2013 läuft Kilian Jornet in zwei Stunden und 52 Minuten über den Liongrat auf das Matterhorn und wieder zurück. Von der Schweizer Seite aus gelingt dem Walliser Bergführer Andreas Steindl fünf Jahre später ebenfalls eine Bestzeit: vom Kirchplatz in Zermatt auf den Gipfel und retour in drei Stunden, 59 Minuten und 52 Sekunden. Ähnlich verrückt sind die Rekorde der «Spaghetti-Tour»: Für die Durchquerung des Monte-Rosa- Massivs samt Breithorn und Lyskamm, die über 18 Viertausender führt und für Normal-Bergsteiger drei bis fünf Tage dauert, brauchten Ueli Steck und Andreas Steindl 14 Stunden und 35 Minuten, die beiden Berner Alpinisten Nicolas Hojac und Adrian Zurbrügg unterboten 2020 den Rekord um rund eine Stunde – die aktuelle Bestmarke hält der französische Alpinist Benjamin Védrines mit neun Stunden und 18 Minuten.
Zugegeben: Speed-Rekorde im Hochgebirge sind wegen der wechselnden Bedingungen kaum vergleichbar. Aber die «fastest known time» ist im modernen (Spitzen-)Alpinismus ein fester Begriff, ein anderer lautet «fast and light» – schnell und leicht. Klar, für solche Fabelzeiten braucht es nicht nur Bombenkondition und perfekte Technik, sondern auch gewichtsoptimierte Ausrüstung. Besonders viel Ballast wurde zuletzt an den Bergschuhen eingespart. Der Produktbereich verändert sich rasant wie seit Jahrzehnten nicht: So haben mittlerweile die meisten Hersteller einen ultraleichten Hochtourenschuh im Portfolio, der für schnelles Bewegen in anspruchsvollem Gelände entwickelt wurde. «Die neuen Schuhe bieten mehr Komfort und sind eher zum Rennen optimiert », so der Bächli-Athlet und Profi- Alpinist Nicolas Hojac. «Mit normalen Bergschuhen kann man auch rennen, aber ich weiss nicht, wie gesund das auf Dauer ist.» Hojacs Schuhwahl für die Speedbegehung der Spaghetti-Runde: Scarpas Ribelle Tech 1.0, der im Ribelle Tech 3 HD den dritten Nachfolger hat. Derselben Produktgruppe gehören Modelle wie die Aequilibrium-Reihe von La Sportiva, der Taiss Pro High GTX von Mammut oder der Croda DFS GTX von Aku an. Sie alle heben sich schon optisch, besonders aber in Gewicht und Steifigkeit von «klassischen» Bergschuhen erheblich ab.
Aus der Reihe getanzt
Herkömmliche Bergschuhe – oder «normale », wie Hojac es nennt – lassen sich auf Meindls Schuh-Skala aus den 1970er-Jahren einordnen. Das Hauptkriterium ist dabei die Torsionssteifigkeit der Sohle. In der Kategorie A/B befinden sich Freizeit- und leichte Wanderschuhe: Mit ihrer flexiblen Sohle, dem niedrigen Schaft und dem weichen Obermaterial eignen sie sich für leichte Zustiege und Wanderungen. Halb und voll steigeisenfeste Bergschuhe für Hochtouren sowie Expeditionsschuhe gehören der Kategorie C bzw. D an. «Der Aufbau der Schuhe ist in den meisten Fällen sehr ähnlich: eine Sohle aus Gummi, mit Einsätzen für die Steigeisen. Dazu kommen ein Dämpfungselement und eine Zwischensohle, um die Sohle zu versteifen», erklärt Ernst Schärer, Produktmanager Schuhe bei Bächli Bergsport. Die steife Sohle sorgt für hohe Trittfestigkeit, das griffige Profil für guten Halt im felsigen Gelände und der hohe Schaft für die nötige Stabilität. Der Sohlenrand besteht dabei vorne und/ oder hinten aus Hartplastik, um Steigeisen montieren zu können. Als Aussenmaterial kommt oft robustes Leder zum Einsatz, in der Regel in Verbindung mit einer wasserdichten Membran. Je nach Zweck kommen dann noch isolierende Materialien für den Einsatz in grosser Höhe und Kälte dazu. Alles in allem bringt ein solcher «klassischer» Hochtourenschuh – etwa der Nepal Extreme von La Sportiva oder der Mont Blanc Pro GTX von Scarpa – in Grösse 42 zwischen 900 und 1000 Gramm auf die Waage.
