Das Jungfraujoch, 3460 Meter über Meer: Die
höchstgelegene Bahnstation Europas ist mit rund
einer Million Besuchern jährlich ein wahrer Touristenmagnet.
Doch meist ist es nur ein flüchtiger Aufenthalt:
Die Leute drängen hinaus auf die Aussichtsterrasse
Sphinx, ein paar Schritte über den Gletscher, dazu
zahllose Selfies vor Schnee, Berg und Eis. Die sechs
Männer lässt der Rummel kalt. Sie kleben am Stollenausgang
ihre Steigfelle auf die Skier und ziehen abseits
des Trampelpfads zur Mönchsjochhütte ihre eigene Spur
unter die mächtige Südwand des Mönchs. Für Kari Eisenhut
stand schon bei der Planung fest: Ohne Hilfe wird
es schwierig, sicher zwischen Gletscher, Felsabbrüchen
und Seracs zu navigieren. Und die Bergführer der Bergschule
Bergpunkt, Michael Wicky, Stefan Naef und Martin
Sägesser, mussten nicht zwei Mal gebeten werden, um
für das Projekt mit den Inhabern der Chill Out Gleitschirmflugschule,
Kari Eisenhut und Beni Kälin, sowie
Lucien Caviezel zuerst an den Berg und dann in die Luft
zu gehen. An der Mönchsjochhütte, an der für die meisten
Touristen der Gletscherausflug zu Ende ist,
kommt das Sextett erst so richtig in Fahrt. Der mit
15 km/h vom Ewigschneefeld hinaufwehende Ostwind
lädt regelrecht zu einem kurzen Testflug in
Bodennähe ein. Bald stehen die drei 40 m2 grossen
Gleitschirme unterhalb der Mönchsjochhütte auf
dem Grätli, um zu einem kurzen Erkundungsflug
zu starten. Zum Sonnenuntergang belohnen sich
die sechs in der steilen Nordflanke des Trugbergs
mit einer Tiefschneefahrt.
Bergauf per Ski
entlang der mächtigen
Südwand
des Mönchs. Und
hinab segeln die
sechs elegant im
Tandemschirm.
GLETSCHERSCHWUND AM EISMEER
«Hier oben ist dieses Jahr noch kein Gleitschirm gestartet
», sagt Mönchsjoch-Hüttenwart Christian Almer, der
von dem Vorhaben begeistert ist. Vom Mönchsjoch führt
die legendäre Eismeer-Abfahrt zum Unteren Grindelwaldgletscher
und bis nach Grindelwald hinab. Die
Route galt schon immer als lang und schwierig, der
Gletscherschwund sorgt dafür, dass die 2500-Höhenmeter-
Abfahrt seit 20 Jahren nicht mehr befahren werden
kann. Daher Karis Idee: «Das nicht fahrbare Stück ab
dem Zäsenberg mit dem Gleitschirm überbrücken, den
oberen Teil jedoch mit dem Ski abfahren.» Auch das Obere
Eismeer hatte es im Bereich der Gletscherabbrüche schon
immer in sich: «1983, als 18-Jähriger, konnte ich dort gerade
so vorbeisteigen, über die Schlüsselstelle musste ich
auf dem Bauch robben», erinnert sich Bergführer Michael.
«Zuerst wartet eine
anspruchsvolle Abfahrt
über das Obere Eismeer.
Wer hier wegrutscht,
landet ziemlich sicher in
einer der Spalten.»
GROSSE SPALTEN UND (K)EIN AUSWEG
Der andere Morgen, 4:30 Uhr: Noch bevor es dämmert
sind die sechs auf den Beinen. Eine kurze Abfahrt,
danach ein steiler Aufstieg mit Steigeisen. Bei Sonnenaufgang
stehen sie auf dem namenlosen Mönchsjoch
(3561 m). Unweit der Berglihütte wartet die anspruchsvolle
Abfahrt über das Obere Eismeer. Der Schnee hartgefroren,
ein Ausrutscher würde sicher in einer der
offenen Gletscherspalten enden. Je weiter sie abfahren,
desto breiter und tiefer öffnen sich die Spalten. Nach
einer fragilen Schneebrücke ist Schluss. «Wir sehen
nicht, ob wir hinunterkommen oder ob eine Spalte den
Weg definitiv versperrt», sagt Michael Wicky. Rückzug!
150 Höhenmeter wieder hinauf, die Gleitschirme am
Rücken. Der Herzschlag steigt, der Schweiss läuft.
Auf knapp 3300 Metern finden die Piloten einen idealen
Startplatz. Leichter Abwind und eine kurze Strecke bis
zum nächsten Spalt erhöhen zwar die Spannung. Aber
nach einem perfekten Skistart stehen die drei Schirme in
der Luft und gleiten am Oberen Challiband entlang. Begleitet
von einer leichten Thermik lassen sie die hochalpine
Gletscherwelt – und ein eisiges Abenteuer hinter sich.
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