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Sparrhorn

Niklas Stauffacher, Donnerstag, 26. März 2020

„Manchmal ist man begeistert von einer Landschaft, von der Farbe einer ziehenden Wolke oder eines Wassers, das gerade in der Sonne glitzert, und man ist zufrieden, denn die Welt ist schön.“ Max Frisch, Antwort aus der Stille

„Es ist unter Alpinisten üblich, dass man einen Berg nur einmal besteigt“, schreibt Franz Hohler in einem seiner Texte. Ausnahmen seien lediglich die Besteigung über eine andere Route, mit anderen Mitwandernden oder aber „der Gipfel ist aus irgendwelchem Grund zum Hausberg geworden, den man immer wieder besucht.“ Letzteres trifft für mich auf das Sparrhorn zu; der einzige Wander-3000er, den ich von unserem Chalet aus gemütlich erreichen kann. 2014 war ich das erste Mal oben, bei sonnig-bedecktem Wetter, im Herbst 2015 war’s regnerisch-neblig. Zwei verschiedene Verhältnisse habe ich also bereits erlebt, so wählte ich dieses Jahr eine ganz neue Variante: eine Begehung bei Nacht, um auf dem Gipfel den Sonnenaufgang anschauen zu können.

Als ich frühmorgens das Chalet verlasse, blicke ich auf meine Uhr: 1:52 Uhr. Die perfekte Zeit, um loszuwandern. Der Himmel ist gewaltig: Hunderte Sterne kann ich sehen, der Mond scheint unglaublich hell und Wolken sind lediglich im Süden hinter den Bergen zu erkennen. Die Nacht ist klar und dementsprechend kalt, doch ich komme gar nicht erst dazu, zu frieren. Durch den Antoniuswald wandere ich auf die Belalp. Das Wegstück durch den Wald ist die einzige halbe Stunde, in der ich meine Taschenlampe brauche; im Wald wäre es sonst zu dunkel. Ich kenne den Weg inzwischen in- und auswendig, erinnere mich noch genau, wie unendlich lange er mir beim ersten Mal vorkam. Ich weiss in jeder Kurve genau wo ich bin: da ist die Kurve mit den 2 Tannen, die ich letzten Winter vom schweren Schnee befreit habe, die Kurve mit der Marienfigur und dem kleinen Unterstand, die beiden Kurven mit den wackelnden Steinplatten… Die Stellen, an denen bei sommerlich warmem Wetter die Sonne brütet, sind jetzt die, an denen mir der Schein des Mondes den Weg erhellt.

Auf der Belalp frage ich mich, wieso um alles in der Welt die Strasse und die Häuser so mitten in der Nacht beleuchtet werden müssen?! Ausser mir ist keiner unterwegs, kein einziges Geräusch dringt an mein Ohr – mal abgesehen vom Rauschen der Bäche, das einem in dieser absoluten Stille als unglaublich lautes Tosen erscheint – und doch ist es dasselbe Rauschen, das ich tagsüber jeweils lediglich als leises Gluckern wahrnehme.


Bei der Bergstation der Belalpbahn blicke ich auf meine Uhr, denn von hier aus habe ich die letzten beiden Jahre die Zeit bis zum Gipfel gemessen: Es ist 2:50 Uhr. Kurz nach dem Sparrhorn-Sessellift der erste Fehler: Statt auf den Wanderweg gelange ich in die breite Spur eines Traktors o.ä., der ich zunächst folge. Als dieser Weg dann aber nach links, in die komplett falsche Richtung, abzweigt, entscheide ich mich, querfeldein zu gehen und den Wanderweg zu suchen. Ich gebe es zu: Ich hätte diese Entscheidung besser früher getroffen, als ich den Wanderweg noch im Blick hatte, statt nun, da ich nur ungefähr weiss, in welcher Richtung er liegen muss, denn bei Nacht ist es nicht gerade einfach, einen schmalen Weg ausfindig zu machen… Aber ich finde einen Trampelpfad, dem ich folge und der mich tatsächlich wieder auf die richtige Spur zurückführt. Erleichtert schwöre ich mir nun absolute Wegtreue – und konzentriere mich bewusst darauf, nicht noch ein weiteres Mal vom Weg abzukommen.

