Roger Schäli: «Ich entscheide spontan, welche Linie ich hochklettere.»
Über das Nordwestwand-Couloir und den Nordgrat auf den Piz Güglia, Erstbesteigung im Rope-Solo (WI5+, M5+)
Gut gelaunt am Eis: Roger Schäli beim Winter-Fotoshooting (Foto: Tom Malecha für Bächli Bergsport)
Roger Schäli: «Das Routenentdecken steckt in mir drin. Für mich ist es ein Geschenk,
die Berge wie durch die Augen eines Kindes zu sehen – als
eine riesige Spielwiese mit unendlich vielen Möglichkeiten. Wenn
ich in einen Klettergarten gehe, welchen ich nicht oder kaum kenne,
klettere ich immer wieder mal gerne ohne Kletterführer. Ich
lasse mich einfach von den Linien, welche mir gefallen, einladen
und inspirieren. Ich liebe es auch, die Schwierigkeiten vorher
selber zu schätzen.
Genauso bin ich im vergangenen Winter am
Piz Güglia vorgegangen, einem Aussichtsgipfel im Engadin, der in
seiner alleinstehenden Form an das Matterhorn erinnert. Die Region
rund um den Julierpass ist bei Skitourengehern beliebt. Auf einer Tour habe ich eine Route in der Nordwestwand entdeckt und
dachte mir: Warum eigentlich nicht? Meine Wunschroute (600 m, 5
SL, IV, WI5+, M5+) liegt abgewandt von der Zivilisation, mit einem
grossartigen Blick auf die Engadiner Bergwelt.
Der vergangene
Winter war besonders – lange Zeit lag nur wenig Schnee. Deshalb
habe ich den Versuch am Piz Güglia hinausgezögert. Als die Bedingungen
schliesslich gepasst haben, hatte keiner meiner Kollegen
Zeit, mich zu begleiten. Also bin ich allein gegangen. Zweimal bin
ich aufgestiegen, um die Bedingungen und die Route zu prüfen, und
beim dritten Mal stand ich dann auf dem Gipfel. Wegen des vielen
Schnees waren die Säulen, an denen ich geklettert bin, dünn und mit Schnee und Luft gefüllt, sodass ich keine soliden Eisschrauben
setzen konnte. Beim Aufstieg hatte ich zudem mit Lockerschneelawinen
und Spindrift zu kämpfen. Für die Tour braucht man viel
Erfahrung in der Absicherung.
In seinem Element: Roger Schäli beim Eisklettern (Foto: Tom Malecha für Bächli Bergsport)
Ich bin die Route als Rope-Solo gegangen und habe dabei mein
GriGri zur Sicherung benutzt. Zusätzlich habe ich einen Rücksicherungsknoten
gesetzt, damit das Seil nicht durchrutscht. Ähnlich wie
beim Alpinklettern geht man beim Eisklettern selten ans Limit – es
ist wichtig, immer eine Reserve zu haben, vor allem, wenn man allein
unterwegs ist. Die Route hat fünf relativ schwere Seillängen, danach
klettert man im klassischen Nordwandgelände im dritten und
vierten Grad, welches ich ungesichert geklettert bin. Ich bin zwar
kein Solokletterer, aber manchmal ist es schön, ganz allein unterwegs
zu sein. Allein am Berg fühlt man sich ganz klein, und das hat
seinen eigenen Reiz. Da muss die Tour auch nicht besonders wild
sein. Ich habe auf der Route in den fünf Seillängen keine Bohrhaken,
sondern nur Stände mit Normalhaken gesetzt.
Ein Bergführer mit einem
fitten Gast könnte sie sicher gut gehen – zum Beispiel als Testtour
für die Eigernordwand. Ideal ist die Tour ab Februar oder März,
wenn die Tage länger sind und die Lawinengefahr oft abnimmt. Als
Vorsteigender sollte man schon besser klettern als Schwierigkeitsgrad
5+, weil der Zeitaufwand gross ist und immer ein Restrisiko
bleibt. Ich bin vom Gipfel wieder über die Route abgeklettert. Wenn
man sich damit nicht wohlfühlen sollte, gibt es auch die Möglichkeit,
die Schneeschuhe über die Tour mit auf den Gipfel zu nehmen und
über den Sommerweg wieder zurück zum Julierpass zu gelangen.
