Es ist Freitagabend, die Dunkelheit ist bereits eingebrochen über meinem Zuhause in einem kleinen Dorf im Kanton Aargau. Mein Bruder und ich haben uns am Esstisch zusammengefunden. Nicht selten sitzen wir zu später Stunde an diesem Tisch und bereiten uns auf schulische Prüfungen vor. An diesem Abend waren wir allerdings von anderen Beweggründen angetrieben: Wir haben uns entschlossen, spontan auf ein Abenteuer zu gehen und für mein Filmprojekt Aufnahmen in den Bergen zu machen.
Am nächsten Morgen hiess es dann Sachen packen. Jedes Mal ist es wieder eine Herausforderung, sich nur auf das Essentielle zu beschränken und alles in einem Rucksack zu verstauen. Zum Schluss stärkten wir uns mit einer nährhaften Portion Rösti mit Spiegelei und begaben uns dann zum Bahnhof, wo wir eine 3 Stündige Zugfahrt antraten. Unsere Reise führte uns in Linthal im Kanton Glarus.
Bei schönstem Wetter marschierten wir zu Fuss los, mit dem Ziel, die Luftseilbahn Tierfehd zu erreichen. Vor fast 60 Jahren wurde die Seilbahn erbaut. Sie diente in erster Linie dem Materialtransport für die Errichtung des Kraftwerks Muttsee und der Staumauer Limmernboden. Der Transport von Wanderern war also immer schon zweitrangig und das zeigte sich für uns darin, dass die Talstation nicht direkt mit dem öffentlichen Verkehr zu erreichen ist.
Auf einer kleinen, vor allem von baugewerblichen Fahrzeugen befahrener Strasse mussten wir zu Fuss rund 6 Kilometer zurücklegen. Als wir schon begannen und Sorgen zu machen, dass wir es nicht rechtzeitig für die letzte Bergfahrt schaffen würden, machte ein sympathischer, älterer Herr halt und bot uns an, in seinem Cabriolet mitzufahren. Dieses Angebot konnten wir ihm natürlich nicht abschlagen. So erreichten wir die Talstation in wenigen Minuten und wir ruhten uns ein wenig aus, bis dir Reise weiterging. Die Seilbahn brachte uns dann von Tierfehd zum sogenannten Kalktrittli. Durch die Benutzung dieser Anlage konnten wir mehrere Stunden Gehzeit einsparen und wir staunten, als wir in der Bergstation ausstiegen und uns am Anfang einer ausgeklügelten Stollenanlage wiederfanden. Lastkräne und sogar eine Tramlinie sind im Innern des Berges vorzufinden und alles ist für den Bau und Unterhalt der Wasserkraft Anlagen ausgerichtet. Mein Bruder und ich waren die einzigen Wanderer in der Umgebung. Über einen sehr gut ausgebauten Wanderweg traversierten wir den ersten Steilhang und folgten dann einem sich windenden Pfad weiter nach oben. Vereinzelt war der Weg etwas exponiert, technisch stellte er allerdings keine Herausforderung dar. Eine Schwierigkeit war eher ein hohes Tempo beizubehalten bei diesen warmen Temperaturen und dem vielen Gepäck, inklusive schwerer Filmausrüstung, die ich in der Hand mitführen musste, da im Rucksack kein Platz mehr frei war. Ab und an machten wir Halt, damit ich die beeindruckende Bergwelt filmen konnte. Mein Bruder nutzte die Gelegenheit jeweils um eine Verschnaufpause einzulegen. Die Landschaft wurde immer karger und allmählich begann es, kühler zu werden. Beim Aufstieg wer weissten wir, wo genau unser Ziel liegen könnte und immer wieder stellte sich heraus, dass es doch noch weiter entfernt liegen muss. Kurz vor Erreichen einer Passhöhe zog ein bissiger Wind auf und wir entschlossen uns, lange Hosen und eine Jacke anzuziehen, was das Weiterkommen gleich bedeuten angenehmer machte.