Die Sache ist die: alleine in den Bergen, auch wenn die Zivilisation noch in Sichtweite ist, komme ich mir unglaublich einsam und verloren vor, als ich so durch die Alpwiesen streife, auf der Suche nach meinem Weg, der für mich ungefähr dieselbe Wichtigkeit hat, wie das Seil für den Kletterer. Der Weg ist meine Versicherung, dass ich heil oben ankomme, dass ich nicht abstürze, dass es mir gut geht. Ihn zu verlassen, bedeutet für mich, auf mich selbst gestellt zu sein, ohne jegliche Hilfe und Anhaltspunkte – mich zu verirren in dieser nächtlichen Landschaft wäre nicht schwer, einen schmalen Pfad wiederzufinden hingegen sehr. Also gilt für diese Wanderung: keine Abweichungen, keine Abkürzungen, höchste Konzentration. Mehrere Male komme ich an Verzweigungen vorbei, es gibt öfters etliche Alternativpfade. Was ich tagsüber sehr schätze, wird jetzt zum pièce de résistance: am liebsten sind mir nun die Stellen, an denen es nur einen gut erkennbaren Weg gibt, an denen der Wanderer keine andere Wahl hat, als dieser einen Spur zu folgen.

Ein weiteres Mal komme ich für einen kurzen Moment von meinem Weg ab, fälschlicherweise folge ich erneut Fahrzeugspuren. Ich merke es aber schnell daran, dass der Untergrund plötzlich nicht mehr steinig, sondern erdig-grasig geworden ist, blicke mich um und erkenne sofort die Grasnarbe, die mich nun wieder weiter zu meinem Ziel führt. Der Blick auf die Uhr und die sich verändernde Umgebung lassen mich wissen, dass ich mich dem Aletschbord nähere; es wird steiler und felsiger. Diese Felsen, die ich tagsüber so gerne bewundere und die ich so mag, erscheinen mir nun plötzlich unglaublich furchteinflössend. Längst habe ich keinen Blick mehr auf die Chalets der Belalp, bin bereits eine Stunde davon entfernt. Als angenehm empfinde ich die Wärme der Nacht, muss aber feststellen, dass sie auf die Wolken zurückzuführen ist, die jetzt den Himmel bedecken, der Mond hat kaum mehr genug Kraft, um richtig durchzuscheinen. Ich fange das erste Mal überhaupt an, an meiner Unternehmungslust zu zweifeln: Bin ich nun zu weit gegangen? Habe ich mir zu viel vorgenommen? Ist es nicht einfach absolut gestört, bei Nacht einen Gipfel erklimmen zu wollen, noch dazu alleine? Ich zweifle, verzweifle fast, denke nach, kämpfe. Nicht viel fehlt und ich würde einfach meinen Schlafsack auspacken, mich auf den Weg legen und auf den Tag warten. Aber da ist dieser letzte kleine Schimmer an Ehrgeiz, der mich weitertreibt, der mich anspornt, der mir vor Augen hält, was mich auf dem Gipfel erwarten könnte.

Zu den Wolken über mir kommt plötzlich Nebel dazu. Nicht sehr dichter Nebel, aber doch so, dass ich nicht mehr weit sehen kann und erschrecke, als sich die „Felsen“ vor mir plötzlich zu bewegen beginnen. Geisterschafe nenne ich sie für mich in dem Moment, denn wie aus dem Nichts sind sie plötzlich da – aufgeschreckt wohl durch meine Anwesenheit, mit der sie nun wirklich nicht hatten rechnen können. Ich grinse beim Gedanken daran, ob wohl sie oder ich mehr erschrocken sind. Der Nebel jedoch lässt mich einen Moment anhalten: Weitergehen oder hier übernachten? Ich weiss genau, wo die Schafe immer sind: auf der letzten grasbewachsenen Ebene vor dem Gipfelaufbau. Wenn ich nun weitergehe, wird es keine flache Stelle mehr geben bis zum Gipfel. Doch die Entscheidung wird mir quasi „von oben“ abgenommen: Die Wolken lichten sich, der Nebel verschwindet, bzw. innerhalb von ein paar Schritten steige ich über die Nebelgrenze hinweg, der Mond leuchtet wieder in seiner ganzen Stärke und weist mir dem Weg zum Gipfelanstieg.

Ich bin am eigentlich schwierigeren Teil der Wanderung angelangt, denn ich muss nun über Felsen hochsteigen. Gut, es hat stets einen Weg und es zeigt sich zudem schnell, dass dieser einfacher ist als zuvor: Hier gibt es nur eine mögliche Route, der Weg wurde zudem seit letztem Herbst ausgebaut, an mehreren Stellen sind neue Steine wie Treppenstufen mit Armierungseisen fixiert worden. Natürlich ist es nicht ganz einfach, bei Nacht über die Schieferplatten zu klettern, aber ich kenne den Weg ja schon und bin ihn noch dazu mehrere Male im Kopf durchgegangen, weiss genau, was mich erwartet.