Das Mixed- und Eisklettern hat sich in den vergangenen 40
Jahren stark weiterentwickelt. Vor allem das Drytooling hat dem
Sport einen neuen Schub gegeben. Doch am Ende konzentrieren
sich die Eiskletterer auf wenige Hotspots in den Dolomiten, Chamonix
und Kandersteg. Mich faszinieren klassische Winterbesteigungen
wie am Piz Güglia – eine Mischung aus Mixedklettern und
Bergsteigen, bei denen man klassische Linien im Winter hochgeht,
wie es früher während der Hochphase der Nordwand-Besteigungen
in den Alpen gemacht wurde. So entdeckt man die Berge noch
wie vor 100 Jahren.»
Gespür für Eis: Beim Skitourengehen
entdeckte Schäli eine machbare Linie in der
Nordwestwand – und wartete dann geduldig
auf gute Bedingungen.
Rogers Tipp für Einsteiger: Pontresina-Schlucht
Die Eisformationen in der Pontresina-Schlucht entstehen sowohl
natürlich als auch durch künstliche Bewässerung, was
eine zuverlässige Eisbildung ermöglicht. Die örtlichen Bergführer
überwachen den Aufbau des Eises, garantieren stabile
Verhältnisse und beseitigen, wo immer möglich, potenzielle
Gefahrenstellen. Dennoch erfolgt das Klettern auf eigene
Gefahr. Mit etwa 40 Meter hohen Eiswänden, die oft nur eine
Seillänge lang sind, ist die Schlucht perfekt für Einsteiger geeignet.
Doch auch Fortgeschrittene finden hier anspruchsvolle
Routen.
Ein besonderes Highlight ist der beleuchtete Sektor:
Von Mitte Dezember bis Mitte März kann man hier täglich bis
21.00 Uhr auch im Dunkeln klettern. Dank zahlreicher Routen
sowohl im unteren als auch im oberen Bereich verteilt sich
das Kletterpublikum gut. Cafés und Restaurants in der Nähe
bieten die Möglichkeit, sich in Pausen aufzuwärmen. Für Einsteiger
gibt es bei der Bergsteigerschule Pontresina Einführungs-,
Technik- und private Kletterkurse. Nach Schneefällen
wird der Schnee aus Gefahrenstellen beseitigt. Parkmöglichkeiten
finden sich auf den Parkplätzen Gitölia oder in den
Parkhäusern Mulin und Rondo. Topos und weitere Informationen
sind auf der Website von govertical.ch verfügbar.
Rogers Tipp für Fortgeschrittene: Breitwangflue in Kandersteg
Die Breitwangflue in Kandersteg gilt europaweit als Mekka für
Eiskletterer. Sie bietet ein beeindruckendes Spektrum an Routen
im Eis- und Mixedklettern. Bekannt ist die Wand für ihre
Klassiker «Crack Baby» (WI5+, 340 Meter) und «Flying Circus»
(M10, E4, 165 Meter), die erste M10-Route Europas, 1998 erstbegangen
von Robert und Daniela Jasper, «Betablocker Super»
(WI7, 300 Meter) oder «Ritter der Kokosnuss» (M12, WI5, 165
Meter). Das Gelände ist herausfordernd: Die Wände sind teilweise
senkrecht oder überhängend, was die Touren äusserst
anspruchsvoll macht. Doch auch die Bedingungen vor Ort erfordern
besondere Vorsicht. Es kann zu Plattenlösungen kommen,
was die Sicherung erschwert. Besonders bei den ersten Begehungen
in der Saison sollte man sehr achtsam sein.