Allmählich verspürten wir eine gewisse Müdigkeit in den Beinen und der Gedanke, Zuhause auf dem Sofa zu liegen schien plötzlich sehr interessant. Als wir dann aber die Passhöhe erreichten, um einiges vor der angegebenen Wanderzeit, verflog jedes Zögern und wir waren sofort fasziniert vom Anblick, der sich uns bot. In der Ferne, weit unter uns, konnte man das hellblaue Wasser des Limmernsees erblicken. Im Vordergrund zeigte sich uns der Muttenchopf mit seiner eigenartigen, eckigen Form. Es war der Moment, an dem wir uns sicher waren, eine gute Entscheidung getroffen zu haben, hierher zu kommen und wir konnten es kaum erwarten, den Muttenchopf von der Nähe zu betrachten. Unser Weg führte an der Muttseehütte SAC vorbei, dann bogen wir allerdings nach rechts ab und suchten eine eigene Route durch die Steinlandschaft. Ein kleiner Schlussanstieg und dann standen wir da, zu zweit, am Rande des Muttenchopfs. Einige hundert Meter unter uns erstreckte sich der Limmerensee und rundherum türmten sich beeindruckende Bergwände auf.
Bevor wir lange verweilten um den Anblick zu geniessen, wollten wir uns um die Aufgaben kümmern, die notwendig waren, um die Nacht angenehm zu überstehen. Wir legten die schweren Rucksäcke ab und mein Bruder begann, das Zelt aufzustellen, während ich filmte. Dafür rückten wir etwas vom Abgrund zurück – mein Bruder weigerte sich, direkt an der Kante die Nacht zu verbringen. Währenddessen wurde der Wind stärker und Wolken zogen auf. Ob uns das um den Sonnenuntergang bringt? «Wie auch immer», dachten wir. Da es nicht nach Regen aussah, machten wir unbeirrt weiter. Was man sowieso nicht ändern kann, braucht es auch nicht zu bejammern. Wenig später war das Zelt errichtet und wir konnten mit der Einrichtung von unserem temporären Zuhause beginnen. Kurz legten wir uns sogar hin, um etwas herunterzufahren und dem Wind zu lauschen. Als wir später aus dem Zelt krochen um mit der Zubereitung des Abendessens zu beginnen, wartete auf uns eine erfreuliche Überraschung: Bevor die Sonne sich für längere Zeit verabschieden würde, schaffte sie es noch ein letztes Mal, zwischen den Wolken durchzuscheinen und sie spendete uns noch einmal ihr wunderschönes, goldenes Licht. Unglaublich wertvoll sind sie jeweils, diese letzten Strahlen und wenn man sich bewusst ist, wie kühl die Nacht auf knapp auf zweieinhalbtausend Meter über Meer wird, schätzt man sie ganz besonders.
Nach einigen Minuten nahm das Spektakel ein Ende und wir widmeten uns und voll und ganz der Beseitigung des Hungergefühls. Dazu setzten wir uns auf eine Matte und hantierten mit dem Gaskocher, den wir mitgebracht hatten. Auf dem Menu standen Fertigravioli, dazu etwas Käse. Was für ein Erlebnis, an einem solchen Ort zu kochen und dabei Gespräche über den Kontrast zwischen dem schnelllebigen Alltag und der unendlichen Ruhe in den Bergen zu führen. Und wie gut eine Portion Fertigravioli schmecken kann. Es ist wohl das Gefühl, sich eine Mahlzeit verdient zu haben, was den Geschmack des Essens in den Bergen so speziell wirken lässt. Oder einfach die Euphorie und Glücksgefühle, die durch die tolle Aussicht hervorgerufen werden und auf die Geschmacksnerven abfärben? Ich weiss es nicht, doch sicher ist, dass wir das Abendessen besonders genossen.