Ohne weitere Probleme erreiche ich um 4.42 Uhr den Gipfel des Sparrhorns – total erschöpft und verschwitzt, aber unglaublich glücklich. Es reicht gerade noch für ein paar Fotos und um kurz durchzuatmen, bevor ich zu frieren beginne. Nun, da ich mich nicht mehr bewege, kriecht mir die Kälte der Nacht innert Kürze in alle Glieder. Ich beeile mich, aus meinen Band- und Prusikschlingen eine Kette zu knoten, die ich am einen Ende ums Kreuz lege. Am anderen Ende befestige ich einen Karabiner an einer weiteren Bandschlinge, die ich mir quer um den Oberkörper lege – so bin ich zumindest behelfsmässig gesichert. Normalerweise wäre das nicht nötig, aber da ich nun in meinen Schlafsack krieche und noch ein Stündchen döse, bin ich froh darum.

Immer wieder strecke ich meine Nase aus der wohligen Wärme in die eisig kalte Nacht und endlich ist am Horizont ein roter Streifen zu erkennen: es ist 5:45, der Sonnenaufgang beginnt langsam. Trotz der Kälte und obschon es gerade so gemütlich war, wechsle ich nun meinen Standort ein wenig, um mich gegen Osten auszurichten und das beeindruckende Farbenspiel am Himmel betrachten zu können. Die Zeit verstreicht, ich merke es kaum und irgendwann erscheint diese glühende Wolke hinter den Bergen, die mir ankündigt, dass die Sonne bald aufgeht. Und tatsächlich: Nur ein paar Minuten später ist sie da! Es ist wohl einer der schönsten Sonnenaufgänge, die ich je erlebt habe – wenn nicht der schönste überhaupt. Warm im Schlafsack eingepackt, im windabweisenden Biwaksack, der in seinem Rot perfekt zum Himmel passt, mit der Sicherheit der Bandschlingen im Rücken und der aufgehenden Sonne vor meinen Augen – pures Glück erfüllt mich.

Ich bin so fasziniert von der Sonne, dass ich nichts Anderes tun kann, als ihr zuzuschauen und erst als eindeutig Tag geworden ist, meinen warmen Tee auspacke und frühstücke. Mit klammen Fingern – denn noch ist es nicht so warm wie einem durch die Sonne scheinen möchte – esse und trinke ich und trage mich ins Gipfelbuch ein. Ich verweile noch so lange auf dem Gipfel, bis ich mich endlich aus dem Schlafsack heraustraue, in die nun nicht mehr so extreme Kälte, mein Material zusammenpacke und um 8:10 Uhr den Gipfel verlasse.

Der Abstieg ist ein Kinderspiel, ich passiere mit einem Lächeln all die Stellen, die noch ein paar Stunden zuvor so bedrohlich gewirkt hatten und sehe, dass ich eigentlich nie wirklich weit weg vom Weg gewesen war, dass mich jede einzelne Wegspur gleichermassen auf den Berg geführt hätte. Die Felsen haben ihre bedrohliche Wirkung verloren, still stehen sie da und glühen in der Morgensonne, lediglich der Raureif im Gras verrät etwas von der Kälte der Nacht, die man diesem schnell heiss werdenden Tag kaum glauben will. Was dann doch noch sein muss: mehrere Zwischenhalte, um Steinmännchen zu bauen und das unglaubliche Panorama dieses Traumtages zu bewundern. Die Tour war sowohl physisch wie auch psychisch streng, zweiteres wohl fast mehr als ersteres. Sie hat sich aber absolut gelohnt, in dem Moment, in dem die Sonne aufging, waren all die Zweifel weggewischt und vergessen – zurück bleibt die Erinnerung an einen wirklich einzigartigen Sonnenaufgang!

Und heute? Auf dem Gipfel des Sparrhorns stand ich nach jenem denkwürdigen Sonnenaufgang, dessen Foto übrigens seither den Bildschirm eines jeden meiner Smartphones zierte, noch zwei Mal. Nie im Leben hätte mein früheres Ich, das vor wenigen Jahren frierend ans Gipfelkreuz gelehnt auf den Anbruch des Tages wartete, sich träumen lassen, dass die in diesem Moment aufblühende Liebe zur Bergwelt einmal Freizeit und Beruf vereinen würde. Und doch; letztes Jahr, bei Gipfelfoto Nummer fünf, schloss sich dieser Kreis: Hier, auf dem Gipfel, der mir inzwischen so vertraut war wie sonst keiner, stand ich nun mit meinem Bächli Bergsport-Team. Der Bergsport ist zu meinem Alltag geworden – und hat dabei in keinster Weise an Leidenschaft und Begeisterung eingebüsst. Und jedes Mal, wenn ich auf der Belalp bin, blicke ich sehnsuchtsvoll hoch zum Sparrhorn und seinem sich vor dem Himmel abzeichnenden Gipfelkreuz und freue mich stillschweigend auf meinen nächsten Besuch auf dem Berg, der für mich so sehr zum Symbolbild von Lebensfreude, Leidenschaft und Glück geworden ist.

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