassung zu sein. Ich schlage ihr vor, gemeinsam ins Lager 4 zurückzukehren, doch sie besteht darauf, in einer Mulde hinter den Felsen auf mich zu warten. Mit meinem etwas benebelten Gehirn nehme ich das leichtfertig hin. Nur um mal zu sehen, aber ohne wirklich an den Gipfel zu glauben, steige ich weiter auf. Bald passiere ich unseren Umkehrpunkt von vor zwei Tagen, auf etwas über 8000 Metern. Der tiefe Bruchharsch weicht einer härteren Unterlage, endlich komme ich in vernünftigem Tempo voran. Erstmals scheint mir der Gipfel erreichbar zu sein.
Ich beobachte die Wolken, die aus dem Tal kommen. Es ist sehr windig. Ich bin fokussiert und entschlossen. Auf etwa 8080 Metern erreiche ich eine kleine Scharte links des Gipfels und deponiere meine Ski. Es ist 17:27 Uhr. Der Wind weht heftig, zwischen Licht und Schatten stehe ich auf dem Gipfel des Nanga Parbat. Ohne Tiphaine ist die Freude nicht so gross, anders als am Spantik fliessen keine Tränen. Es ist einfach unbeschreiblich, hier zu sein. Ich mache ein Selfie und ein Panoramafoto und kehre zum Skidepot zurück. 50 Meter unter dem Gipfel schnalle ich die Ski an. Ich hole Tiphaine ab, die in ihrer Mulde kauert. Wir umarmen uns und sind erleichtert, wieder zusammen zu sein. Auch wenn unsere Beine nicht mehr wirklich reagieren, ist die Abfahrt unglaublich schön. Die tief stehende Sonne leuchtet rot, der Himmel brennt förmlich, das Licht ist magisch. Um 19 Uhr sind wir wieder in Lager 4.
2. Juli 2019
Wir warten, bis die Sonne unser Zelt erwärmt. Dann machen wir uns langsam fertig, wobei Tiphaine tapferer ist als ich. Ich bin faul, beginne, die Höhe zu spüren. Gegen 13 Uhr beginnen wir mit dem Abstieg. Unsere ursprüngliche Idee, wieder 200 Höhenmeter aufzusteigen und über die Diamirflanke abzufahren, geben wir schnell auf. Vier Nächte auf 7250 Metern haben unsere letzten Energiereserven erschöpft, wir fahren auf der Kinshofer-Route ab. Zwischen Lager 4 und Lager 3 treffen wir die anderen Gruppen, darunter Nims und sein Team. Unterhalb von Lager 3 ist das Eis nur mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Im Überschwang setze ich einen letzten Schwung, der zu einer ungewollten Rutschpartie auf Blankeis führt. Wir beschliessen, uns an den Fixseilen festzuhalten, um diese kritischen 100 Meter zu überwinden. Die danach folgenden, senkrechten Felsen der Kinshofer-Wand wollen wir über eine steile Variante rechts davon umfahren, die wir im Basislager ausfindig gemacht haben. Der Allgäuer Luis Stitzinger hat sie 2007 erstmals befahren. Es ist die Schlüsselstelle der Abfahrt.
Wir sind angespannt. Wolken umhüllen uns, die Sicht ist gleich Null. Das Eis ist blank, die Wegfindung kompliziert, denn geradeaus endet die Rinne in einem monströsen Eisbruch. Entkräftet und zum ersten Mal auf dieser Reise streiten wir uns wegen des Wegverlaufs. Endlich finden wir den Durchschlupf, der zum Fuss der Kinshofer-Wand führt – dort ist das Ende der Schwierigkeiten. Wir geniessen unsere letzten Schwünge am Nanga Parbat und erreichen das Ende des Gletschers, wo Muaz schon mit einer Cola auf uns wartet. Wir haben den Nanga Parbat mit Ski befahren!
Zwei Monate Zeltleben sind vorbei. Unsere Expedition neigt sich dem Ende zu. Es war Bergsteigen, wie wir es lieben: allein, nach unserem Wunsch und unserer Vorstellung vom Berg. Die guten Zeiten mit unserem Team, den Trägern und den Pakistanis im Allgemeinen haben unserer Motivation sehr geholfen. Unsere langen Ruhetage im Basislager einerseits, die grossen Anstrengungen am Berg andererseits bilden den Reichtum dieses Abenteuers. Wir freuen uns auf die Rückkehr nach Hause, in den französischen Sommer, bevor wir von der nächsten Expedition träumen.
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