Im grosszügigen Winterraum der Binntalhütte muffelt
es gewaltig. Dabei hatten wir bei unserer Ankunft alle
Fenster freigeschaufelt und die ausgekühlte Steinhütte
ordentlich durchgelüftet. Nun baumeln unsere feuchten
Innenschuhe über dem Holzofen wie Duftbäume mit der
Geruchsnote «Fussschweiss». Das scheint den Unbekannten
nicht zu stören, der vom stockdunklen Gang in
den Gastraum stolpert. Mitte 30, langer Bart und einen
massiven Rucksack auf den Schultern. «Bist du alleine
unterwegs?», frage ich ungläubig, als er gerade beginnt,
seine Klamotten über Bänke und Stühle zu hängen. «Ja,
seit zwei Wochen bin ich solo am Weg», murmelt er in
seinen Vollbart hinein, als sei das so normal wie Brötchen
holen. Mit Worten geht er sparsam um. Das mag an
den vielen einsamen Tagen im Gebirge liegen. Es benötigt
einiges an Hartnäckigkeit, um zu erfahren, was ihn in
diesen verlassenen Winkel der Blinnenhorngruppe treibt.
Mark heisst er und seit bereits 25 Tagen ist er auf Skiern
unterwegs. Aufgebrochen zu seiner Ost-West-Alpendurchquerung
ist er in Innsbruck. Mit seinem Kumpel,
doch der habe dann abgebrochen. Nun zieht es der Innsbrucker
Bergretter eben alleine durch bis Chamonix. Am
Abend der dritten Etappe unserer einwöchigen Skidurchquerung
kommen wir uns nun wie blutige Anfänger vor.
Dabei hatten es die ersten drei Teilstücke vom Start in
Realp bei Andermatt bis zur Binntalhütte teils ganz schön in sich. Einzige Konstante an allen Tagen: strahlender
Sonnenschein. Aber das erwartet man ja auch, wenn die
Tour «Route Soleil» heisst. Doch der Sonnenweg ist unter
Skibergsteigern weit weniger bekannt als die Walliser
Haute Route, eine Silvretta-Durchquerung oder die benachbarte
Urner Haute Route. Vielleicht, weil die hohen
Paradegipfel fehlen. Oder man keinen über die Grenzen
hinaus bekannten Gebirgszug durchquert, sondern entlang
des Alpenhauptkamms mehrere kleine Berggruppen
unter die Felle nimmt. Uns reizte etwas ganz anderes:
Insgesamt sechs Mal wechselt man während der sieben
Tage in einen anderen Kanton oder gleich ein anderes
Land. Am zweiten Tag etwa von Uri zuerst ins Wallis und
am Nachmittag hinüber ins Val Bedretto im Tessin. An Tag
vier und fünf führt die Tour nach Italien, ehe man auf der
sechsten
Etappe auf dem Weg zum Simplonpass wieder
auf Schweizer Boden zurückkehrt. Genau diese Grenzgänge
machen den Reiz der Tour aus und garantieren täglich
wechselnde Eindrücke, Begegnungen und auch Preise.
WIE AM STRAND VON RIMINI
Doch von vorne weg: Zugegeben, von der Einsamkeit
der Route Soleil spüren wir am ersten Tag nicht viel.
Denn nachdem wir den Stangenslalom zur berühmten
Rotondohütte hinauf hinter uns gebracht haben, müssen
wir auf der Sonnenterrasse nach einem Plätzchen suchen wie am Strand von Rimini zur Ferienzeit. Hier ein
Tisch mit Italienern, dort Schweizer Bergführer mit
grossen Gruppen und noch zwei Österreicher auf dem Weg
zur Urner Haute Route. Das Publikum ist bunt gemischt –
Ostern eben, das Highlight der Skihochtouren-Saison.
Obwohl die Hütte aus allen Nähten platzt, lässt sich das
Frauen-Trio, das die SAC-Hütte bewirtschaftet, nicht aus
der Ruhe bringen.
Am nächsten Morgen dauert es nicht lang, bis wir dem
Trubel entfliehen können. Als uns am Gipfel des 3068
Meter hohen Gross-Leckihorns die ersten Sonnenstrahlen
die Finger wärmen, ist der Hüttenstress längst vergessen.
Bevor sich eine grosse Gruppe der Gipfelflanke
nähert, schnallen wir die Skier an und queren steil
unter der Gipfelpyramide zum Muttenpass hinüber.
