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Wegweiser Lauteraarhorn - Auf die lange Tour

Caroline Fink, Mittwoch, 16. Juni 2021

Das Lauteraarhorn gilt als abgelegenster Viertausender der Schweizer Alpen. Allein der Zustieg ins Aarbiwak dauert einen Tag. Wer gar stracks vom Gipfel bis zur Grimselpassstrasse zurückkehrt, erlebt vielleicht die längste Tour des Lebens. Mit Eindrücken, so tief, als hätte sie während Tagen durch die Wildnis geführt.

Wir stehen unterhalb des Grimselpasses an der Strasse. Es regnet. Der Himmel ist so grau wie die Granitgipfel und die Staumauer des Grimselsees. Keine guten Aussichten, denn vor uns liegt der Zustieg ins Aarbiwak. Was konkret heisst: sieben bis acht Stunden im Regen zu marschieren und – nach kurzer Nacht – in die noch klammen Kleider zu schlüpfen, um auf das 4042 Meter hohe Lauteraarhorn zu steigen.

Wir planen unser dreitägiges Zeitfenster kurzerhand um: Im Regen werden wir bis zur Lauteraarhütte wandern, die auf halbem Weg liegt. Tags darauf anstatt auf den Gipfel nur bis ins Biwak aufsteigen und am dritten Tag vom Gipfel zurück bis zur Passstrasse stiefeln. Zugegeben, wir rechnen gar nicht erst aus, wie lange Tourentag Nummer drei dauern wird. Klar ist nur: irgendwie lange. Denn das Lauteraarhorn gilt als abgelegenster Viertausender der Alpen, umgeben von Gletscherströmen und Gipfeln, die an einen Karakorum im Kleinformat erinnern. Allein der Weg zur Lauteraarhütte bietet Stoff für Bergträume. Und dies selbst bei Nieselregen. Reissen die Wolken auf, schimmert der Grimselsee smaragden unter uns. Dann wieder leuchten pinkfarbene Türkenbundlilien vor weitem Schwemmland aus Kies und Sand, während sich rund um uns Granitgipfel erheben mit Plattenfluchten, so glatt, als wäre der Fels noch flüssig. Eldorado nannten die Kletterer eine dieser Wände. Das verheissungsvolle Land quasi, durch das seit den 1980er-Jahren legendäre Kletterrouten wie Motörhead und Septumania führen, eröffnet von den ebenso legendären Gebrüdern Rémy.

Die meisten Besucher kommen heute jedoch der Lauteraarhütte wegen. Eine Hütte, die wie ein Falkennest in den Granitwänden hängt und an die Zeit der Pioniere erinnert. Mit dampfenden Töpfen in einer offenen Küche, die so klein ist, dass wir mit den Hüttenwarten und einer Handvoll Gäste gemeinsam in der Holzstube essen. Hie und da blicke ich aus dem Fenster. Auf die mächtigen Flanken aus Firn und Fels. Und die Wolkenbauschen, zwischen denen mit einem Mal – als schwebte er über der Welt – ein Felsgipfel auftaucht: das Lauteraarhorn. Es ist diese Welt, in die wir am nächsten Tag tiefer hineinziehen. So wild, dass ich mich darin nur noch als Gast fühle. Mal knirscht Gletschereis unter den Schritten, dann klirrt Geröll wie Scherben aus Porzellan. Immer weiter steigen wir den flachen Gletscherzungen entlang bergwärts. Durch Mulden voller Geschiebe, über Böschungen aus Eis, Wasserläufen entlang, in denen Schmelzwasser rauscht, das ganz unvermittelt in donnernden Gletschermühlen verschwindet.


Früher Hotel, heute Biwak

Bereits vor knapp 200 Jahren begannen Forscher, dieses Gebiet zu erkunden. Geologen, Glaziologen, Physiker und deren Bergführer, die hier – auf einer Moräne zwischen zwei Felsblöcken – eine Hütte bauten, die als Hôtel des Neuchâtelois in die Alpingeschichte einging. Genauso wie manche alpinen Taten der Forscher: Etwa jene von Professor Arnold Escher von der Linth, der mit zwei Gefährten und fünf Bergführern am 8. August 1842 das Schreckhorn erstbesteigen wollte und anstelle dessen auf dem Lauteraarhorn landete. Womit den Männern doch immerhin die Erstbesteigung des sechsten der insgesamt 48 Schweizer Viertausender gelungen war.


Zwischenstation, aber noch nicht der Ausgangspunkt: die Lauteraarhütte


Als wir den Strahlegg-Gletscher erreichen, blicken wir in dieselbe Szenerie wie die einstigen Pioniere: Finsteraarhorn und Lauteraarhorn als mächtige Felspyramiden, dazwischen Zacken, Türme und Zähne aus Fels, an deren Füssen Eisströme fliessen. Mir scheint, als wären wir tagelang marschiert, so einsam ist die Gegend. Nur ab und zu erinnert eine Markierungsstange daran, dass vor uns schon Menschen hier waren. Was praktisch ist, denn sie leiten den Weg durch ein Meer aus Geröll hin zu jenem Punkt, von dem aus wir das Aarbiwak entdecken – weit oben in einer Felsflanke, kaum grösser als einer der Steinblöcke, die es umgeben. Fast so simpel wie einst das Hôtel der Forscher ist dieses Biwak. Mit Gaskochern im Vorraum und Etagenbetten in der Stube. Doch hier in der alpinen Wildnis fühlt man sich in ihr geborgen wie ein Einsiedlerkrebs in seiner Muschel. Ein Zufluchtsort indes, den wir bereits um halb zwei Uhr morgens wieder verlassen.