Wer an der
Breitwangflue klettert, sollte sich mehrere Tage Zeit nehmen,
um einen Überblick zu bekommen und einen guten Zeitpunkt zu
finden, um in seine Wunschroute einzusteigen. Der Zustieg mit
900 Metern erfolgt zu Fuss und dauert je nach Spurenlage zwischen
eineinhalb und zweieinhalb Stunden. Es ist ratsam, die
Touren unter der Woche zu planen, um den grössten Andrang
zu vermeiden. Frühzeitiges Aufbrechen ist unerlässlich, um genügend
Zeit für die Begehung zu haben. Beste Zeit für die Wand
ist zwischen Dezember und Februar, je nach Bedingungen.
Jonas Schild: «Ich bin froh, wenn ich zwei gute Wochen im Eis erwische.»
«OeschiMixTrix» (3 SL,
100 m, M6/7), Eröffnung
und Erstbegehung
Alpinist Jonas Schild schloss 2020 auch die Ausbildung zum Bergführer ab (Foto: Nicolas Hojac)
Jonas Schild: «Mein letztes Mixed-Kletterprojekt habe ich vor zwei Wintern, im
Januar 2022, realisiert. Oberhalb des Oeschinensees in Kandersteg
– im Sommer ein beliebter Instagram-Hotspot – habe ich gemeinsam
mit meinem Kletterpartner Stephan Siegrist eine neue
Route erschlossen. Sie befindet sich rechts von der bekannten
Route «Januarloch» im Sektor Oeschinensee. Die Route besteht
aus drei Seillängen, jede zwischen 30 und 40 Meter lang. Je Seillänge
haben wir zwei Bohrhaken und Stände gesetzt, ansonsten
ist es ein reines Selbstsicherungsprojekt. Für mich war die Kletterei
äusserst lohnend, und die Route wurde bereits von einem
befreundeten Kletterer aus Frankreich wiederholt.
Die Route, die wir «OeschiMixTrix» getauft haben, liegt inmitten
einer beeindruckenden Winterlandschaft. Der See ist
zugefroren und schneebedeckt, dahinter steigen die Felswände
empor, an denen sich Eis gebildet hat. Von der Route aus hat
man einen fantastischen Blick bis nach Kandersteg. Sie verläuft
durch eine überhängende Verschneidung, von der nur vereinzelte
Eisformationen hängen. Entdeckt habe ich die Linie, als ich ein
paar Tage zuvor eine andere Tour geklettert bin. Für mich sind
Erstbegehungen besonders spannend, weil man ins Unbekannte
aufbricht, ohne zu wissen, was einen erwartet. Der ganze Prozess fasziniert mich: ein Ziel zu finden, die Logistik zu
planen und dann ein unbekanntes Gelände zu erkunden
– und eine Route zu klettern, die zuvor
noch niemand gegangen ist.
Bei Eis- und Mixedrouten kommt hinzu, dass
man nie weiss, wie sie sich entwickeln. Es ist ungewiss,
ob im nächsten Winter an derselben Stelle
wieder Eis hängen wird. Diese filigranen Eislinien verändern
sich je nach Wasserfluss, und genau das finde ich spannend: an
etwas zu klettern, das so vergänglich ist, das nur für kurze Zeit
im Winter besteht und jedes Jahr anders aussieht.
Gefrorene Schönheiten wie diese werden immer seltener in der Schweiz (Foto: Nicolas Hojac)
Allerdings muss ich zugeben, dass meine Motivation fürs
Eisklettern nachgelassen hat. Nicht, weil ich es nicht mehr gerne
mache, sondern weil die Bedingungen zunehmend schwieriger
und die Risiken dadurch grösser geworden sind. Diese Entwicklung
beobachte ich seit Jahren: Früher ging die Eisklettersaison
von Dezember bis März, heute bin ich froh, wenn ich zwei gute
Wochen erwische. Letzten Winter bin ich wahrscheinlich nur
50 Meter im Eis geklettert, da die Bedingungen in den Alpen
einfach nicht stimmten. Ich denke, die Zukunft des Eiskletterns
liegt vor allem in Nordamerika, wo es deutlich kälter ist als in
den Alpen oder in Norwegen.