Als wir zur Nachspeise übergingen, einem Schokoladenriegel, war es bereits spürbar dunkler und es war an der Zeit, die Stirnlampen einzuschalten. Den restlichen Abend verbrachten wir mit Fotografieren, übers Leben philosophieren und Tee kochen. Wir legten uns früh schlafen, um am nächsten Morgen erholt zu sein. Als ich mitten in der Nacht aufwachte, wagte ich einen Blick aus dem Zelt. Kein Sternenhimmel war zu sehen, nur Wolkenschleier, also konnte ich mich wieder schlafen legen. Mit Sternenfotos sollte es nichts werden in dieser Nacht.
Um 5 Uhr morgens wachten mein Bruder und ich beim erklingen des Hany-Weckers auf. Es ist ein komplett anderes Gefühl in den Bergen so früh zu erwachen, als wenn der Wecker klingelt, da man zur Schule gehen muss. Trotz der frühen Uhrzeit und der Kälte, die ins Zelt hineinzog, fiel es uns leicht wach zu werden und uns anzuziehen. Voller Tatendrang krochen wir in der Morgendämmerung aus dem Zelt und als wir erneut mit dem unglaublichen Blick auf den Limmerensee konfrontiert waren, rieben wir uns die Augen, um uns zu vergewissern, dass wir wirklich nicht mehr nur am Träumen waren. Das Morgenessen liessen wir eher knapp ausfallen: Ein Stück Brot bestrichen wir mit Aprikosen Konfitüre und dazu gab es noch etwas lauwarmen Tee aus der Thermosflasche vom Vorabend. Wir wollten so bald als möglich aufbrechen, um bei Sonnenaufgang bereits an einer anderen Stelle auf dem Weg zu sein, die wir auf dem Hinweg entdeckt hatten. So räumten wir zügig unser Zelt zusammen und machten uns für den Aufbruch bereit. Noch ein letztes Mal schauten wir in die Tiefe und wanderten dann los. Direkt vor der Muttseehütte machten wir eine beeindruckende Begegnung: Nur wenige Meter entfernt von uns liess sich ein Steinbock blicken. Etwas weiter hinten erblickten wir sogar einen zweiten. Als wir dann noch einige weiter Höhenmeter zurücklegten und hinter eine Krete Blicken konnten, stellten wir fest, dass es sich um mindestens 10 Stück dieser prachtvollen Tiere handeln musste und sie bewegten sich direkt in unsere Richtung. Friedlich zogen sie an uns vorbei und gaben dabei seltsame Geräusche von sich, die stark an Pfiffe erinnerten. Zuerst hatten wir Glück, den Sonnenuntergang nicht zu verpassen und nun auch noch das. Auf diesem Abenteuer gab es wirklich nichts zu bemängeln.
Kurz nach Überschreiten der Passhöhe war es dann soweit: Die Sonne erhob sich über den Bergkamm und färbte die steinigen Flanken orange. Das Naturspektakel übertraf alle unsere Erwartungen und ich hatte die Gelegenheit, das alles mit meiner Kamera festzuhalten.
Der Weg nach unten ging rasch und es war deutlich spürbar, dass die Rucksäcke leichter waren als beim Aufstieg, da wir das Essen und vor allem auch das Wasser nicht mehr auf den Schultern tragen mussten. Rechtzeitig für die erste Talfahrt erreichten wir das Kalktrittli. Auch auf dem Rückweg hatten wir Glück. Wir begegneten einer freundlichen Lenkerin, die uns unaufgefordert einlud, uns in ihrem Auto mitzunehmen. Am Bahnhof verabschiedeten wir uns von ihr und machten uns auf die Heimreise.
Ein weiteres Mal hat es sich ganz klar gelohnt, nach draussen zu gehen und das Wochenende nicht nur auf dem Sofa zu verbringen und dabei Schulbücher in sich zu verschlingen. Ein Wochenende, das ich in der Natur verbringe, ist jedes Mal mit unvergesslichen Erlebnissen verbunden und auch wenn ich schlussendlich erschöpft zurückkehre, weiss ich, wie wertvoll solche Erinnerungen sind. Erschöpft ist schliesslich auch nur der Körper. Der Geist fühlt sich erholt und gereinigt.
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