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Leiterlispiel zum Gipfel - Piz Beverin

Jürg Buschor, Freitag, 17. Januar 2020

Zwei Meter fehlen dem Piz Beverin zum Dreitausender - als Skitourenziel ist der markante Berg trotzdem grossartig. Der Schamserberg bietet weitere lohnende Ziele und eine aussergewöhnliche Berglodge als Basis.

Zwei Meter fehlen dem Piz Beverin zum Dreitausender – als Skitourenziel ist der markante Berg trotzdem grossartig. Der Schamserberg bietet weitere lohnende Ziele und eine aussergewöhnliche Berglodge als Basis.

Manchmal braucht’s halt einfach Glück», stellt Michael Roth zufrieden fest, prostet seinem Touren- und Arbeitskameraden Jan Maurer mit einer kleinen Flasche Viamala-Bier zu und greift zum Sandwich, das er zuvor aus den Untiefen seines Skitourenrucksacks hervorgekramt hat. Zeit wäre auf dem Gipfel des Piz Beverin eigentlich genug gewesen für den Verzehr, doch an eine gemütliche Mittagspause war bei dem starken Wind nicht zu denken – wie so oft auf dem windexponierten Paradegipfel zwischen Schamser- und Safiental. Ganz anders auf der Terrasse der Pensiun Laresch: Hier heizt die Sonne an diesem Märztag schon so stark ein, dass sich die zwei bereits nach kurzer Zeit einer Bekleidungsschicht entledigen. «Das Zwiebelprinzip funktioniert auch im Après-Ski», stellt Jan mit einem Grinsen fest.

Noch vor zwei Tagen hatte wenig darauf hingedeutet, dass dieser Skitourenausflug ins Mittelbünden mit der Fussnote «Highlight des Winters!» in das Touren-Logbuch eingetragen würde. Die ganze Woche über war die Wetterlage so unberechenbar, dass sich die Meteorologen schwer taten mit einer verlässlichen Prognose. Während Michi und Jan Tag für Tag gebannt den Schneelagebericht und die Wetterprognosen verfolgten, wechselten sich Hoffnung und Zweifel in munterer Folge ab. Es musste doch einfach klappen, hatten sie doch kein Verschiebedatum finden können, weil es um diese Jahreszeit in der Marketingabteilung von Bächli Bergsport immer besonders hoch zu- und hergeht. Sie wollen es unbedingt versuchen.

«Herzlich willkommen in der Pensiun Laresch». Als Gastgeber Lukas Hug seine Gäste begrüsst, ist die Nacht bereits über Mathon hereingebrochen. Kurz nachdem die Rucksäcke auf die Zimmer gebracht sind, bittet Lukas zu Tisch. In der offenen Küche hat er einen saisonalen und reich dekorierten Salat angerichtet, auf den er seine leckeren hausgemachten Capuns folgen lässt. Spätestens jetzt scheint der Arbeitsalltag viel weiter weg, als die zwei Autostunden es vermuten lassen, die die Anfahrt von Nänikon gedauert hat.

Klick, klick. Die Hebel der Pin-Bindungen rasten am nächsten Morgen in der Aufstiegsposition ein. Für die LVS-Kontrolle zieht Michi trotz der frostigen Temperaturen die Handschuhe aus. Der Himmel ist klar, weshalb die Temperaturen über Nacht auf minus 7 Grad gefallen sind. Der Schnee, der in den vergangenen Tagen gefallen ist, hat die gewünschte Konsistenz: trocken, leicht, pulvrig. «Das wird ein Wahnsinnstag», orakelt Jan, legt den Hebel seiner Skitourenschuhe in den Walkmodus um und stapft direkt hinter der Berglodge Laresch los. Im Ortsteil Plàn da Crusch legt er eine Aufstiegsspur in den steilen Hang zwischen den letzten Wohnhäusern, bevor es über die schneebedeckten Alpweiden und lockeren Baumbestand immer höher geht. Um 06:40 Uhr ist es so weit. Auf der gegenüberliegenden Talseite schiebt sich die Sonne über den Piz Curvér und schickt die ersten wärmenden Sonnenstrahlen herüber. Jan und Michi halten inne und schauen zurück. «Das ist immer wieder ein grossartiger Moment, der auch nach 27 Jahren, in denen ich nun schon auf Skitouren gehe, nichts von seiner Magie verloren hat», spricht Michi leise vor sich hin.

RÜCKKEHR EINES JÄGERS
Die Waldgrenze ist hier auf 1900 Höhenmetern und die konturreiche wellige Winterlandschaft wird optisch nur noch unterbrochen durch die sonnenverbrannten Ställe und Alphütten der Weiler Bot l’Ava, Tschavagliuns, Dros und Mursenas. Auch wenn hier im Sommer einige Alpstrassen und Wanderwege den Schamserberg durchmessen, gerade jetzt liegt alles unter einer dicken Schneedecke und menschliche Spuren sind kaum auszumachen. Im Val Mirer halten Jan und Michi plötzlich inne. An der steilen südexponierten Talflanke ist der Schnee abgerutscht und hat einige Quadratmeter des alten Grases freigelegt – eine Herde von rund 20 Gämsen nimmt diese hochwillkommene Essenseinladung dankend an. Hier im Naturpark Beverin stehen die Gämsen in direkter Konkurrenz mit dem König der Alpen – dem Steinbock. Die lokale Kolonie erreichte 1998 ihre maximale Grösse von 550 Tieren. Doch schon fünf Jahre später wurde sie wieder dezimiert, nachdem die Gämsblindheit – eine hoch ansteckende Augen-Krankheit, die zur Erblindung führt – viele Tiere in den Tod riss. Auch der harte Winter 2008/2009 forderte seinen Tribut.