Die neue Generation der Leichtbergschuhe lässt sich hingegen kaum auf der Meindl-Skala verorten. Die Schuhe verbinden die Flexibilität und Leichtigkeit eines A/B-Schuhs mit der Sohle und den Features eines C-Schuhs. Das soll ein angenehm weiches Laufgefühl bei einer vergleichsweise steifen Sohle für hochalpine Unternehmungen bieten – und zwar bei einem minimalen Gewicht. «In den letzten Jahren ist der Entwicklungstrend zu immer leichteren Schuhen gegangen. Technologien und Materialien haben sich weiterentwickelt und so den Bergsport insgesamt immer leichter und schneller gemacht», sagt Lorenza Kessler, Produktmanagerin im Bereich Footwear bei Mammut. Die Einsparungen sind verblüffend: La Sportivas Aequilibrium Speed GTX bringt gerade mal 530 Gramm pro Schuh (Grösse 42) auf die Waage, der Taiss Pro von Mammut 630 Gramm, der Ribelle Tech 3 HD von Scarpa 660 Gramm. Fast ein halbes Kilo weniger am Fuss: Das sind im Leistungssport Welten, aber auch für Hobby-Bergsteiger spürbare Entlastungen. Wie ist das möglich?
«Zum einen wird durch den Einsatz von Carbon-Zwischensohlen das Gewicht reduziert, zum anderen verzichtet man zunehmend auf Leder und wechselt auf leichte synthetische, funktionelle Materialien », erklärt Mammut-Managerin Kessler. Diese Entwicklung bestätigt auch Scarpas Brand Manager Francesco Favilli: «Die wirklich grossen Fortschritte wurden dank der Entwicklung neuer Materialien erzielt. Zum Beispiel kommen nun Sockengamaschen aus Strickmaterial zum Einsatz, bei denen Fasern und Garne in verschiedenen Strukturen gemischt werden, um Elastizität, Festigkeit, Leichtigkeit und Komfort zu vereinen.» Gleichzeitig ermöglichen Innovationen wie die Litebase- Technologie von Vibram immer leichtere Produktdesigns: Durch die Vulkanisierung von vorgummiertem Gewebe in der Laufsohle kann diese bei gleicher Profiltiefe wesentlich dünner (und damit fast 30 Prozent leichter) ausfallen.
Kombinierte Welten
Nicht nur das Gewicht, auch die Konstruktion der ultraleichten Modelle hebt sich von den «klassischen» Hochtourenschuhen ab. Immer öfter werden Boa-Verschlusssysteme verwendet: «Die Boa-Systeme kennt man aus dem Bereich der Skitourenschuhe. Langsam überträgt sich das auf den Sommer », erklärt der Bächli-Experte Ernst Schärer. Drehen statt schnüren: Das Einhand-Verschlusssystem des amerikanischen Unternehmens Boa findet inzwischen vom Trailrunning bis zur Hochtour Anklang. Diese zwei Welten hätten sich ohnehin immer stärker vermischt, findet La Sportivas Schuh-Produktmanager Francesco Delladio: «Das erlaubt es, bestimmte Merkmale wie geringes Gewicht, Dämpfung, grossen Gehkomfort und Atmungsaktivität, die bis dato nur für Trailrunningschuhe typisch waren, nun auch im Bereich der Bergschuhe anzunehmen.» Den Fokus setzen Hersteller dabei auf das Gehund Abrollverhalten. So ist das Herzstück der La Sportiva Aequilibrium- Reihe die Double-Heel-Technologie, ein zweigeteilter Fersenbereich: «Die ausgeprägte Geometrie mit zweifacher Konstruktion der Ferse ermöglicht ein leichteres Abrollverhalten des Fusses und damit verbunden die Schonung der Schienbeinmuskulatur. Zudem verbessert die Konstruktion die Bremseigenschaften beim Bergablaufen», so Delladio. Auch die im Laufsport relevante Sprengung, also die Höhendifferenz zwischen Ferse und Zehenbox, wird bei der Herstellung ultraleichter Bergschuhe immer wichtiger. Stark gedämpfte Laufschuhe weisen eine Sprengung von acht bis zwölf Millimetern auf, der neue Scarpa Ribelle Tech 3 nur noch sechs Millimeter: «Das stellt einen radikalen Wandel in der Herangehensweise ans Bergsteigen dar, wo der Unterschied immer zehn bis zwölf Millimeter und mehr betrug», erklärt Scarpa-Manager Favilli. Wie beim Laufen möchte man mit einer geringeren Sprengung, also einem flacheren Stand, das Geh- und Laufverhalten optimieren, effizientere Bewegungen ermöglichen und dabei Entzündungen oder Ermüdungen reduzieren.
