Zwei Meter fehlen dem Piz Beverin zum Dreitausender – als Skitourenziel ist der markante Berg trotzdem grossartig. Der Schamserberg bietet weitere lohnende Ziele und eine aussergewöhnliche Berglodge als Basis.
Manchmal braucht’s halt einfach Glück», stellt
Michael Roth zufrieden fest, prostet seinem
Touren- und Arbeitskameraden Jan Maurer mit
einer kleinen Flasche Viamala-Bier zu und greift zum
Sandwich, das er zuvor aus den Untiefen seines Skitourenrucksacks
hervorgekramt hat. Zeit wäre auf dem
Gipfel des Piz Beverin eigentlich genug gewesen für den
Verzehr, doch an eine gemütliche Mittagspause war bei
dem starken Wind nicht zu denken – wie so oft auf dem
windexponierten Paradegipfel zwischen Schamser- und
Safiental. Ganz anders auf der Terrasse der Pensiun
Laresch: Hier heizt die Sonne an diesem Märztag schon
so stark ein, dass sich die zwei bereits nach kurzer Zeit
einer Bekleidungsschicht entledigen. «Das Zwiebelprinzip
funktioniert auch im Après-Ski», stellt Jan mit einem
Grinsen fest.
Noch vor zwei Tagen hatte wenig darauf hingedeutet,
dass dieser Skitourenausflug ins Mittelbünden mit der
Fussnote «Highlight des Winters!» in das Touren-Logbuch
eingetragen würde. Die ganze Woche über war die
Wetterlage so unberechenbar, dass sich die Meteorologen
schwer taten mit einer verlässlichen Prognose.
Während Michi und Jan Tag für Tag gebannt den Schneelagebericht
und die Wetterprognosen verfolgten, wechselten
sich Hoffnung und Zweifel in munterer Folge ab.
Es musste doch einfach klappen, hatten sie doch kein
Verschiebedatum finden können, weil es um diese Jahreszeit
in der Marketingabteilung von Bächli Bergsport
immer besonders hoch zu- und hergeht. Sie wollen es
unbedingt versuchen.
«Herzlich willkommen in der Pensiun Laresch». Als
Gastgeber Lukas Hug seine Gäste begrüsst, ist die Nacht
bereits über Mathon hereingebrochen. Kurz nachdem die
Rucksäcke auf die Zimmer gebracht sind, bittet Lukas
zu Tisch. In der offenen Küche hat er einen saisonalen
und reich dekorierten Salat angerichtet, auf den er seine
leckeren hausgemachten Capuns folgen lässt. Spätestens
jetzt scheint der Arbeitsalltag viel weiter weg, als
die zwei Autostunden es vermuten lassen, die die Anfahrt
von Nänikon gedauert hat.
Klick, klick. Die Hebel der Pin-Bindungen rasten am
nächsten Morgen in der Aufstiegsposition ein. Für die
LVS-Kontrolle zieht Michi trotz der frostigen Temperaturen
die Handschuhe aus. Der Himmel ist klar, weshalb
die Temperaturen über Nacht auf minus 7 Grad gefallen
sind. Der Schnee, der in den vergangenen Tagen gefallen
ist, hat die gewünschte Konsistenz: trocken, leicht,
pulvrig. «Das wird ein Wahnsinnstag», orakelt Jan, legt
den Hebel seiner Skitourenschuhe in den Walkmodus um
und stapft direkt hinter der Berglodge Laresch los. Im
Ortsteil Plàn da Crusch legt er eine Aufstiegsspur in den
steilen Hang zwischen den letzten Wohnhäusern, bevor
es über die schneebedeckten Alpweiden und lockeren
Baumbestand immer höher geht. Um 06:40 Uhr ist es so
weit. Auf der gegenüberliegenden Talseite schiebt sich die Sonne über den Piz Curvér und schickt die ersten
wärmenden Sonnenstrahlen herüber. Jan und Michi halten
inne und schauen zurück. «Das ist immer wieder ein
grossartiger Moment, der auch nach 27 Jahren, in denen
ich nun schon auf Skitouren gehe, nichts von seiner Magie
verloren hat», spricht Michi leise vor sich hin.
RÜCKKEHR EINES JÄGERS
Die Waldgrenze ist hier auf 1900 Höhenmetern und die
konturreiche wellige Winterlandschaft wird optisch
nur noch unterbrochen durch die sonnenverbrannten
Ställe und Alphütten der Weiler Bot l’Ava, Tschavagliuns,
Dros und Mursenas. Auch wenn hier im Sommer
einige Alpstrassen und Wanderwege den Schamserberg
durchmessen, gerade jetzt liegt alles unter einer dicken
Schneedecke und menschliche Spuren sind kaum auszumachen.
Im Val Mirer halten Jan und Michi plötzlich inne.
An der steilen südexponierten Talflanke ist der Schnee
abgerutscht und hat einige Quadratmeter des alten Grases
freigelegt – eine Herde von rund 20 Gämsen nimmt
diese hochwillkommene Essenseinladung dankend an.
