«Kein Mensch würde es glauben, man hielte mich für einen
Narren.» Was der Geologieprofessor Arnold Escher 1848
aufdeckte, wälzte alle bisherigen Vorstellungen um. Allerdings
erst nach langem Widerstand. Nirgendwo auf der Welt
zeigen sich die Mysterien der Gebirgsbildung so deutlich
wie im Osten der Schweiz, zwischen Churer Vorderrheintal,
Walensee und Linthal, im Grenzgebiet der drei Kantone
St. Gallen, Graubünden und Glarus. Das Calfeisental ist
eines der faszinierendsten Entrées in das Herzstück des
Parks: das Sardonamassiv. Das Postauto hat eine Handvoll
Wanderer am Staudamm des Gigerwaldsees entlassen, wo
es zwischen den Felsen so eng ist, dass nur das Wasser
Platz hat und für das Strässchen in den Talschluss Galerien
geschlagen werden mussten. Auf dem Weg durch die Serie
tropfender Tunnels klettert der Blick immer wieder staunend
die Steilwände hinauf. Merkwürdige Linien zeichnen
die lotrechten Felsfluchten. Aufgeschichtet wie Blätterteig.
Als wäre dem Gebirgsrelief ein schmales Kuchenstück entnommen,
um sein Innenleben studieren zu können.
«Lotrechte Felsfluchten,
aufgeschichtet wie
Blätterteig. Als wäre dem
Berg ein Kuchenstück
entnommen, um sein Innenleben
studieren zu
können.»
«Die Schichtungen, die in den Wänden als Linien oder als
bankförmig hervorstehende Felsplatten erkennbar sind,
kennzeichnen Sedimentgesteine. Überlagern sich mehrere
Schichten, ergibt sich ein ungeheures Zeitarchiv», erklärt
Thomas Buckingham der kleinen Wandergruppe, die sich
mit ihm zu einer dreitägigen Exkursion aufmachen will. Der
Geologe gehört zu einer Mannschaft von GeoGuides, die
im Geopark Sardona Wanderungen mit Tiefblick anbieten.
Anstatt trockener Materie und wissenschaftlichem Kauderwelsch
aus Fachbüchern, die ein Laie kaum kapiert, gibt es
Erdgeschichte zum Anfassen.
Am anderen Ende des Stausees liegt Sankt Martin. Die
Walsersiedlung wirkt wie ein Relikt aus einer längst vergangenen
Zeit. Wettergegerbte Holzhäuser, die Fenster
geschmückt mit roten Geranien, auf einem kleinen Weiher
schnattern Enten miteinander. Im Beinhaus an der geschichtsträchtigen
Kapelle harren die Knochen der letzten
Bewohner, die hier ums Überleben kämpften. Im Winter
drang kein Sonnenstrahl hinunter, Lawinen bedrohten die
Einwohner. Im Jahr 1652 übersiedelten die von einer einst
100 Personen umfassenden Walserkolonie noch verbliebenen
drei Calfeisni ins ganzjährig bewohnte Dorf Vättis,
gelegen an der Einmündung vom Calfeisen- ins Taminatal.
Die Stimmen der verstorbenen Seelen höre man manchmal
noch, verrät André Riehle aus eigener Erfahrung. Für den
Wirt von St. Martin gibt es keinen magischeren Ort. Tatsächlich
aber haben ihn die Steine hierher geführt. Im Flussbett
liegen sie überall verstreut. Graue Brocken mit weissen
Linien, die wie Kunstwerke wirken. Adermineralien, klärt
Buckingham auf. Bruchstellen im Gestein füllten sich mit
reinerem Material, deshalb die weisse Farbe.
EINE LINIE ZUM KOPFZERBRECHEN
Anstatt die Alpstrasse zu wählen, führt Buckingham auf
einem verwunschenen Pfad am linken Ufer der Tamina entlang
zur Alp Sardona. Im Talschluss Kuhgebimmel, Murmelipfeifen,
Sommeridylle. Wer den Hals reckt, sieht, wie durch
die oberste Partie der Felsenarena eine markante Linie
zieht. Scharf und gerade, wie mit einem Lineal gezogen. Sie
trennt älteres von jüngerem Gestein. Eigentlich müsste es
aber doch umgekehrt sein? Ein Rätsel, das Geologen fast
ein Jahrhundert Kopfzerbrechen verursachte. Wie kann
älteres auf jüngerem Gestein liegen? Buckingham holt weit
aus. Bis ins 19. Jahrhundert glaubten die Erdwissenschaftler,
dass Gebirge aus aufgestiegenem Magma bestünden,
welches durch Abkühlung ähnlich schrumpfte wie die Runzeln eines alternden Apfels. Erst mit den Erkenntnissen,
die hier in den Glarner Alpen gemacht wurden, änderte sich
das Weltbild. Der Geopark Sardona ist damit eine Art Urzelle
für das moderne Bild der Alpenentstehung. Wie einen Krimi
erzählt Buckingham den «Zusammenprall» der Kontinente,
wie sich gewaltige, kilometerdicke Gesteinspakete überund
untereinanderschoben, sich stapelten, quetschten,
ineinanderbrachen. Der Laie spricht da gerne von «Alpenfaltung
». Doch korrekt ist das nicht. «Die Alpen sind ein
Deckengebirge, kein Faltengebirge», betont Buckingham.
Dort, wo die Kontinente auseinanderdrifteten, entstanden
Ozeane. Das Gebiet des Geoparks zwischen Rhein, Walensee
und Linth bildete einst den nördlichen Küstenbereich des
Ur-Mittelmeeres Tethys, das vor etwa 200 bis 35 Millionen
Jahren Ur-Afrika von Ur-Europa trennte. Buckingham deutet
auf die weichen Geländeformen der Sardona Alp, Folgen
untermeerischer Ton-, Sand- und Schlammlawinen. Abends
in der Sardonahütte kramt Buckingham selbst gezeichnete
Schaubilder aus seinem Rucksack. Trotz seines fünfjährigen
Geologiestudiums habe er erst durch das Zeichnen die Vorgänge
wirklich kapiert, gesteht Buckingham.
