Wir hängen noch ein paar Runden im Gegenuhrzeigersinn
an die ursprünglich geplante Route.
In etwa so, wie wenn man eine Uhr und somit
die Zeit zurückdreht. Und genau so fühlt es sich auch an:
Der Weg führt uns durch stille und weitgehend verkehrsfreie
Weiler und Dörfer. Man fühlt sich in eine längst vergangene
Zeit zurückversetzt – auf den Spuren von Dinosauriern,
oder einfach in einer Märchenwelt. Wir laufen
durch einen schattigen, kühlen Wald. Das Terrain ist bisweilen
so steil, dass wir auf dem moosigen Pfad die Hände
zu Hilfe nehmen, um schliesslich wieder auf die offene
Weide zu gelangen. Der vertraute Klang von Kuhglocken
lockt uns weiter in die Höhe, bis wir schliesslich den
feuchten Wald hinter uns lassen. Vor uns breiten sich
grüne, mit Wildblumen übersäte Weiden aus, der Himmel
wirkt grenzenlos. Der Weg wechselt häufig zwischen Wald
und Krete: Mal laufen wir im Wald unter grünem Blätterdach,
dann wieder auf dem Grat und schauen auf die
Baumkronen hinunter.
Mit leichtem Gepäck lässt es sich leichtfüssig laufen.
UNBEKANNTER FERNWANDERWEG
Wir folgen den grünen Wegweisern mit der grossen,
weissen Fünf in der Mitte – diese markieren den 310 Kilometer
langen Fernwanderweg, der Dielsdorf mit Nyon
verbindet und damit quasi vor den Toren der zwei grössten
Schweizer Städte endet. Mehr als die Hälfte des Jura-
Höhenweges schlängelt sich durch französischsprachige
Kantone der Schweiz. Unser Lauf beginnt in Val-de-Ruz
und endet in Chambrelien, am Ende der von einem Gletscher
einst tief ausgekerbten Areuse-Schlucht. Entlang
der Route erwarten uns einige Höhepunkte – auch im
Wortsinn. So zum Beispiel der im ganzen Mittelland
sichtbare markante Sendeturm auf dem Chasseral, der
mit seinen 1607 Metern den höchsten Punkt des Berner Juras markiert. Von Natur aus spektakulär ist der Creux
du Van. Das natürliche Amphitheater aus Kalkstein ist
einer der eindrücklichsten und meist besuchten Orte des
Juras. Doch den besonderen Reiz dieser Mittelsektion
des Jura-Höhenweges machen vor allem die Ruhe und
die Abgeschiedenheit aus. Der sich scheinbar endlos
dahinschlängelnde Weg durch diese grüne Traumwelt
bildet eine ideale Kulisse für unseren dreitägigen Lauf.
Entschleunigung als Abendprogramm – im Jura ist der Alltag schnell vergessen.
TRADITIONSREICHE ALPWIRTSCHAFTEN
Die Schlaufe zum Chasseral führt uns an ein paar Alpwirtschaften
vorbei, die sogenannten Métairies. Die Versuchung,
dort zu verweilen, ist gross, doch wir laufen weiter.
Wir winken dem 120 Meter hohen Sendeturm kurz zu und
laufen nun talwärts über wellig abfallende Wiesen voller Löwenzahn, vorbei an dicht mit Enzian bewachsenen
Stellen. Bald geht es aber wieder aufwärts und wir haben
freie Sicht auf den Bielersee, als wir den Grat beim Col de
la Vue des Alpes – ein rege genutzter Picknickplatz, an
dem Schokolade und Aprikosen verkauft werden – erreichen.
Wir laufen den breiten, grasbewachsenen Grat
entlang, vorbei an Tête-de-Ran, Pouet Carre, Grandes
Pradières-Dessus und Mont Racine. Dabei werden wir
von kurzen, aber heftigen Regenschauern verfolgt und
suchen schliesslich Schutz unter dem pyramidenförmigen
Dach eines Vermessungspunktes. Die Regenwolken
bewegen sich nur langsam, und so weichen wir ihnen
aus, indem wir auf der Nordseite des Grats nach Grande
Sagneule und La Tourne hinunterlaufen. Dabei kommen
wir an Bauernhöfen und Vieh vorbei, das unterwegs zu
den höher gelegenen Sommerweiden ist. Wir verbringen
die Nacht im L’Aubier, einem Öko-Hotel in Montezillon
– ein sehr lohnenswerter Abstecher. Das leckere Abendessen
und die hausgemachten Desserts versüssen uns den
Tagesabschluss. Der vertraute Klang
von Kuhglocken
lockt uns weiter
in die Höhe. Mit dem Bus fahren wir zurück zum Col de la Tourne, wo
wir unseren Lauf fortsetzen. Erst führt uns der Weg an
weidenden Kühen vorbei, dann tauchen wir wieder in den
Wald ein. Der weiche Boden des Weges federt unsere
Schritte ab. Der Weg schlängelt sich zwischen flechtenbewachsenen
hohen Bäumen hindurch. Nur wenige
Sonnenstrahlen erreichen durch das dichte Blätterdach
den Waldboden. Vogelgezwitscher bildet einen angenehmen
Klangteppich. Ab und zu machen wir einen kurzen
Abstecher zu einem der zahlreichen Felsenvorsprünge,
um einen Blick auf die in der Ferne liegenden Alpen zu
erhaschen. Der ebene Weg verlangt keine besondere
Aufmerksamkeit und so können wir unsere Umgebung
verstärkt wahrnehmen: die kühle Feuchte des Waldes,
die kalten Berührungen von Farnwedeln, die in den Weg
hineinragen, den Geruch von Zwiebeln und Tannen. Im
«Auto-Pilot-Modus» laufen wir, jeder hängt seinen eigenen
Gedanken nach.