Hier im Naturpark Beverin stehen die Gämsen in direkter Konkurrenz mit dem König der Alpen – dem
Steinbock. Die lokale Kolonie erreichte 1998 ihre
maximale Grösse von 550 Tieren. Doch schon
fünf Jahre später wurde sie wieder dezimiert,
nachdem die Gämsblindheit – eine hoch ansteckende
Augen-Krankheit, die zur Erblindung
führt – viele Tiere in den Tod riss. Auch der harte
Winter 2008/2009 forderte seinen Tribut.
Seit einiger Zeit stellt dem Steinwild im Naturpark
Beverin auch ein natürlicher Feind nach:
der Wolf. Bereits 2018 wurde rund um den Piz
Beverin ein Wolfspaar gesichtet, im vergangenen
Jahr haben die beiden erwachsenen Tiere zum
ersten Mal Nachwuchs bekommen. Das Rudel
hatte Anfang Oktober noch zwei Elterntiere und
insgesamt neun Jungtiere umfasst. Doch der
Kanton Graubünden ordnete in demselben Monat
eine Regulierung des Wolfsrudels an. Vier Jungwölfe
sollten ausgemerzt werden, nachdem ein
Elterntier mindestens 15 Ziegen aus geschützten
Herden gerissen hatte.
LEITER ALS KLEINE MUTPROBE
Jetzt herrscht komplette Ruhe am Berg und
einzig die Spuren eines Schneehasen zeugen
davon, dass am Berg auch im Winter Säugetiere
heimisch sind. Nachdem der breite Bergrücken
um Blasatscha die 30 Grad Hangneigung kaum
je überschritten und ein geradezu ideales Terrain für eine
Spuranlage nach Lehrbuch geboten hat, setzen Jan und
Michi jetzt in immer kürzerer Abfolge zu Spitzkehren an.
Auf 2520 Metern schliesslich ist der Punkt erreicht, an dem
sie mit kraftvollen Stampfbewegungen ein kleines Podest
treten, die Bindungen öffnen, die Ski mit den dafür vorgesehenen
Bändern am Rucksack festzurren und die verbleibenden
70 Höhenmeter zum Beverin Pintg hochkraxeln. So
viel Spass die erste Spur in der Abfahrt bereitet, so anstrengend
ist das Vorspuren. Eine kurze Rast lässt nicht nur den Puls abfallen, sondern bietet auch eine gute Gelegenheit,
den Ausblick auf die formschönen und beeindruckenden
Dreitausender der Region in aller Ruhe zu geniessen: Surettahorn,
Piz Timun, Piz Grisch auf der anderen Seite des
Schamsertals, Bruschghorn, Pizzas d’Anarosa und Alperschällihorn
in der südwestlichen Verlängerung des Piz Beverin.
Auf dem markanten Bergrücken, der zu beiden Seiten
durch Felsabbrüche begrenzt ist, geht es in direkter Linie
Richtung Piz Beverin. Nach 650 Metern hält Michi plötzlich
inne – vor ihm geht’s rund sieben Meter senkrecht in die
Tiefe. Zwar ist an dieser Schlüsselstelle mittlerweile eine
Aluminiumleiter fest montiert. Doch mit Tourenskischuhen
und den sperrigen, am Rucksack fixierten Ski bleibt trotz
allem ein mulmiges Gefühl, wenn man in die Tiefe steigt.
Ab hier sind’s nur noch 220 Höhenmeter bis zum 2998
Meter hohen Gipfel. Der steht so frei, dass die Aussicht und
der Weitblick auch an diesem Tag schlicht atemberaubend
sind. Das hat allerdings auch einen Nachteil. Der Gipfelhang
ist so windexponiert, dass der Schnee meist windgepresst
und abgeblasen ist. So auch heute. «Zum Glück
gibt’s keine Stilnoten», sagt Michi, als er zurück bei der
Leiter abschwingt – ausser Atem, aber mit einem
breiten Grinsen im Gesicht. Ganz anders sieht’s in
der Abfahrt Richtung Alp digl Oberst aus. Windgeschützt
durch den Felsriegel liegen hier rund
50 Zentimeter unverfahrener Pulverschnee, die in
den letzten zwei Tagen gefallen sind. Eine kurze
Lagebeurteilung drängt sich auf. «Der Einstieg
ist steiler als 30 Grad, aber der Hang flacht schon
kurz danach ab», hält Jan fest und auch Michi teilt
die Meinung, dass das Risiko bei der aktuellen
Lawinenlage vertretbar ist – vorausgesetzt, dass
einzeln abgefahren wird. «Ich lass dir den Vortritt»,
sagt Michi mit einem Augenzwinkern, «schliesslich
bist du ja mein Vorgesetzter». Jan lässt sich nicht
zweimal bitten und fährt – nein schwebt – die ersten
350 Höhenmeter durch den trockenen Pulverschnee
ab. Hinter sich eine gewaltige Staubfahne.
1450 Höhenmeter sind’s vom Gipfel zurück zur
Pensiun Laresch. In der Abfahrt dürften’s bei solchen
Bedingungen gerne ein paar mehr sein.
«Manchmal braucht’s halt einfach Glück», stellt
Michael Roth auf der Sonnenterrasse zufrieden
fest. Und er denkt dabei wahrscheinlich bereits
an den zweiten Tag und den Piz Tarantschun, den
er auf der vor sich liegenden Skitourenkarte mit
roter Farbe markiert hat.
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