Um die heutigen Standards und Anforderungen an ein Klettersteigset zu verstehen, lohnt sich ein kurzer Ausflug in die Vergangenheit. Bis vor einigen Jahren herrschten auf dem Markt zwei Klettersteigsysteme: Modelle mit einer Reibungsplatte und solche mit Bandfalldämpfer. Bei Ersterem verläuft das Seil durch eine Metallplatte, die die Sturzenergie durch Reibung abbaut. «Diese Modelle sind aber vollständig vom Markt verschwunden», sagt Bächli-Produktmanager Matthias Schmid. «Im Vergleich zum Bandfalldämpfer war ihr Ansprechverhalten, also der Zeitpunkt, ab welchem das System im Sturzfall abbremst bzw. auslöst, nämlich nicht ideal.» Die maximale Kraft, die beim Sturz auf den Körper wirkt – der sogenannte Fangstoss –, kann dann sehr gross werden und eine immense Belastung für den Körper darstellen. Darüber hinaus kam es vor rund zehn Jahren zu einer umfangreichen Rückrufaktion der Klettersteigsets mit Reibungsplatten: Die mechanische Alterung, das Verhalten bei Nässe und der Verschleiss hatten die Zuverlässigkeit des ganzen Systems beeinträchtigt.
Norm- und Grenzwerte
Die aktuell geltende Norm (EN 958:2017) erlaubt nur noch Klettersteigsets mit Bandfalldämpfer. Sie verlängern und dämpfen den Bremsweg durch das Aufreissen eines vernähten oder verwobenen Bandmaterials. Mit der neuen Norm hat sich aber auch bei diesen Modellen einiges verändert. Früher wurde der dynamische Falltest einzig mit einer 80 kg schweren Stahlmasse durchgeführt. So brauchte es in der Praxis eine gewisse Kraft, bis die Nähte des Bandfalldämpfers aufrissen und der Bremsweg von 1,2 Metern ausgenutzt werden konnte. «Die Kraft definiert sich über Masse mal Beschleunigung. Eine Person mit nur 40 kg Körpergewicht bräuchte demnach mehr Geschwindigkeit, um den Bandfalldämpfer der alten Norm überhaupt auszulösen», fasst der Bächli-Experte die Problematik zusammen. Für leichte Personen eine nicht nur ungünstige, sondern durch die abrupte Abbremsung und den enormen Fangstoss auf den Körper sogar lebensgefährliche Situation. Seit 2017 wird der Normsturz daher mit 40- und 120-kg-Gewichten durchgeführt, wobei der Fangstoss maximal 3,5 kN (bei 40 kg) bzw. 6 kN (bei 120 kg) betragen darf. Ein Kilonewton (kN) entspricht der Belastung von 100 kg. «Die Belastung ist so ausgelegt, dass ein gesunder Körper keine bleibenden Schäden davonträgt», sagt Matthias Schmid. Zusätzlich wurde die Länge des Bandfalldämpfers auf 2,2 Meter verlängert. Mit der Norm EN 958:2017 ist ausserdem ein Zyklustest zum Standard geworden. «Durch die permanente Be- und Entlastung der elastischen Arme werden die tragenden Bänder auf Dauer geschwächt», so Schmid. Das heutige Testverfahren streckt und entlastet die Lastenarme 50‘000 Mal, was in etwa dem Lebenszyklus eines Klettersteigsets entspricht. Anschliessend müssen die Arme noch eine Mindestfestigkeit von 12 kN aufweisen. Darüber hinaus wird die Belastbarkeit im nassen Zustand geprüft.
Zusammengefasst reduzieren Klettersteigsets der aktuellen Norm die Sturzbelastung, insbesondere bei leichten Personen. Was aber keineswegs heisst, dass ein Sturz am Klettersteig leichtfertig riskiert werden sollte, wie etwa ein Sturz in der Kletterhalle. Ein Klettersteigset ist eine Notfallausrüstung. «Das Klettersteigset ist wie ein Airbag im Auto: Im Notfall soll es Leben retten, aber ein Sturz ist immer mit einer hohen Verletzungsgefahr verbunden», warnt der Produktmanager. Und natürlich ist ein aufgerissener Bandfalldämpfer unwiederbringlich zerstört – das Klettersteigset muss dann ersetzt werden.
Ausstattung und Überprüfung
Der Aufbau eines Klettersteigsets ist stets identisch: Mit einer fixen, kurz abgenähten Bandschlinge wird das Set per Ankerstich im Anseilring des Klettergurts befestigt. Es folgt das Herz des Sets, der Bandfalldämpfer, ehe sich das Set Y-förmig in die beiden Lastenarme verzweigt. Ein Arm verbleibt immer am Drahtseil, während der andere Arm umgehängt wird. Alle bei Bächli Bergsport erhältlichen Klettersteigsets sind mit automatischen Verschlusskarabinern ausgestattet. Welche Karabinergrösse gut in der Hand liegt oder welche Öffnung bevorzugt wird, sollte direkt in einer der Bächli-Filialen ausprobiert werden. «Karabiner mit einer Ballen-Daumen-Öffnung sind für Kinder oder Personen mit kleinen Händen von Vorteil», sagt Schmid. «Wer auf Leichtigkeit setzt, wird auch mit den minimalistischen Karabinern wie beim Edelrid Cable Kit Ultralite 5.0 zufrieden sein.» Bei der Wahl des Gurtes kommt es ebenfalls auf die eigenen Vorlieben an. Zulässig sind alle Gurte der Norm EN 12277. «Ambitionierte Klettersteiggeher bevorzugen die ultraleichten Hochtourengurte: Sie sind im Rucksack kompakt verstaut, wiegen fast nichts und im Klettersteig hat man die volle Bewegungsfreiheit», so Schmid. Einige Hersteller bieten sogar Gurte mit integriertem Klettersteigset an. Hier ist der Bandfalldämpfer bereits in den Beinschlaufen integriert (z. B. Edelrid Jester). Ein feines Feature, das ein Klettersteigset bedienfreundlicher macht, ist ein Drehgelenk zwischen Einbindeschlaufe und Lastarmen. Es verhindert ein Verdrehen der Arme beim Umhängen sehr effektiv.
