Sanft knirschen die Schneeschuhe unter unseren Füssen und graben sich leicht in den angeharsteten Schnee. Unsere drei Spuren ziehen sich wie die Heckwelle eines Raddampfers durch ein Meer von Schneekristallen, um sich weit hinten zu verschmelzen und zu verlieren. Vor uns nichts als ein weiteres riesiges, ebenes Schneefeld, so weit das Auge reicht. Wir wähnen uns im Wilden Westen Nordamerikas, und wenn es Sommer wäre, müsste gleich Winnetou dahergeritten kommen. Wir befinden uns aber in der südöstlichen Ecke der oft engen Schweiz – genau genommen beim Ofenpass.
Kein Strich in der Landschaft
Vom Restaurant Buffalora, hart an der Grenze des Schweizerischen Nationalparks, sind wir weggezogen, zusammen mit Winterwanderern und Skitouristen. Wir haben die erste sanfte Geländestufe überwunden und gesehen, wie die Skitouristen auf beide Seiten wegdriften – links, um den steilen Piz Daint zu besteigen, rechts, um zum sanfteren Munt Buffalora zu gelangen. Dazwischen weitet sich die Ebene von Jufplaun, viel zu flach für Skitourengänger, dafür umso attraktiver für Schneeschuh-Yetis. Fast hat man Skrupel, die spurlose Weite mit den eigenen Tritten zu durchpflügen – die Aussicht auf weitere Schneefälle in den folgenden Tagen lässt jedoch die Hemmungen fallen. So werden wir zu Landschaftsgrafikern, ziehen unsere Linien in weitem Bogen sanft hinauf zum Döss dal Termel. Wir schauen zurück und lassen uns von der weissen Weite, die uns umfängt, nochmals einnehmen.
Dann erst richten wir den Blick vorwärts – und leicht hinauf. Unser Ziel: Taunter Pizza, die Senke zwischen dem Piz Daint und dem Westausläufer des Piz Dora. Langsam steigen wir an, wohl wissend, dass wir uns in Pioniergelände befinden. Dieses Teilstück ist in keinem Führer beschrieben, und kein grüner oder blauer Strich auf einer Landeskarte zeigt an, wie schön es hier ist. Vor uns weitet sich der Horizont über die Ebene hinaus, bestehend aus tausend weissen Zacken einer Nationalparkwelt, die im Winter unangetastet bleibt. Wer will, könnte jetzt noch den Piz Daint besteigen. Es wären nochmals 300 Höhenmeter, in einer Stunde wäre das zu machen. Allein – es will nicht recht zum Groove dieser Unternehmung passen, obwohl die Rundsicht vom Gipfel umfassend ist. Denn die Gratflanke steilt sich ziemlich auf und übersteigt dabei die 30-Grad-Marke. Das heisst: aufgepasst auf die Lawinengefahr. Es heisst aber auch, dass man guten Trittschnee braucht, um mit den Schneeschuhen weder rückwärtszurutschen noch bei jedem Tritt ins Bodenlose zu versinken. Aus einer Genusswanderung könnte dann schnell eine ernsthafte Unternehmung im Schwierigkeitsgrad WT 5 der Schneeschuhskala werden.
Wir wollen uns aber höchstens mit einer WT 3 begnügen. Wir begegnen diesem Schwierigkeitsgrad da und dort im Abstieg. Da kann es schon ordentlich steil runtergehen. Zum Beispiel gerade nach dem Pass, wo man sich gerne auf die Skistöcke abstützt, um das Gleichgewicht zu halten, und wo man unter Umständen auch froh ist, wenn die Schneeschuhe mit Zackenkränzen nicht nur vorne, sondern auch auf den Seiten versehen sind. Aber richtig exponiert ist es nirgends. So gelangen wir halb stapfend, halb gleitend zur kleinen Plattform von Muliniersch. Nun begleiten uns wieder Skispuren, deren Urheber es eilig hatten, vom Piz Daint auf möglichst direktem Weg hinunterzukommen nach Tschierv. Nach einer gemütlichen Pause bei einem romantischen Hüttli schliessen wir uns ihnen ab der Waldgrenze an und lassen uns im hoffentlich tiefen Schnee in einer steilen Waldpassage hinuntertreiben. Halt hat man hier nicht immer unter den Füssen. Muss man aber auch nicht. Im Vorteil ist, wer in der Lage ist oder gelernt hat, ein bisschen Rutschen zuzulassen und in Kauf nimmt, auch mal auf dem Hosenboden zu landen. Passieren kann einem in der Regel nichts.