Meine jüngste Expedition im Herbst dieses Jahres führte
meine Kletterkollegen und mich wieder an die Südwand des 6543
Meter hohen Mt. Shivling im Garhwal-Himalaya in Indien. Es war
unser dritter Versuch, die Südwand zu klettern, aber auch diesmal
scheiterten wir. Dafür gelang uns als Plan B die Erstbegehung
des Südwestgrats am Bhagirathi III (6454 m) – ein schöner
Abschluss der Expedition.»
Selten so gut in Schuss:
die Linie von «OeschiMixTrix» am
namensgebenden Oeschinensee
Jonas' Tipp für Einsteiger: Engstligenalp (Adelboden)
Die Engstligenalp in Adelboden ist ein hervorragendes
Ziel für Eiskletter-Anfänger. Auf 2000 Metern Höhe befindet
sich eine künstlich bewässerte Eiskletterarena
mit 23 Routen zwischen zehn und 30 Metern Länge
samt Top-Rope-Möglichkeiten. Der Eispark liegt direkt
unterhalb der Bergstation der Engstligenalp-Bahnen,
und der Eintritt kostet zehn Franken pro Tag. Die Alpinschule
Adelboden bietet von Mitte Dezember bis
Anfang April Eiskletterkurse sowie geführte Touren
an. Neben der Arena gibt es auf der Engstligenalp
auch natürliche Eiskletterrouten, die nicht überwacht
werden. Der «Kleine Fall» ist eine Natureisroute mit
je nach Eisbildung bis zu sechs Seillängen (WI3, 160-
220 m), die sich auch mit der Stoller-Route zu einer
ganztägigen Tour verbinden lässt.
Die Route «Magic
Mushrooms» ist eine anspruchsvolle, gemischte
Tour mit hohem Schwierigkeitsgrad (III M9, 120 m +
60 m), bei der im unteren Teil je nach Eisbildung entweder
im Fels oder Eis geklettert wird. Besonders
das frei hängende Eis am Ende der Route macht
diese Tour zu einem unvergesslichen Erlebnis. Der
«Untere Engstligenfall» bietet eine Route mit moderater
Schwierigkeit (WI5, 150 m), die bei ausreichender
Kälte eine traumhafte Eislandschaft bietet,
vergleichbar mit dem Klettern auf einem Gletscher.
Weitere Routen sind die Salto Mortale 2000 (III WI4,
200 m ) und die Undärdä Chatzächerä (III M7, 110 m).
Infos unter engstligenalp.ch
Jonas' Tipp für Fortgeschrittene: Der Thron (Averstal)
Der Thron im Averstal in Graubünden zählt zu den
spektakulärsten Eisfällen der Schweiz und stellt
eine besondere Herausforderung für fortgeschrittene
Eiskletterer dar. Er befindet sich zwischen den
Orten Innerferrera und Campsut in einer Höhe von
1720 Metern. Die Route (240 m, 6 SL, WI5+) bietet
durchgehend steiles Eis zwischen 70° und 90° und
weist besonders im oberen Abschnitt mehrere vertikale
Passagen auf. Besonders die wechselnden
Eisbedingungen machen ihn zu einer echten Herausforderung.
Die Absicherung erfolgt komplett durch
eigenes Material, abgesehen vom ersten und letzten
Standplatz. Deshalb sind entsprechende Erfahrung
und die richtige Ausrüstung entscheidend: Empfohlen
werden ein 50-Meter-Doppelseil, sechs bis acht
Expressschlingen, etwa zehn Eisschrauben, Eisgeräte,
Steileis-Steigeisen, Material für Eissanduhren
sowie ein Helm.
Der Zustieg dauert etwa 20 Minuten.
Der Abstieg erfolgt durch Abseilen an Eissanduhren
entlang der Route. Die ideale Kletterzeit liegt
zwischen Dezember und Februar. Nach frischem
Schneefall besteht oberhalb des Wasserfalls Lawinengefahr,
und ab Mitte Februar kann die Sonne im
oberen Abschnitt zu gefährlichem Schmelzen führen.
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