Der Zug rauscht weiter und wir stehen mitten in
der Pampa. Station Chaux d’Abel. Als würde man
am Ende der Welt entlassen. Schon auf der Anfahrt
von Basel aus wurde die Landschaft immer
leerer. Ein paar verstreute Einzelhöfe, hie und da ein Dorf.
«Die Freiberge sind Urlandschaft. Der Jura singt hier das
epische Lied der Unendlichkeit. Von einem Weltende zum
andern streichen die niedrigen Kämme, scheinbar ziellos
und endlos in ewiger Wiederholung der Motive», beschreibt
es 1949 der Redakteur Siegfried Streicher treffend
in der Monatszeitschrift DU. Freiberge bezeichnet ein 200
Quadratkilometer grosses Plateau auf rund 1000 Metern
Höhe zwischen dem Doubstal und dem Vallon de Saint-
Imier. Mit seiner Weite ist es wie geschaffen für ausgedehnte
Schneeschuhtouren. Südöstlich wird das Plateau
von der Montagne du Droit begrenzt, einem Höhenrücken,
der nordöstlich im 1268 Meter hohen Mont Crosin und
südwestlich im 1289 Meter hohen Mont Soleil kulminiert.
Seit 2001 zählt er zum Naturpark Chasseral. Ein einmaliger
Aussichtsbalkon, per Standseilbahn vom Uhrenstädtchen
Saint-Imier aus auch ohne Anstrengung erreichbar. Wir
aber wollen ihn über seine gemächliche Nordwestseite
erklimmen. An der unscheinbaren Bahnstation ziehen wir
unsere Schneeschuhe an und stapfen ostwärts, auf eine
Anhöhe zu, auf der ein einsames Haus thront. Das Hôtel
de la Chaux d’Abel vermittelt Belle-Époque-Atmosphäre.
Nochmal mehr, betritt man den Salon: Feuer prasselt im
Kamin, daneben ein rustikaler Holztisch, auf dem die
Tageszeitungen
ausliegen, Ohrensessel, in die man sich
fallen lassen möchte. Über dem Eingang hält eine Zahl
das Baujahr fest: 1857. 1910 wurde das Anwesen zum
Kurhotel umgebaut.
FREIE BERGE, FROMME QUERKÖPFE
Wenn Dackel Popeye auftaucht, ist Gabriela Haas nicht
weit. Seit 2012 ist sie die Hausbesitzerin. Sozusagen aus
Basel in die Freiberge emigriert. Für sie ein Glücksfall,
doch liegen da durchaus historische Wurzeln. Über Jahrhunderte
gehörte die Region dem Fürstbistum Basel. Um
einen Anreiz zur Besiedlung der Einöde zu geben, setzte
der Bischof von Basel am 17. November 1384 einen Freibrief
auf, darin er jedem Bewohner und Kolonisten
die
Befreiung von jeglichen Steuern versprach. Deshalb
also Freiberge. Am Wiener Kongress 1815 wurde das Land
dem Kanton Bern zugesprochen. Bis sich 1977 der Kanton
Jura, als jüngster und dünnbesiedeltster Kanton der
Schweiz, herausbildete. Amtssprache Französisch, demzufolge
heissen die Freiberge Franches Montagnes.
Nichtsdestotrotz, mal wird Französisch, mal Deutsch
gesprochen, oder auch beides. Der Südostrand des
Plateaus, wo sich der Hügelwall des Mont Soleil, des
Sonnenbergs aufschwingt, gehört immer noch zum
Kanton
Bern. Gabriela Haas deutet auf die Landstrasse,
gerade auf der anderen Seite ziehe die Grenze durch.
Die quirlige Baslerin entschuldigt sich. Der Schnee liegt
etwas mager. Normalerweise türmen sich im Februar
wahre Schneemassen. Doch der Klimawandel schlage
auch hier zu. Die Loipe, auf der sie täglich ihre Runde
drehe, sei schon gesperrt. Mit Schneeschuhen geht es
auch auf dünner Schicht, wir haben es gerade getestet.
Auf dem Mont Soleil sei die Lage noch bestens, sagt sie.
Das gibt Hoffnung. Sie quartiert uns in einem Zimmer
mit verglaster Veranda ein. Weit kann der Blick über die
stille Juralandschaft schweifen.
Beim Frühstücksbuffet schmeckt uns der Käse so gut,
das wir nachfragen. Die Käserei von Kurt Zimmermann
liege nur einen Katzensprung entfernt, sagt Gabriela
Haas und erklärt uns den Weg. So machen wir einen
kleinen Schwenk, bevor wir den Mont Soleil besteigen.