Feierlich im Arvenwald
So sind wir bald unten, im eingedämmten Auslauf der Aua da Muliniersch, dem Mühlebach. Unten in Tschierv mit seinen verschiedenen Dorfteilen, unten im Val Müstair. Da wollen wir den Abend verbringen, die alten, sgraffitoverzierten Engadinerhäuser bestaunen, interessiert wahrnehmen, wie sich moderne, terrakottafarbene Fassaden an alte, wettergegerbte Holzställe schmiegen, wie herrschaftliche Steinpaläste ihre weissgetünchten Fassaden dem Abendlicht entgegenhalten. Aber innen – innen dominiert behagliche Wärme, gepaart mit dem unverkennbaren Geruch von Arvenharz. Fragen Sie nach Arvenzimmern – es gibt sie in fast jedem Hotel des Tales. Lassen Sie es sich in der Stüvetta, der guten Stube, gut gehen. Geniessen Sie fein verarbeitete Milch-, Käse- und Getreideprodukte aus dem Tal. Denn hier befinden wir uns in einem Biosphärenreservat, wo die regionalen Wirtschaftskreisläufe wiederbelebt wurden – zu dem übrigens auch der Nationalpark gehört.
Tatsächlich wurde der Nationalpark 1979 zum ersten hochalpinen Biosphärenreservat der Schweiz ausgerufen. 1995 wurden aber die Anforderungen an solche Biosphärenreservate geändert. Zur Kernzone des Nationalparks (die im Winter nicht betreten werden darf) gesellten sich deshalb Pflegezonen (wie zum Beispiel Jufplaun und Val Mora) und als Entwicklungszone das Val Müstair. Das Ganze heisst seit 2017 offiziell UNESCO Biosfera Engiadina Val Müstair. Das Netz von Schneeschuhtrails, das das Tal durchzieht, ist ebenso wie die Stärkung der regionalen Wirtschaftskreisläufe Teil der Tourismusstrategie, die seither umgesetzt wurde – gerade rechtzeitig für den Gästeboom, den abgelegene Bergtäler in den letzten Jahren erleben. Nun, richtig zu kümmern braucht Sie das nicht. Lassen Sie sich einfach in ein frisch angezogenes Arvenbett sinken und geniessen Sie eine Nacht in einer anderen, heilen Welt.
Der neue Tag bringt uns mit dem Postauto hinauf zur Minigemeinde Lü – wenn wir sportlicherweise nicht schon entlang der Schlittelpiste von Tschierv dort hinaufgewandert sind. Bei Lü beginnt ein Schneeschuhklassiker, der in den Erfahrungsschatz aller Winterwanderer gehört. Zuerst verläuft der Weg breit und gepistet bis zur Alp Champatsch. Von dort bleiben einem Ski- und Schneeschuhspuren erhalten auf einer Alpstrasse, die in einigen Kehren hinaufführt zum Pass da Costainas. Und da empfängt sie uns wieder – die Weite der Prärie. Zuerst trödeln wir in einem breiten, arvengesäumten Tälchen hinunter bis zur Alp Astras. Wie romantisch! Dann flacht das Gelände noch mehr ab, und in der Ferne erkennt man ihn bereits – den God Tamangur, den höchstgelegenen zusammenhängenden Arvenwald Europas. Diesen zu durchstreifen, versetzt einen in eine fast feierliche Laune. Man bestaunt die Arvenzapfen, die knorrig gewundenen Stämme und überlegt, wie man hier alt werden könnte.
Ross ohne Winnetou
Indes, wir wollen weiter, weiter zum abgelegenen Weiler S-charl. Denn dieser ist nur mit Pferdeschlitten erreichbar, und der letzte Kurs verlässt das Dorf um vier Uhr nachmittags. Schade, wenn man knapp dran ist, nicht nur wegen der entschwindenden Sonne, sondern auch wegen des Zvieritrunks in einem der zwei Dorfhotels. Noch einmal Engadiner Bergromantik, noch einmal gibt es Handy-Empfang nur in der äussersten Ecke der Hotelterrasse. Winnetou lässt sich nicht mehr blicken – also ruckeln wir los wie vor hundert Jahren. Die Kufen der Schlitten schleifen um die Ecken (es gibt einige Pferdeschlittenstrecken im Engadin, aber überall sonst rollen die Schlitten auf Rädern), als der Kutscher eines seiner Rösser lobt. Es sei schon dem Metzgertod geweiht gewesen, doch er gab dem Ross die Chance, hier dienstbar zu werden. Nein, von der Kutscherei wird niemand vermögend – aber reich an schönen Stunden zwischen dankbaren Gästen und Pferden, von denen so viel Empfindsamkeit ausgeht.
