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Dem Mythos auf der Spur

Christian Penning, Donnerstag, 09. März 2023

Von der stark frequentierten Nordseite auf die einsame Südseite der Bernina: eine anspruchsvolle Ski-Durchquerung, mit dem Schicksalsberg Piz Roseg als Krönung.

Piz Roseg. 3937 Meter hoch. Markanter, frei stehen­ der Berg über dem Val Roseg in der Berninagruppe. Sachlich, einfach, knapp: So beschreibt Wikipedia diesen Gipfel. Emotionslos. Ein Berg von vielen. Aber der Roseg ist auch einer, um den sich grosse Geschichten ranken, Gefühle, Wünsche, Dramen. Sie machen aus blossen Fels­ und Eismassen eine imposante Festung, ja einen Schicksalsberg mit bisweilen fataler Anziehungs­ kraft. Heini Holzer, die Legende des Steilwandskifahrens, ist ihr erlegen – und hat dafür mit seinem Leben bezahlt.

Schon seit Jahren spukt der Piz Roseg durch meinen Kopf. Nicht als sommerliche Hochtour auf den Fast­-Viertausender – sondern als Skitour. Doch so oft ich auch an ihn dachte, er blieb für mich ein Mythos. Eher ein vages «Könnte» als ein konkretes Ziel – bis zu jenem Abend Mitte April, als mein Telefon läutete. «Also, unsere Bernina­ Tour klappt», meldete sich mein Tourenfreund Jürg. Wir tauschten ein paar organisatorische Banalitäten aus. Kurz bevor ich auflegte, meinte Jürg wie beiläufig: «Dann können wir ja den Piz Roseg noch mitmachen.»

Wenige Tage später. Ankunft in Sils. Die Luft riecht feucht und mild, wie nach einem Sommerregen, der auf warmen Boden fällt. Ob das die richtigen Bedingungen für ein sol­ ches Vorhaben sind? Immerhin, die Wettervorhersage ist gut. Und der Piz Roseg ist im Grunde nur eine Option auf der dreitägigen Bernina-Runde, die uns vom Corvatsch auf die Gipfel südlich davon führen soll, zur Chamanna Coaz und weiter über eine Scharte am Piz Sella auf die italienische Südseite der Berninagruppe.

 

Trauriger Mythos - die Roseg-Nordostwand

Jürg ist hochmotiviert, als wir am nächsten Morgen mit der ersten Bahn die Corvatsch­Bergstation erreichen. Kaum haben wir die ersten Schwünge in die dünne Neuschneeauflage gezogen, blitzen erste Sonnenstrahlen durch die Wolken. Ein seilversicherter Abstieg führt über einen steilen Felsriegel zum Vadret dal Murtèl. Ge­ genüber umspielen dampfende Quellwolken den Piz Aguagliouls und den Piz Roseg. «Da ist er!», deutet Jürg hinüber. Der Berg, der zum Mittelpunkt und Highlight unserer dreitägigen Bernina­Durchquerung werden soll. Nein, Heini Holzers Schicksalslinie durch die Nordost­ wand ist für uns tabu. Es ist ohnehin noch zu früh im Jahr. Vermutlich noch zu viel Blankeis. «Solche Wände sind nicht einfach zu fahren, da muss wirklich alles zusammen­ spielen, sogar die Stunde», hat Heini Holzer mal gesagt. Eine bequeme Sache, wenn einem die Bedingungen die Entscheidung abnehmen. Würde ich es wagen, wenn die Bedingungen passen? Es gibt genügend Gründe, es nicht zu tun. Zu wenig Detailkenntnis von der Wand. Respekt. Schiss. Vorsicht. Vielleicht hänge ich einfach zu sehr am Leben.

Unser Plan soll uns in die Nordflanke führen. Auch die ist nicht ohne. «Oft vereist …», hat Jürg morgens noch aus dem Tourenführer vorgelesen. Doch zumin­ dest heute ist Eis kein Thema. Je tiefer unsere Spur in die Bernina hineinführt, desto mehr wächst die Neu­ schneeauflage. Knietiefer Pulver staubt, als wir vom 3387 Meter hohen Il Chapütschin zur Chamanna Coaz abfahren. Ein Traum! Im Hintergrund hängt wie eine kitschige Fototapete der Piz Roseg mit dem elegant ge­ schwungenen Schneegrat zum Vorgipfel. Ist das nicht schon genug Roseg?

 

Passen die Bedingungen?

Nachmittags auf der Terrasse der Hütte klebt uns der Piz Roseg permanent vor der Nase. Spuren sind noch keine zu sehen. Ist der steile Zustieg über die West­ flanke sicher genug? Jetzt, kurz nach dem Neuschnee? «Wunderschöne kombinierte Tour, wird meistens un­ terschätzt», steht auf gipfelbuch.ch. «Keine klassische Skitour, da grosse Teile des Aufstiegs mit Steigeisen bewältigt werden müssen», heisst es im Tourenführer. Was uns dennoch reizt: Eine durchgängige Abfahrt ist möglich – zumindest, wenn die Verhältnisse passen. Daumen hoch, signalisiert Hüttenwirt Ruedi Schranz. «Dieses Jahr waren schon ein paar Leute oben, die Be­ dingungen sind gut», meint er. 