Seit einiger Zeit stellt dem Steinwild im Naturpark Beverin auch ein natürlicher Feind nach: der Wolf. Bereits 2018 wurde rund um den Piz Beverin ein Wolfspaar gesichtet, im vergangenen Jahr haben die beiden erwachsenen Tiere zum ersten Mal Nachwuchs bekommen. Das Rudel hatte Anfang Oktober noch zwei Elterntiere und insgesamt neun Jungtiere umfasst. Doch der Kanton Graubünden ordnete in demselben Monat eine Regulierung des Wolfsrudels an. Vier Jungwölfe sollten ausgemerzt werden, nachdem ein Elterntier mindestens 15 Ziegen aus geschützten Herden gerissen hatte.

LEITER ALS KLEINE MUTPROBE
Jetzt herrscht komplette Ruhe am Berg und einzig die Spuren eines Schneehasen zeugen davon, dass am Berg auch im Winter Säugetiere heimisch sind. Nachdem der breite Bergrücken um Blasatscha die 30 Grad Hangneigung kaum je überschritten und ein geradezu ideales Terrain für eine Spuranlage nach Lehrbuch geboten hat, setzen Jan und Michi jetzt in immer kürzerer Abfolge zu Spitzkehren an. Auf 2520 Metern schliesslich ist der Punkt erreicht, an dem sie mit kraftvollen Stampfbewegungen ein kleines Podest treten, die Bindungen öffnen, die Ski mit den dafür vorgesehenen Bändern am Rucksack festzurren und die verbleibenden 70 Höhenmeter zum Beverin Pintg hochkraxeln. So viel Spass die erste Spur in der Abfahrt bereitet, so anstrengend ist das Vorspuren. Eine kurze Rast lässt nicht nur den Puls abfallen, sondern bietet auch eine gute Gelegenheit, den Ausblick auf die formschönen und beeindruckenden Dreitausender der Region in aller Ruhe zu geniessen: Surettahorn, Piz Timun, Piz Grisch auf der anderen Seite des Schamsertals, Bruschghorn, Pizzas d’Anarosa und Alperschällihorn in der südwestlichen Verlängerung des Piz Beverin. Auf dem markanten Bergrücken, der zu beiden Seiten durch Felsabbrüche begrenzt ist, geht es in direkter Linie Richtung Piz Beverin. Nach 650 Metern hält Michi plötzlich inne – vor ihm geht’s rund sieben Meter senkrecht in die Tiefe. Zwar ist an dieser Schlüsselstelle mittlerweile eine Aluminiumleiter fest montiert. Doch mit Tourenskischuhen und den sperrigen, am Rucksack fixierten Ski bleibt trotz allem ein mulmiges Gefühl, wenn man in die Tiefe steigt.

Ab hier sind’s nur noch 220 Höhenmeter bis zum 2998 Meter hohen Gipfel. Der steht so frei, dass die Aussicht und der Weitblick auch an diesem Tag schlicht atemberaubend sind. Das hat allerdings auch einen Nachteil. Der Gipfelhang ist so windexponiert, dass der Schnee meist windgepresst und abgeblasen ist. So auch heute. «Zum Glück gibt’s keine Stilnoten», sagt Michi, als er zurück bei der Leiter abschwingt – ausser Atem, aber mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ganz anders sieht’s in der Abfahrt Richtung Alp digl Oberst aus. Windgeschützt durch den Felsriegel liegen hier rund 50 Zentimeter unverfahrener Pulverschnee, die in den letzten zwei Tagen gefallen sind. Eine kurze Lagebeurteilung drängt sich auf. «Der Einstieg ist steiler als 30 Grad, aber der Hang flacht schon kurz danach ab», hält Jan fest und auch Michi teilt die Meinung, dass das Risiko bei der aktuellen Lawinenlage vertretbar ist – vorausgesetzt, dass einzeln abgefahren wird. «Ich lass dir den Vortritt», sagt Michi mit einem Augenzwinkern, «schliesslich bist du ja mein Vorgesetzter». Jan lässt sich nicht zweimal bitten und fährt – nein schwebt – die ersten 350 Höhenmeter durch den trockenen Pulverschnee ab. Hinter sich eine gewaltige Staubfahne. 1450 Höhenmeter sind’s vom Gipfel zurück zur Pensiun Laresch. In der Abfahrt dürften’s bei solchen Bedingungen gerne ein paar mehr sein.

«Manchmal braucht’s halt einfach Glück», stellt Michael Roth auf der Sonnenterrasse zufrieden fest. Und er denkt dabei wahrscheinlich bereits an den zweiten Tag und den Piz Tarantschun, den er auf der vor sich liegenden Skitourenkarte mit roter Farbe markiert hat.

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