Guter Käse lockt uns immer und ist kraftspendende
Wegzehrung für eine Tour. Eine Häuserreihe an verlassener
Strasse taucht auf. Milchkannen verraten das richtige
Haus. Rezenter Duft schlägt uns schon im Entrée entgegen.
Im Keller die Schatzkammer, wo radgrosse Laibe
reifen, Gruyère und Chaux d’Abel. Die kleineren heissen
Tête de Moine, Mönchskopf, oder Tatouillard, Schneeflocke
– jurassische Käsespezialitäten. «Die wilden
Käser haben sie uns genannt», lacht Pascal, der Juniorchef,
«weil wir nicht bei der Schweizerischen Käseunion
mitmachten. Ein Kuhhandel. Nur zwei, drei Käse zum
Eigenbedarf durften behalten werden. «Bei Mehrbedarf
hätten wir unseren eigenen Käse teuer zurückkaufen
müssen.» Wie häufig im Jura gehört auch Pascals Familie
zu den Mennoniten, den Wiedertäufern oder Anabaptisten.
Eine Gruppe, die sich im 16. Jahrhundert von den
Reformisten separierte. Unter anderem, weil man die
Kindertaufe und jegliche Gewalt, also den Militärdienst
ablehnte. Über Jahrhunderte gejagt, gefoltert oder
gehängt, musste die Religionsausübung im Untergrund
stattfinden, Gottesdienste heimlich im Wald oder in
Privathäusern abgehalten werden. Viele fanden Zuflucht
in abgelegenen, einsamen Gebieten. Auf den Jurahöhen,
versprach dazumal der Bischof von Basel, könne er den
Mennoniten Sicherheit garantieren. Über 30 Jahre
wurde
auch das Hôtel de la Chaux d’Abel von Mennoniten
geführt. Den Rucksack um ein Kilo schwerer stapfen
wir in die Höhe.
TURBULENT UND TIEFGEFROREN
Am Mont Soleil erleben wir Winterzauber, auch wenn
wenig Schnee liegt. Zur klirrenden Kälte gesellt sich der
Windchill hinzu. Mächtige Nadelbäume, die wie Kathedralen
in den Himmel ragen, zeigen sich eisverkrustet.
Ein Märchenwald in Puderzucker. Man kann sich nicht
sattsehen. Aber die Kälte zehrt, dringt in jede Ritze. Die
Klamotten am Körper knarren und knirschen bei jeder
Bewegung, wie ein Zombie. Und so klingen auch die Windräder,
die sich auf dem Höhenzug der Montagne du Droit
verteilen. Furchteinflössend. Wenn uns bloss kein Eisfall
von den mächtigen Rotorrädern trifft! Wir halten gebührenden
Abstand.
«Jene Landesherren, die im 14. Jahrhundert die Einwanderung
gefördert hatten, mussten im 17. Jahrhundert Befehl zur Einstellung der Rodungen erteilen,
hatten sich doch bereits die Nachteile übertriebener
Entwaldung gezeigt», schreibt Heinrich Gutersohn 1950
in der Geographica Helvetica. «Eine unerwünschte
Folge besteht darin, dass die rauhen Höhenwinde durch
die offeneren Gelände streichen können», stellte der
Geograph und Professor an der ETH Zürich fest. Noch
war die Zeit nicht reif, das Potenzial des Windes zu
erkennen und zur Energiegewinnung zu nutzen. Eine
Vorreiterrolle nimmt die 1996 gegründete Firma Juvent SA
ein, die mit drei Windrädern am Mont Crosin startete.
Heute bildet der Windpark mit 16 Anlagen den grössten
der Schweiz. Der Strom von jährlich rund 70 Millionen
Kilowattstunden versorgt an die 21’000 Haushalte. Aber
auch der Sonne nahm man sich hier an: So sammelt die
Photovoltaikanlage am Sonnenberg – nomen est omen –
Energie für 120 Haushalte. Ein Energielehrpfad der Krete
entlang verbindet beide Berge. Wir schwenken immer
wieder weit ins Gelände aus, das wie eine Parklandschaft
wirkt: Die pâturages boisés, die sogenannten
Wytweiden mit ihren Solitärtannen, sind einmalig und
nur im Jura zu finden. Endlose Trockensteinmauern
fädeln sich zwischen ihnen hindurch.