Kurze Rast an der Tschinglen-Wirtschaft.
LOSER SCHUTT UND KNALLIGE BERGBLUMEN
Die Sardonahütte thront auf einem kleinen Podest hoch
über dem Calfeisental. Wasserfälle rauschen hinab, in der
Morgensonne glänzen die Bachläufe wie silberne Adern.
Hüttenwartin Helene Jäger rät von der geplanten Route
über den Sardonagletscher ab. Zu steiles Blankeis, für das
man Steigeisen bräuchte. Kein Problem, Buckingham kennt
eine eisfreie Umgehung zum Segnasboden. Ein Bartgeier
begleitet den Trupp. Scheinbar mühelos schwebt der riesige
Raubvogel durch die Lüfte und nutzt die Thermik, während
den Wanderern der Schweiss rinnt. Der Pfad zur Trinser
Furgga gibt sich anspruchsvoll, eine dünne Pfadspur durch
Felsbänder und losen Schutt. Dahinter öffnet sich ein unberührtes
Tal, durch das der Blick zum Flimserstein gleitet.
Buntes Gestein mit knalligen Blumenpolstern gestaltet die
Landschaft fast unwirklich. Die Erschütterung der Fusstritte
scheucht eine Schneehuhnfamilie auf. Aufgeregt wieseln die
Küken in alle Richtungen, die Mutter hinterher. Jenseits der
Fuorcla Raschaglius gestalten unzählige Bachmäander die
Hochebene des Segnasbodens immer wieder neu.
Aber das Hauptinteresse gilt der magischen Linie, der
sogenannten Glarner Hauptüberschiebung, die der Tektonikarena
Sardona 2008 die Aufnahme in die Unesco-Welterbeliste
einbrachte. Scharf zieht sie sich durch die umliegenden
Gipfel von Piz Dolf, Piz Sardona und Piz Segnas bis zu den
Tschingelhörnern: Hier ist der Hotspot, aus dem sich
der Geopark entwickelte. Über der Linie liegt als oberste
Schicht 250 bis 300 Millionen Jahre altes Verrucano-Gestein, erklärt Buckingham, unter der Linie weitaus jüngeres,
35 bis 50 Millionen Jahre altes Flysch-Gestein. Die Linie
selbst besteht aus Lochsitenkalk, der als Schmiermittel bei
der Deckenüberschiebung diente. Ähnlich wie Buckingham
muss es Hans Conrad Escher von der Linth gegangen sein.
Der Universalgelehrte zeichnete 1812 das Phänomen an den
Tschingelhörnern, um es besser zu verstehen. Doch erst
sein Sohn Arnold Escher, Professor für Geologie in Zürich,
kam zu dem Schluss einer «colossalen Überschiebung».
Nach den damaligen Erkenntnissen hätte ihm kein Mensch
geglaubt. So erfand dieser die Doppelfalten-Therorie, die
einflussreiche Geologen wie Albert Heim übernahmen. Anno
1884 stellte der Franzose Marcel Bertrand die Interpretation
wieder auf den Kopf und sprach von einer nur einzig möglichen
Deckenüberschiebung. Nach langem Hin und Her setzte
sich Anfang des 20. Jahrhunderts die Deckentheorie durch.
«Wie kann älteres
über jüngerem Gestein
liegen? Ein Rätsel,
das Geologen fast ein
Jahrhundert Kopfzerbrechen
bereitete.»
VOLKSGLAUBE TRIFFT WISSENSCHAFT
Im Kamm der Tschingelhörner gähnt ein gewaltiges
Felsentor: das Martinsloch. Entstanden ist es durch einen
Hebungsbruch in einer weichen Schieferschicht, so lautet
die nüchterne Wissenschaftserklärung. Die volksnähere
Variante erzählt, der Heilige Martin habe das Loch geschlagen,
als er seinen eisenbeschlagenen Hirtenstab
nach einem Schafsdieb schleuderte. Wie dem auch sei:
Die Einwohner von Elm im westseitigen Talgrund nutzten
den Durchguck als Sonnenuhr. Zweimal im Jahr erleuchtet
die Sonne durch das Martinsloch die Dorfkirche. «Aber
auch die sieben Gasthäuser von Elm sind so platziert, dass
sie zweimal jährlich in den Genuss der Martinsstrahlen
kommen», sagt Buckingham. Mit Blick auf das Naturdenkmal
klettert der Pfad zum Segnaspass hinauf. In das Grau
der Felsen schmiegt sich dort die Mountain Lodge, eine
Militärbaracke, die 2007 zur Wanderherberge umgebaut
wurde. Trotz spartanischer Einrichtung zaubert Hüttenwartin
Sabine Busslehner ein köstliches Abendessen. Die
gelernte Computerfachfrau gönnt sich gerade eine Auszeit,
wie sie es nennt: händisches Werken statt kopflastiger Job.
Die Abgeschiedenheit lasse einen wieder zu sich selbst
kommen, und, so fügt sie in ihrer ansteckend fröhlichen
und entspannten Art hinzu: Zeit bekomme hier eine andere
Bedeutung. Das passt, hier in diesem Zeitarchiv. Und jetzt,
während die Schatten langsam die Talfalten füllen und das
Martinsloch als mystische Lichtellipse über die Felsen tanzt,
würde jeder den morgigen Abstieg aus dem Zeitarchiv gerne
hinauszögern.
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