Drüben am Piz Rotondo pickeln sich zwei Bergsteiger
durch die Eisflanke der schattigen Nordwand. Vor uns
liegen dagegen
knapp 1000 rasante Tiefenmeter Abfahrt
durch das malerische Gerental, eine mit Kuppen
garnierte Schneise, die von 3000er-Gipfeln flankiert wird. Zum Glück sind wir früh dran. So trägt uns der
Harschdeckel bis in den flachen Talboden, wo wir uns
die zweite Schicht Sonnencreme ins Gesicht schmieren.
Zwei fordernde Übergänge trennen uns noch von der
Nufenen-Passstrasse. Und weit und breit keine Spur, die
irgendwo hinaufzieht. Beim ersten Aufschwung versinken
die Ski tief im durchgeweichten Osthang. An der
Nordseite der Gonerlilücke kämpfen wir dagegen mit
knietiefem Pulverschnee. Geschafft. Bei der Abfahrt ins
Val Bedretto erleichtert uns die von Lawinen überzogene
Passstrasse dann die Orientierung. Irgendwo hier, unter
der meterhohen Schneedecke, entspringt der Ticino,
dem der Kanton seinen Namen verdankt.
Sonnenbaden auf engstem Raum auf der proppenvollen Terrasse der Rotondohütte
FUTURISTISCH MIT FUCHS
Wenig später empfängt uns Hüttenwirtin Carolin auf
der Sonnenterrasse der futuristischen Capanna Corno
Gries. Wie ein umgedrehter Pyramidenstumpf steht
die 2008 renovierte Hütte im Val Corno. Drinnen ist es
nicht weniger spektakulär. Die Glasfront ermöglicht
im Gastraum einen 360-Grad-Rundumblick, die Zimmer sind nach Planeten benannt. Pünktlich zum Abendessen
lugt ein Fuchs durchs Küchenfenster. «Der kommt öfter
vorbei, sein Bau befindet sich nicht weit von der Hütte
unter einem Stein», erklärt die braungebrannte, zierliche
Hausherrin.
Für den langen Weg zur Binntalhütte brechen wir am
dritten Tag bereits vor Tagesanbruch auf. Elf Kilometer
Strecke zeigt die GPS-Uhr am Gipfel des 3374 Meter
hohen Blinnenhorns. Was für eine freistehende Aussichtskanzel
mit bestem Blick auf das Gletschermeer des
Berner Oberlands mit seinen berühmten 4000ern. Zwei
Stunden später stehen wir auf dem zweiten 3000er des
Tages, dem Hohsandhorn. Wieder bei bestem Sonnenschein.
Der sorgt zum einen dafür, dass wir unsere Kurven
nun über 1000 Tiefenmeter in feinstem Frühjahrsfirn
ziehen dürfen. Und zum anderen, dass sich in unseren
Gesichtern bereits deutlich die Konturen der Sonnenbrillen
abzeichnen.
STEIL BERGAUF NACH ITALIEN
Auch am vierten Tag brechen wir früh auf. Während
Mark in der Binntalhütte noch seine Ausrüstung sortiert,
marschieren wir bereits steil bergauf Richtung Italien.
Auf einer Variante zur klassischen Route Soleil. Denn so
können wir noch die Felsnadel des Grossen Schinhorns
mitnehmen und die lange Traverse über den Lago die Devero
verkürzen, einen grossen Stausee auf der italienischen
Seite. Der Plan zahlt sich aus. Zwar kämpfen wir uns
entlang eines Latschen-Gürtels durch knietiefen Schneematsch
dem Ufer entgegen. Aber am Rand des Sees
türmen sich die Eisschollen und erste Wasserlöcher
durchziehen die Schneedecke des Stausees. Wir betreten
die fragile Eisschicht nicht, tragen die Skier lieber auf
einem Wanderweg am Ufer entlang und schlürfen wenig
später einen Cappuccino am Rifugio Castiglioni.
Dort treffen wir beim Abendessen auch Einzelgänger Mark
wieder. Ihm ist auf dem Weg hierher die Bindung gebrochen.
Einmal längs über den Stausee marschierte er
trotzdem. Bei feinsten Rigatoni al forno und einer Flasche
Rotwein trübt der Hüttenwirt unsere euphorische Stimmung:
«Im Winterraum des Rifugio Arona funktioniert
der Ofen nicht.» Mist, Planänderung.