Grenzenlose Leichtigkeit?
Ihr geringes Gewicht macht den Einsatzbereich der ultraleichten Bergschuhe gross – aber nicht grenzenlos. Je leichter und reduzierter die Schuhe werden, desto wichtiger ist es, das eigene Können richtig einzuschätzen. «Der Mammut Eiger Speed Boa High GTX ist definitiv kein 08/15-Bergschuh und fällt nicht unter die Allrounder – es handelt sich um ein spezielles Hybridmodell und ist als Nischenprodukt nahezu ein Schuh für Profi-Athleten», sagt die Mammut Produktmanagerin Lorenza Kessler über das kommende, nur 480 Gramm leichte Topmodell von Mammut, das mehr einem Trailrunning- als einem Bergschuh gleicht und in Zusammenarbeit mit Nicolas Hojac entwickelt wurde. Abstriche muss man etwa in puncto Stabilität im Fussgelenk erwarten. «Wenn ein Schuh nicht mehr gut stützt, können Querungen in steilen, harten Firnflanken mit Steigeisen sehr unangenehm werden oder man kann sich beim Runterrennen schnell die Bänder reissen. Das kann erfahrungsgemäss auch den besten Läufern passieren», warnt Bächli-Athlet Hojac. «Schlussendlich kommt es aber auf die Fähigkeiten des Bergsteigers an, was möglich ist: Bei den richtigen Verhältnissen kann ich sogar mit Trailrunningschuhen bis auf den Montblanc. Ich muss jedoch haargenau wissen, was mich erwartet – sonst kann es schnell fatal werden.»
Auch laut Bächli-Produktmanager Ernst Schärer ist der Einsatzbereich der neuen Schuhgeneration gross, sofern ausreichend Erfahrung mitgebracht wird. «Sind die Fähigkeiten vorhanden, kann man die Schuhe sehr universell einsetzen: für schnelle, schwierige Besteigungen, aber ebenso für Wanderungen im Bereich von T5 oder T6», sagt der Bächli-Experte Ernst Schärer. Man sollte in jedem Fall beachten, dass sich die Hersteller mit solchen Modellen in erster Linie an fortgeschrittene und erfahrene Bergsteiger wenden, die einen Schuh für schnellen Alpinismus suchen. Inspiriert von Profis kommen in dieser und der nächster Saison sogar noch ausgefeiltere Modelle auf den Markt: Der bereits genannte 480 Gramm leichte Eiger Speed Boa High GTX von Mammut wird nicht das Ende der Fahnenstange sein. In Kooperation mit Andreas Steindl wird Dynafit im Sommer 2024 den 380 Gramm leichten Elevation WP verkaufen, laut Hersteller der leichteste steigeisenkompatible Bergschuh auf dem Markt.
Die «klassischen» Bergschuhe, die ein paar Gramm mehr auf die Waage bringen, haben so nach wie vor ihre volle Berechtigung. Nämlich immer dann, wenn Stabilität, Schutz, Isolation und ausreichend Unterstützung wichtiger sind als das niedrigste Gewicht. «Damit handelt es sich in dem Bergschuh-Segment um zwei Stile, die nebeneinander existieren und die Auswahlmöglichkeit erweitern», sagt Francesco Favilli von Scarpa. Es bleibe nach wie vor schwierig, den richtigen Kompromiss aus Steifigkeit, Stabilität, Isolation und Abrollverhalten zu finden, meint auch Nicolas Hojac. Und wer denkt, nur mit den Ultraleicht-Modellen könne man schnell unterwegs sein, sollte sich an die Bergsteiger-Ikonen der letzten Generation erinnern: «Wir tun immer, als sei Speed-Bergsteigen eine neue Disziplin, das stimmt aber nicht: Eiger, Mönch und Jungfrau wurden bereits 1935 von den beiden Bergsteigern Hans Schlunegger und Adolf Rubi in 16 Stunden von der Mittellegihütte nach Stechelberg gemacht», so der Bächli-Athlet. «Und die hatten alles andere als moderne Bergschuhe.»
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