Auf einsamer Flur südwestlich des Mont Soleil liegt
die Auberge Chez L’Assesseur. Als wir eintreten, sieht
man uns die Kälte wohl sofort an. «Ein bière chaude
wäre jetzt genau das Richtige für euch», schmunzelt die
Bedienung. Glühwein war uns ein Begriff, doch heisses
Bier? Wir lassen uns gerne überraschen. Apfelstücke
schwimmen in dem Heissgetränk, das nach Zimt duftet
und einfach göttlich schmeckt. Adrian von Weissenfluh
adaptierte die Erfindung von einer Appenzeller Brauerei,
auf deren Bier er schwört. Auch sonst scheint der sympathische
Wirt ein Händchen für das Besondere zu haben.
Im Hof lässt er abends kleine Feuer flackern, die den
Henkersbaum in ein geisterhaftes Licht tauchen. Könnte
dieser Baum erzählen, würde er vom Assesseur berichten,
einem Gerichtsbeisitzer, der hier im 18. Jahrhundert
lebte. Die Bauern bezahlten ihn mit Lebensmitteln. Doch
was tat der Herr mit all dem Essbaren? Es entstand ein
Gastbetrieb. Und dann soll es auch noch spuken. Mitunter
öffne oder schliesse sich eine Tür wie von Geisterhand,
gehe ein Licht an, höre man Schritte, wenn niemand im
Haus sei. Kein Wunder, dass Pächter öfter wechselten
und das Haus immer mal wieder eine ganze Weile leer
stand. Bis Chesery, ein Gastro-Antiquitätenunternehmen
aus Murten, das Anwesen 2013 kaufte. Dementsprechend
nostalgisch sind die Räumlichkeiten eingerichtet. Man
fühlt sich Jahrhunderte zurückversetzt. Wir speisen köstlich:
knusprige Rösti auf dem ein Tomme, ein Frischkäse,
zerfliesst, dazu Areilles rouges, Preiselbeeren. Für die
Meringues muss auch noch Platz bleiben. Der Renner des
Hauses, mit Crème double und einem Schuss Kirsch.
Das schreit nach einer ausgiebigen Schneeschuhtour anderntags.
Ein jungfräulicher Morgen lässt den Chasseral
erstrahlen, den man vom Hof so prächtig sieht. Pferde
tollen im Schnee – auch eine Pferdezucht gehört zum
Chez L’Assesseur. «Ja, wo Rosse wild weiden, entsteht
Urlandschaft, Urwelt und Schöpfung. Darum gehören
sie zu den Freibergen wie diese zum Jura.» Wir schliessen
uns Siegfried Streichers «Lob der Freiberge» an.
Winterliche Weite: Rund 200 Quadratkilometer umfasst das Plateau.
INFOS
Anfahrt Stündlich Zugverbindung von Basel nach Saignelégier. Mit dem Auto etwa 80 km von Basel über Delémont nach Saignelégier.
Schneeschuhtouren
Die Freiberge eignen sich hervorragend für Schneeschuhtouren. Entweder auf eigene Faust oder auf ausgeschilderten Routen. Ein praktisches Faltblatt mit Übersichtskarte liegt in den Tourismusbüros vor Ort aus. Hier eine kleine Zeitorientierung zur vorgestellten Route, es kommt natürlich immer darauf an, welche Spur man sich legt: Chaux d'Abel – Mont Soleil 1,5 Stunden, Mont Soleil – Mont Crosin 2 Stunden. Zwischen der Auberge Chez L'Assesseur und dem Mont Crosin gibt es eine ausgeschilderte Schneeschuhroute, auch zwischen Mont Crosin und Les Breuleux.
Karte
Swisstopo 1:50 000, Blatt 232 T, Vallon de St-Imier.
Unterkünfte
Hôtel de la Chaux-d'Abel bei La Ferrière, Tel. 032 961 11 52, www.hotellachauxdabel.ch.
Ab einer Übernachtung bekommt man im Hôtel de la Chaux-d'Abel den Jura-Pass, der zur kostenlosen Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel innerhalb des Tarifverbundes berechtigt.
Auberge Chez L'Assesseur auf dem Mont Soleil, Tel. 032 941 23 60, www.montsoleil.ch.
Grüner Strom
Mehr zur Energiegewinnung am Mont Soleil: www.societe-mont-soleil.ch; www.juvent.ch.
Es werden auch Führungen angeboten.
Tourismusbüros
Jura Tourisme Saignelégier, Tel. 032 420 47 70; Verkehrsverein Berner Jura in St. Imier, Tel. 032 942 39 42, www.juratourisme.ch.
Literatur
Das Ketzerweib, Werner Ryser, Cosmos Verlag. Spannender Roman über das Schicksal von Täufern. Die Geschichte spielt im Emmental und Jura.
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