Klettersteige können sehr kraftraubend sein. Was liegt da näher, als sich mal eben «in die Seile zu hängen», um für einen Moment zu verschnaufen? Doch Achtung: Der untere Grenzwert, ab dem ein Bandfalldämpfer aufzureissen beginnt, liegt bei 1,3 kN, also ca. 130 Kilogramm. Auch Matthias Schmid rät zur Vorsicht: «Setzt sich beispielsweise ein 80 Kilogramm schwerer Mann mit etwas Schwung ins Klettersteigset, wird diese Kraft schnell erreicht», so der Produktmanager. «Und schon bei einer Teilauslösung muss das Set umgehend ersetzt werden.» Besser ist es, sich mit einer separaten Bandschlinge zu fixieren. Manche Klettersteigsets haben sogar eine integrierte Rastschlaufe. Eine normale 60-cm-Bandschlinge, die mittels Ankerstich in den Anseilring des Klettergurtes eingebunden wird, ist aber genauso ausreichend.
Ab wann ein Klettersteigset ausgedient hat, ist in der Gebrauchsanweisung des Herstellers nachzulesen – in der Regel spätestens nach zehn Jahren. «Eine gute Faustregel lautet: Sobald ich ein ungutes Gefühl habe, sollte ich das Set entsorgen», empfiehlt der Bächli-Produktmanager. Generell sollte man das Set vor jedem Einsatz auf Verschleisspuren prüfen, etwa aufgepelztes Material, oder funktionsbeeinträchtigte Karabiner. Auch äussere Umwelteinflüsse wie UV-Strahlung oder Sauerstoff lassen das Material schneller altern. «Am besten lagert man das Set deswegen an einem dunklen, trockenen und kühlen Ort», rät Schmid.
Innovationen und Zubehör
«Mit der steigenden Beliebtheit von Klettersteigen hat sich das Material immens weiterentwickelt», blickt der Bächli-Experte auf die letzten zehn Jahre zurück. Gleichzeitig haben immer mehr Hersteller Zusatzausrüstung oder spezielle Produkte für mehr Sicherheit auf den Markt gebracht. Skylotec bietet beispielsweise ein Set mit einer Stahlseilklemme (Rider 3.0) an, die wie eine automatische Rücklaufsperre funktioniert: «Die mitlaufende Klemme wird ins Drahtseil eingehängt und läuft nach vorne mit. Bei einem Sturz blockiert die Rücklaufsperre und verhindert so, dass der Kletterer bis zur letzten Zwischensicherung zurückfällt», erklärt Skylotec-Category Managerin Anne Leidenfrost: «Dadurch verkürzt sich die Sturzstrecke deutlich und der Fangstoss wird geringer.» In Klettersteigen mit längeren Traversen seien die Modelle durch teils ungewolltes Blockieren nur bedingt empfehlenswert, in anspruchsvollen Klettersteigen mit überhängenden Passagen allerdings von Vorteil, fügt Schmid hinzu. Wer mit Kindern unterwegs ist oder eine ungeübte Person in einer schwierigen Passage nachsichern möchte, für den hat Edelrid ein kluges Sicherungsset entwickelt: Das Via Ferrata Belay Kit besteht aus einer Sicherungsplatte mit automatischer Rücklaufsperre und einem 15 Meter langen Einfachseil. «Der Vorteil ist, dass der Vorsteiger keine besonderen Sicherungstechniken beherrschen muss, etwa HMS-Knoten. Dank Farbcodierung lässt sich das Belay Kit nämlich intuitiv bedienen», erklärt Sebastian Straub von Edelrid. Wichtig sei aber, dass beim Nachsichern das Seil zum Nachsteiger stets straff gespannt bleibt, damit ein Sturz praktisch nicht möglich ist. Neben dem Klettersteigset gehört ein Kletterhelm zur obligatorischen Schutzausrüstung.
Wichtig sind ausserdem Handschuhe: Zum einen, um Verletzungen durch freiliegende Litzen an beschädigten Drahtseilen zu vermeiden, zum anderen verleihen sie guten Grip. Nicht zuletzt sind sie einfach angenehmer: Handschuhe mindern die Blasenbildung, und Metall wird als hervorragender Leiter auch schnell mal kalt. «Hochwertige Modelle sind aus robustem, abriebfestem Leder», so der Bächli-Experte. Fahrradhandschuhe sind wegen ihrer Polsterung in der Handmitte eher störend.
Beim Schuhwerk rät Schmid zu Modellen mit einer festen Sohle: «Sonst wird das Stehen auf den Eisenleitern, Stiften und Trittstufen schnell unangenehm.» Ideal sind Schuhe mit kleinem Absatz, sodass man einen festen Stand auf den Metallsprossen hat (z. B. Scarpa Marmolada Pro HD). Schuhe mit einer profillosen «Climbing Zone» im Zehenbereich sind vor allem praktisch, wenn bei anspruchsvolleren Klettersteigen auch mal am Fels angetreten wird.
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