SCHÖN UND SCHMERZHAFT
Der kaputte Ofen beschert uns eine schmerzhafte Hammeretappe.
25 Kilometer und 2300 Höhenmeter sind es bis
zum Winterraum der Monte-Leone-Hütte, die wir eigentlich
erst einen Tag später auf dem Weg zum Leone-Gipfel
passieren wollten. Einmal längs durch den Nationalpark
Alpe Veglia e Alpe Devero. Landschaftlich eine Wucht. An
vielen unbekannten Gipfeln der Helsenhorngruppe vorbei, von der Alpe Devero zur Alpe Veglia, die wie grüne Inseln
in der einsamen Hochgebirgslandschaft liegen. Konditionell
aber extrem zehrend. So erreichen wir die Hütte erst,
als wir bereits lange Schatten werfen. Andere Tourengeher
treffen wir den ganzen Tag über nicht. Auch nicht Mark, der
erst seine Bindung reparieren wollte und sowieso lieber
ohne Begleitung unterwegs ist.
Wommm. Schiii, schiii. Wieder donnert der Sturm einen
Fensterladen gegen die Hüttenwand. Obwohl die Sonne
vom Himmel lacht, ist es vor der Hüttentür fast nicht
auszuhalten. Die Böen haben sich über Nacht zu einem
Föhnsturm aufgebauscht. Es bläst so stark, dass selbst der Gang zum Plumpsklo im Nebengebäude zur Mutprobe
wird. Am Westgrat des 3553 Metern hohen Monte
Leone, unserem eigentlichen Tagesziel, wirbeln riesige
Schneefahnen. Es ist sinnlos. Wir schwingen hinunter
zum Simplonpass. Von dort nehmen wir den Postbus
Richtung Italien und gönnen uns im Grenzdorf Iselle ein
wenig «Dolce Vita»: Pasta, Carne, Caffè.
Rasante Tiefenmeter: Vom Grossen Leckihorn geht es über den Muttenpass ins malerische Gerental.
TRAGEPASSAGE ZUM FINALE
Die letzte Etappe beginnt mit einem Lunchpaket-Frühstück
in der Ostrinne des Galehorns. Danach eine kurze
Abfahrt zum Sirwoltesattel, ehe wir uns die letzten
Aufstiegsmeter zur Simelilücke hinaufschwitzen. Nur das
Finale ins Saastal haben wir uns anders vorgestellt. Statt
entspannt auf Ski gen Tal zu schwingen, zwingen uns die
aperen Hänge früh zum Tragen. Es ist eine wahre Wohltat,
als wir 900 Höhenmeter später die aufgeweichten und
geschundenen Füsse in den Dorfbrunnen von Saas-Balen
strecken. Und Alpendurchquerer Mark? Den hat die Reparatur
seiner Bindung einen Tag zurückgeworfen. Doch der
Wetterbericht bleibt unverändert. So kann auch er seinen
Abschnitt der Route Soleil, wie wir, abhaken: mit sieben
Tagen Sonnenschein.
INFOS
Beste Zeit: Anfang April bis Ende Mai
Karten: Schweizer Landeskarten 1:25 000, Blatt 1251 (Val Bedretto), Blatt 1270 (Binntal), Blatt 1290 (Helsenhorn), Blatt 1289 (Brig), Blatt 1309 (Simplon)
Startort: 6491 Realp, 1538 m, Parkplatz in Ortsmitte beim Bahnhof
Zielort: 3908 Saas Balen, 1483 m, Postbus-Haltestelle an der Haupstrasse
Rückreise: Ab Saas Balen mit dem Postbus bis Visp Bahnhof. Von dort mit der Bahn nach Realp.
Unterkünfte:
Rotondohütte, 2571 m, +41 418871616, www.rotondohuette.ch
Capanna Corno Gries, 2338 m, +41 91 868 11 29, www.corno-gries.ch
Binntalhütte, 2275 m, +41 27 971 47 97, www.cas-delemont.ch/index.php?pg=67
Rifugio Enrico Castiglioni, 1640 m, +39 333 3424904, www.rifugiocastiglioni.it
Rifugio Città di Arona, 1750 m, +39 339 4046395, www.rifugiocaiarona.com
Monte-Leone-Hütte, 2848 m, +41 79 934 97 32, www.cas-sommartel.ch/monte-leone
Simplon-Hospiz, 2000 m, +41 27 979 13 22, https://gsbernard.ch/simplon/hospiz/
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