JURA FLASHBACK
Meine Gedanken wandern zurück zu meinen ersten
Trail-Running-Abenteuern im Jura, zurück zu Nebel und
Dunst, Pilzen, Gämsen und Wildschweinen. Während einer
Wanderung vernahm ich damals den Ruf des Waldes, der mich schneller und weiter in den Wald hineinlockte,
weiter den Pfaden entlang. Meine Füsse lernten, über
feuchte Steine hinwegzuhuschen, das Unsichtbare
verfolgend erst steile, felsdurchsetzte Hänge hinauf und
dann wieder über wurzelbewachsene Hänge hinunter.
Das Laufen auf dem heutigen Weg fühlt sich vertraut an,
obwohl ich diesen Weg noch nie vorher gelaufen bin. Der
synchronisierte Rhythmus der Schritte zieht mich voran.
Und ich stelle mir lauernde Luchse vor, die uns beim Vorbeiziehen
beobachten. Wir laufen hinunter nach Noiraigue,
durchs Dorf hindurch und am Gegenhang aufwärts
bis Les Oeuillons. Anfangs laufen wir auf einer steilen,
breiten Strasse, später auf dem «Sentier des 14 Contours»,
der im Zickzack hinauf zum Creux du Van führt.
ATEMBERAUBENDER CREUX DU VAN
Eine krumme Steinmauer verläuft parallel zum Abgrund.
Wir laufen vorsichtig zwischen dieser Schranke und dem
tiefen Abgrund des natürlichen Amphitheaters entlang. Den Nachmittag verbringen wir am Rand des Creux du
Van und zählen die Linien im Kalkstein, die an die Wachstumsringe
eines Baumes erinnern. Ein halbes Dutzend
Steinböcke ruht sich ebenfalls in unserer Nähe aus.
Später kreuzen wir zwischen Grenzsteinen hin und her,
die die Hoheitsgebiete der Kantone Neuenburg und Waadt
markieren. Ein kurzer Regenguss treibt uns ins Le Soliat,
ein Restaurant und Landwirtschaftsbetrieb unweit des
Aussichtspunkts. Mehrere Wanderer und Tagestouristen
haben sich hier versammelt, geniessen in fröhlicher
Runde
Fleischplatten und etwas Wein.
Uns zieht es weiter – entlang des Felsabgrunds zum
Sentier
du Single. Der Lauf talwärts zum Berggasthof
Ferme Robert, der 1750 erbaut wurde, ist oft sehr steil
und rutschig. Wir überqueren die Areuse zurück nach Noiraigue.
Zwei Zughaltestellen weiter kommen wir in Couvet
an, wo wir beim Abendessen die während des Laufes
verlorene Flüssigkeit wieder zuführen: Bier von der Brasserie
des Franches Montagnes (BFM) und Absinth-Sprudel – die grüne Fee aus dem Val de Travers weckt unsere
Lebensgeister wieder.
Aussichtsreich: An schönen Tagen sucht
das Panorama über Juraketten, Seen und
die entfernten Alpen seinesgleichen.
ZIELSPRINT DURCH DIE SCHLUCHT
Von Noiraigue aus durchstreifen wir eine dunkle, von Gletschern
ausgefurchte Schlucht. Wir überqueren die Sautde-
Brot-Brücke und laufen nun der Areuse entlang, deren
Wasser das Grün des Mooses und der sich an der steilen
Felswand ankrallenden Bäume reflektiert. Graureiher
patrouillieren den Fluss wie Pterosaurier aus längst
vergangenen Zeiten. Während wir den Fluss über mehrere
schmale Brücken immer wieder überqueren, kommen wir
an auf Holztischen ausgestellten Fossilien vorbei. Auf dieser
relativ flachen Etappe gibt es nur einen kurzen Anstieg
zur SBB-Station in Chambrelien, von wo aus wir nochmals
freie Sicht auf den Neuenburgersee geniessen. Die grüne Fee aus
dem Val de Travers
weckt unsere Lebensgeister
wieder. Wir sitzen im Zug zurück zu unserem Ausgangspunkt in
Biel. Die drei Tage sind wie im Flug vergangen. Es war
nicht immer einfach, ein Gleichgewicht zu finden zwischen
dem Drang nach Bewegung und dem Verlangen,
die üppige Natur und die spektakulären Aussichten über
das Drei-Seen-Land und die Alpen zu geniessen. Aber
wir sind uns sicher, dass es ein Wiedersehen geben wird
im Jura. Jetzt, da wir diesen wenig beachteten Gebirgszug
für uns entdeckt haben.
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.
Kommentar schreiben