Ich schlafe unruhig. Liegt es an den Schauergeschichten um den Roseg? Vielleicht ist es auch nur der enge Schlaf­ platz in der vollgepackten Hütte. Endlich, der Wecker piept. Ein stiller Morgen. Ohne Wind. Die Sonne vom Nachmittag und der Frost der Nacht haben den Schnee festgebacken. Doch so fest auch nicht. Immer wieder brechen wir durch die Harschkruste knietief ein. Erst als die bis zu fast 50 Grad steile Rinne zum Zwischenplateau erreicht ist, wird der Schnee kompakter. Mit Steigeisen an den Füssen und Pickel in der Hand gewinnen wir zügig an Höhe.

 

Rausch der Tiefe

Klar, Skitourengehen kann entspannter sein. 1000 oder 1500 Höhenmeter gemütlich plaudernd aufzusteigen und dann genussvoll ins Tal zu schwingen – ich geniesse das. Doch mehr oder weniger regelmässig überkommt mich die Lust. Die Lust, in die Tiefe zu blicken, bei jedem Schwung die Schwerkraft zu spüren, das Gefühl, zwischen jedem Greifen der Kanten ein klein wenig zu fliegen.

Das Zwischenplateau ist erreicht. Kurz durchatmen, zwei Bissen Riegel. Weiter, mit Fellen. Der Schnee ist pulvrig, aber stabil. Unter diesen Bedingungen sind die letzten 400 Höhenmeter ein Klacks. Gut eine Stunde später ist der Mythos Realität. Wir stehen auf der Schneekuppe, dem 3917 Meter hohen Vorgipfel des Piz Roseg. Und das Beste haben wir noch vor uns. Mit einer pulvrigen Schneefahne im Schlepptau zieht Jürg die ersten Schwünge. Los! Weich und fluffig fühlt sich der Schnee im Gipfelhang an, gleichzeitig gut gesetzt. Die perfekte Konsistenz. Zwei gleichmässige Schwunggir­ landen zieren die Flanke. Erst als die Neigung flacher wird, unterbrechen wir tief schnaufend den Pulverrausch, blicken zurück. Seitlich in der Nordostwand blitzen grosse Blankeisfelder. Ein kurzes Schaudern läuft den Rücken hinab. «Ich stürze nicht, dessen bin ich mir sicher», hatte Heini Holzer gesagt, bevor er am 4. Juli 1977 in die Wand einfuhr. Der «Augenblick, wo der Tod zum Leben, die Angst zur Freude wird, der schönste Augenblick der Steilabfahrt», er sollte sich für Holzer ab diesem Tag nicht mehr wiederholen.


Schrecksekunden im Couloir

Respektvoll kontrolliert nimmt Jürg wenig später die Einfahrt ins steile Westcouloir in Angriff. Der Schnee hier ist hart, verharscht. Plötzlich strauchelt Jürg. Ein Ski hat sich gelöst. Die Skibremse greift nicht. Zwanzig Meter vo­ raus schiesst der Ski über eine Geländekante. Entschwin­ det den Blicken. Im Geiste sehe ich ihn Hunderte Höhen­ meter tiefer in einer Gletscherspalte verschwinden, will mir gar nicht ausmalen, wie der Tag nun weitergeht. Jürg zieht sich bereits die Steigeisen an. Abstieg. Währenddessen fahre ich vor an die Kante. Noch ein paar Schwünge. Wo ist bloss der verdammte …? Aufatmen! 100 Höhenmeter tiefer steckt der Ski an einer etwas flacheren Passage wie ein Dart­Pfeil im Schnee. Erst unten auf den flachen Hängen des Vadret da la Sella fällt die Anspannung ab. Der Roseg ist geschafft.

Der Rest des Tages ist Balsam für die strapazierten Ner­ ven. In perfektem Firn erreichen wir südöstlich des Übergangs zwischen Piz Roseg und Piz Sella das Rifugio Marinelli Bombardieri – eine Zeitzeugin alpinistischer Entdeckerzeiten. 1880 als kleine Schutzhütte errichtet, versüsst die heute stattliche Berghütte die Zeit bis zum Nachtessen mit einer der grandiosesten Aussichtsterras­ sen der Alpen.

 

Palü-Südseite - einsam geniessen

Die Berge brennen im Morgenrot, als wir uns am nächs­ ten Tag von Süden dem Bellavista­-Kamm mit dem Piz Palü als markantem Ostpfeiler nähern. Auch wenn man nicht die imposanten Gletscherbrüche auf der Nordseite des Palü quert, ist die Tour eine grandiose Alternative zur oft stark frequentierten Nordroute auf den Palü. Und noch dazu recht einsam, eben weil sie nicht schnell mal an einem Tag zu machen ist. Wir steuern den westlichen Pfeiler des Kamms an, den Piz Zupo (3996 m), einen wei­teren Fast-­Viertausender. Der Felsgrat zu seinem Gipfel ist schneefrei und enorm zerklüftet. Er würde viel Zeit kosten. Zeit, die wir nicht haben, wenn wir die Talabfahrt bei guten und sicheren Firnverhältnissen antreten wollen. Wir seilen ab. Die richtige Entscheidung: Wie auf Samt gleiten die Ski kurz darauf über die Hänge am Vadret da Palü. Völlig einsam. Mal genussvoll, mal steiler kurven wir fast 2000 Höhenmeter hinab zum Lagh’ da Palü. Wie ein Ohrwurm ist das Zischen der Ski über den Firn immer noch im Kopf, als wir für die Rückkehr ins Engadin an der Alp Grüm in den Bernina­Express steigen. Es müssen eben doch nicht immer die ganz wilden Routen sein.

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