Ein kleiner Tritt neben die Spur – schon versteifen sich die Ohren, der erfahrene Kutscher beschwichtigt das leicht aufgeschreckte Tier. «Diesen Misstritt wird es nie wieder machen», sagt er, auch wenn das Malheur so klein war, dass es niemand von den Gästen mitbekommen hat. Zu diesen Gästen gehören auch wir, ausgestattet mit Wolldecken und Wärmflasche. So lassen wir uns in aller Gemächlichkeit durch schluchtentiefe Täler chauffieren, lassen Wildheit und Schönheit der Engadiner Bergnatur auf uns einwirken. Natürlich gibt es einen Fahrplan – aber es geht, solange es geht, und dann nimmt man in Scuol den nächsten Zug. Oder man lässt es bleiben, hängt eine Nacht im Unterengadin an und wandert am nächsten Tag weiter – durch wintertiefe, lichtdurchflutete Ebenen, durch schattige Schluchten und geheimnisvolle Wälder, solange es geht, immer neuen Horizonten entgegen.
Infos zur Tour
Ideale Saison: Ab Februar bis April, wenn die Sonne schon etwas höher steht und die Tage etwas länger sind.
1. Tag: Buffalora – Döss dal Termel - Taunter Pizza – Tschierv
- Schwierigkeit: WT 3, die Schlüsselstelle befindet sich im steilen Schlussabstieg nach Tschierv, exponiert oder technisch schwierig ist die Route aber nirgends. Schwierigkeiten können sich bei Nebel oder schlechter Sicht ergeben, da die Ebene von Jufplaun nur wenig Orientierungspunkte bietet.
- Höhendifferenz: 750 m (Aufstieg), 1000 m (Abstieg)
- Wanderzeit: 5-6 Std.
- Routenbeschrieb: Von Buffalora Postautohaltestelle stets gut gespurt südwärts via Alp Buffalora zu P. 2195 Buffalora. Weiter südwärts haltend, idealerweise einen weiten Linksbogen beschreibend hinauf zu Jufplaun und dort zur Schutzhütte Döss dal Termel P. 2331. Nun gleichmässig südostwärts ansteigend zur Senke von Taunter Pizza zwischen dem Piz Daint und dem Nordwestausläufer des Piz Dora. Ostwärts eine kleine Steilstufe überwindend hinunter zur kleinen Hochebene von Muliniersch (P. 2212) östlich des Bachtobels der Aua da Muliniersch. Nun in lichtem Wald steil hinunter bis P. 1890, dann geleitet von Bachdämmen bis Tschierv (Postautohaltestellen).
2. Tag: Lü – Pass da Costainas – God Tamangur – S-charl
- Schwierigkeit: WT 2, keine besonderen Schwierigkeiten.
- Höhendifferenz: 300 m (Aufstieg), 450 m (Abstieg)
- Wanderzeit: 4-6 Std., je nach Qualität/Vorhandensein von Spuren.
- Routenbeschrieb: Von Lü auf überschneiter Alpstrasse zur Alp Champatsch. Vor der Alpbeiz bei P. 2093 nordostwärts auf weiterem überschneitem Alpweg zum weiten Pass da Costainas (P. 2250). Nun nordwestwärts in sanftem Tal leicht abwärts zur Alp Astras (P. 2131). Dem Talverlauf weiter folgend am God Tamangur vorbei und langgezogen nord-nordwestwärts nach S-Charl.
- Variante: Zustieg von Tschierv entlang eines Schlittelwegs nach Lü: plus 250 m Höhendifferenz, plus 1 Std.
- Hinweis: Diese Etappe ist Teil der «Via Silenzi», die von S-charl zum Ofenpass führt und über Engadin Tourismus buchbar ist – inklusive Gepäcktransport. Infos: www.engadin.com
An- und Abreise
Sämtliche Ausgangs- und Zielorte sind durch die Postautoroute Zernez-Müstair miteinander verbunden. Ein Start in Buffalora um 11 Uhr genügt ab Februar, um das Ziel in Tschierv sicher vor dem Eindunkeln zu erreichen. Am zweiten Tag sind bei der Zeitplanung die Abfahrtszeiten der Pferdeschlitten ab S-charl zu beachten und bis am Vortag um 19 Uhr Plätze zu reservieren über pferdeschlittenfahrten@gmail.com, Tel. 079 312 27 04 oder über das Gasthaus Mayor in S-charl.
Unterkunft:
Es sind für diese Tour grundsätzlich alle Hotels und Unterkünfte im Val Müstair buchbar, da sie in wenigen Postautominuten miteinander verbunden sind.
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