Draussen tanzen die Lichtkegel unserer Stirnlampen durch die Nacht, flirren über immer mehr Geröll, bis auf einmal Eis zwischen den Steinen schimmert. Wir haben den Gletscher erreicht und folgen diesem nun flussaufwärts mit immergleichem Schritt. So versunken im Gehen, dass wir selbst die Stirnlampen auslöschen und in eine Dunkelheit eintauchen, die so tief und schwarz ist, dass das Licht der Sterne den Gletscher und die Felder von Gletschertischen rund um uns zu erhellen vermag.


Erst silberblau, dann pfirsichrot

Die Erstbesteiger waren im Tageslicht hier unterwegs. An einem Morgen, an dem Neuschnee lag. Denn solcher habe die Schründe bedeckt und «grosse Vorsicht und den Gebrauch der Leiter nötig» gemacht, wird Alpinchronist Gottlieb Studer einige Jahrzehnte später über die Erstbesteigung schreiben. Wir aber treffen auf ein anderes Hindernis. Als wir das Couloir erreichen, das in die tausend Meter hohe Südflanke des Lauteraarhorns führt, suchen wir im Schein der Stirnlampen die einzige Markierung der Tour: eine reflektierende Platte beim Einstieg in die Rinne. Doch Gletscherschmelze macht es möglich, leuchtet sie uns nun ein Dutzend Meter über unseren Köpfen entgegen, dazwischen Felsplatten, überzogen von Wassereis und einem Bach aus Schmelzwasser.

Wenig später greifen wir einige Meter weiter rechts in nasse Felsen und stemmen uns über sandige Stufen, bis wir zurück auf der Route sind. Immer höher steigen wir über Felsstufen, umgeben von der Finsternis, in der – das Geräusch ist kaum zu orten – Schmelzwasserbäche rund um uns rauschen. Erst als die umliegenden Gipfel aus der Dunkelheit auftauchen und das Finsteraarhorn schräg hinter uns erst silberblau, dann pfirsichrot aufleuchtet, tauchen wir in die Monotonie langer Firnpassagen ein. Schritt, Pickel, Schritt, Pickel – so haben wir uns diese Tour vorgestellt. Doch anders als erwartet, ist der Firn hart wie Eis. Nur die Zacken der Steigeisen dringen ein. Und so fragen wir uns bald, ob es sich im Fels nicht angenehmer kraxeln liesse? Wir blicken um uns: Weit unter uns entdecken wir eine Seilschaft, die in diesem Moment umkehrt und absteigt. Ansonsten sind wir allein in der Flanke. Weder über noch unter uns droht Steinschlag.

So tun wir es den Erstbesteigern gleich: «Es gelang nun, über diese Felsen, obwohl sie sehr steil waren, gerade gegen den Gipfel emporzuklettern. Mit Ausnahme einiger schlimmer Runsen lagen bis zur Höhe des Grats keine ernstlichen Schwierigkeiten im Wege.» Wir sind einverstanden mit Professor Escher und seinen Mannen. Anders als bei uns, stellte sich ihnen am Grat jedoch die «Ausspitzung eines Felsens» in den Weg, der «von der Hauptmasse des Berges durch einen Einschnitt von etwa drei Metern Tiefe abgeschnitten war.» Zum Schrecken der Männer sprang einer der Führer – «der verwegene Bannholzer» – seilfrei hinab auf den Firngrat. Die anderen folgten, zur allgemeinen Beruhigung am Seil gesichert.


Auf dem Gipfel, aber noch nicht mal Halbzeit: Rund 25 km sind es noch bis zum Grimsel Hospiz.


Auch vor uns ragt der Felszahn verlockend auf, doch kennen wir seinen Preis. Und so passieren wir seinen Sockel in einem Schneefeld, in dem die schieren 900 Meter Luft zwischen uns und dem Strahlegg-Gletscher erstmals spürbar werden. Minuten später haben wir jedoch nur noch Augen für eines: den Gipfelgrat. Jenen Kamm aus festem Fels, auf dem wir über Türmchen und Platten und durch Kamine dem Himmelblau entgegenklettern. Bis der Grat sich mit einem Mal zurückneigt und wir, nur Augenblicke später, auf dem Lauteraarhorn stehen. Vor uns die Majestät des Schreckhorns, das vor der Weite des Mittellandes aufragt, rund um uns Gletscherströme und weit, weit unten in der Ferne die Lauteraarhütte, so winzig, als blickten wir aus einem Satelliten auf die Welt.

«Vereinigtes Hurrarufen. So laut, dass Herr von Nieuverkerk, der eben auf dem Gipfel des Ewigschneehorns stand, sie hörte», steht im Bericht zur Erstbesteigung. Wir sind stiller. Und anders als die ersten Besucher des Gipfels messen wir weder die Luftfeuchtigkeit noch skizzieren wir die Flechte namens Xanthoria elegans. Stattdessen steigen wir bald wieder ab. Denn nach dem Abstieg durch die Flanke werden der Strahlegg-Gletscher, der Finsteraargletscher und der Unteraargletscher folgen. Wir werden nochmals die Lauteraarhütte passieren, in der Nachmittagssonne Türkenbundlilien leuchten und gegen Abend den Grimselsee sich kräuseln sehen, ehe wir im Schleier der Dämmerung wieder an der Grimselpassstrasse stehen werden. Dort, wo sie dank Regen ihren Anfang genommen hatte: die längste Hochtour unseres Lebens.

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